****       Sapere aude!        ****        
                 
Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! – forderte der Philosoph Immanuel Kant vor mehr als 200 Jahren. Er hatte etwas viel von uns verlangt, aber ein wenig sollten wir ihm schon entgegenkommen. Jeder auf seine Weise. Hier die meine.
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MAGDEBURG KOMPAKT 8. Jg., 2. November-Ausgabe 2019. S. 16-17

 

 

Das Tier als Mensch

 

Ich mag Hunde. Zwar habe ich keinen und auch nie einen gehabt, aber wenn, dann wäre ich ihm ausgeliefert. So wie all die anderen Hundebesitzer, die ich kenne. Ersatzweise versuche ich mit fremden Hunden anzubandeln. Die meisten Herrchen und Frauchen zeigen dafür Verständnis, viele freuen sich sogar über diese Art der Wertschätzung ihres Lieblings. Dann, nach ein bisschen Streicheln und Kraulen, mein Standardtest, hunderte Male schon probiert: „Ihr Hund gefällt mir, sehr sogar“, sage ich. „Am liebsten würde ich Ihnen das Tier abkaufen.“ Kurzes Erstaunen, sodann die übliche Reaktion: „Wwas, wie? Meinen Hund?“ Und nach einem verklärten Blick hin zu Bello oder Maxi: „Nein, niemals!“ Darauf gebe ich zu bedenken, ich wolle auch gut bezahlen, tausend Euro, dreitausend Euro, und grinsend dann: eine Million! Doch immer bleibt es beim Nie-und-nimmer. Eher noch könnte man sich vorstellen, den menschlichen Partner zu veräußern, die Scheidungsrate legt das nahe. 

Das Beste am Menschen ist sein Hund – hat mal irgendwer gesagt. Tatsächlich, wer schon kann mit einem wohlerzogenen Hund mithalten, einem grenzenlos treuen Freund, der immerzu zu uns aufschaut, um in unseren Augen jede Stimmung abzulesen und jeden Wunsch. Ohne jemals an eine Trennung zu denken, und das ein Hundeleben lang! Mit einem Wedeln seines Schwanzes kann das Tier mehr Gefühl ausdrücken, als ein Mensch mit einem riesigen Blumenstrauß oder stundenlangem Gerede. Zudem scheinen die Gefühle, die ein Hund zeigt, immer echt zu sein. Falsche Hunde findet man allem Anschein nach nur bei uns Menschen. Dabei muss man sich fragen, wie sich denn unsereiner im Kopf des Hundes abbildet. Womöglich als quasi-göttliches Wesen, allwissend und allmächtig, wenn auch nicht unbedingt als allgütig.

Wie überhaupt sieht es mit Gefühlen bei Tieren aus? Strenggenommen können wir zum Ob und Wie nur über uns selbst eine Aussage machen, beim Mit-Menschen nicht und noch viel weniger beim Tier. Denn Gefühle sind absolut private Erlebnisqualitäten, sogenannte Qualia. Allein das Ausdrucksverhalten sagt uns, gleich ob sprachlicher, mimischer oder gestischer Art, das Gegenüber empfinde Schmerz oder Angst, Freude, Stolz oder Zorn. Auf solche Weise versuchen wir, uns in Andere hineinzufühlen. So eben auch in den Hund. Und dieser sich in uns.

 

Ein Tier, was eigentlich ist das?

Bei uns Säugetieren ist für die Emotionalität ein besonderer Strukturkomplex in der Tiefe des Gehirns zuständig, das sich gürtelförmig um den Hirnstamm herumwindende Limbische System. Diese Gemeinsamkeit allein kann natürlich nicht heißen, dass Hund, Schimpanse, Rind, Feldmaus und Schweinswal alle auf die gleiche Weise empfinden, nämlich so wie wir. Andererseits können wir uns Gefühle nun mal nicht anders vorstellen als die, die wir aus eigener Erfahrung kennen. Völlig außen vor sind dann die inneren Erlebensqualitäten von Sperlingen, Zauneidechsen und Karpfen, und erst recht die der Schmeißfliege, des Wasserflohs und des Pantoffeltierchens. Klar, die einen sind Tiere, und wir, wir sind eben Menschen – wirklich klar?

Was überhaupt ist ein Tier? Die Antwort wirkt sehr abstrakt: Alles, was über Zellen mit Zellkern verfügt, aber weder Pflanze noch Pilz ist. Ohne Wenn und Aber gehören wir Menschen dazu. Unsere nächsten Verwandten sind die Menschenaffen. Deren Erbgut, die DNA, ist mit dem unsrigen zu fast 100 Prozent identisch. Dabei sind die Schimpansen mit uns sogar näher verwandt als mit den anderen Menschenaffen, den Orangs also und den Gorillas. Diese unsere nächsten Verwandten so einfach als „Tiere“ abzutun, fällt ausgesprochen schwer. Ihnen aber in Analogie zu den Menschenrechten Tierrechte zubilligen?

Verständlich und gut gemeint, aber wo die Grenze ziehen? Warum solche Rechte dann nicht allen Affenarten einräumen, warum nicht allen Säugetieren, warum nicht auch für den Laubfrosch und den Flussbarsch, für die Kreiselwespe und den Süßwasserpolypen? Tatsächlich gibt es politisch-moralisch überaus gut verkäufliche Überlegungen, wonach allen Tieren ein Lebensrecht zusteht. Dann aber müssten wir jeder Mücke, wenn sie uns sticht, ihre Blutmahlzeit gönnen, ja selbst der Anopheles-Mücke, der berüchtigten Malaria-Überträgerin. Noch krasser sind Forderungen, wonach sämtlichen Lebewesen ein Lebensrecht zuzubilligen sei, also auch Pflanzen und Pilzen. Immerhin, so ließe sich argumentieren, teilen wir mit der Backhefe etwa 50 Prozent unsere Gene! Wie das?

Der größte Teil der Gene wird für ganz grundlegende Aufgaben benötigt: für den Bau der Zellen und die tausenden und abertausenden Enzyme, die den äußerst komplexen Stoffwechsel bewerkstelligen. Demgegenüber erscheinen die Erbinformationen, die für den Bau der Gewebe, Organe und selbst den des Gehirns nötig sind, eher nachrangig. Somit auch die für die Artunterschiede von Mikroben, Pilzen, Pflanzen und Tieren. Für alle diese Lebewesen ethische Verpflichtungen zu hegen, ist grober Unfug oder eben wiederum rein politisch motiviert. Wovon sollten wir dann leben? Von gentechnisch hergestellten Materialien? Dann aber hätten wir die Gentechnik im Boot, und das darf ja wohl aus der Sicht solcher Agitatoren ebenfalls nicht sein.

 

„Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“

Der Mensch sei ein soziales Wesen, ein zoon politikon, meinte Aristoteles schon vor mehr als zweitausend Jahren. Sämtliche Affenarten, auch die eher entfernt verwandten, leben sozial und verfügen über entsprechende Verhaltensmuster. Alle die auf die Gemeinschaft gerichteten Gefühle sind Ergebnis der sozialbiologischen Evolution, sind der Kitt, ohne den die Sozietät auseinanderflöge. Auch unsere Gesellschaft. Ja, die Menschheit wäre gar nicht erst entstanden. Sozialität als Evolutionsvorteil haben auch ganz andere Tiergruppen genutzt, Huftiere, Vögel, Fische und, in extremer Form, die Staatenbildenden Insekten. Indes, je weiter von uns entfernt, umso weniger lässt sich etwas über Gefühle mutmaßen. Das Problem brachte der US-amerikanische Philosoph Thomas Nagel mit seiner Frage auf den Punkt: „Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“ (What is it like to be a bat?). Da machen uns Hunde die Antwort viel leichter.

Vor mehr als 10 000, womöglich schon vor 100 000 Jahren begannen Menschen, Wölfe an ein Zusammenleben mit uns anzupassen. Herausgekommen ist das, was heute unter „Haushund“ verstanden wird. Vom Stammvater her hochgradig sozial begabt, wurde diese Eigenschaft durch Züchtung mit Zielrichtung Herrchen und Frauchen über die verschiedensten Rassen hin noch ausgebaut. Wer Krach mit dem Partner oder mit dem Nachbarn hat oder mit dem eigenen Kind, wer sich von seinem Chef gedemütigt oder von unseren Politikern kaltherzig manipuliert fühlt, dem helfen die treuherzig musternden Augen von Bello oder Maxi. Schwieriger hingegen ist es, aus dem Blick einer Katze, einer Kuh oder dem eines Huhns Sympathien herauszulesen.

 

Tierwohl und Menschenwohl

Gleichviel, wenn ein Tier unser Mitgefühl anrührt, möchten wir, dass es ihm gutgeht. Zumindest darf es durch uns Menschen nicht leiden. Weltweit gibt es dazu unter den Schlagworten Tierwohl, Tiergerechtigkeit, Tier-Rechte und animal welfare Überlegungen. Zunehmend auch gesetzliche Vorschriften. Insbesondere dann, wenn es darum geht, Tiere für menschliche Zwecke zu halten, etwa um sie später zu töten und aufzuessen. Ähnlich berühren Versuchstiere das menschliche Gewissen. Allerdings unterscheidet sich unser Sympathie-Empfinden von Tierart zu Tierart. Je kuscheliger, umso sympathischer. Allein deshalb steht das Eichhörnchen weit höher auf der Rangliste als eine Ratte. Hätten Ratten anstelle des nackten Schwanzes einen wunderhübsch buschigen wie die Eichhörnchen und zudem eine stumpfere Schnauze, zählten auch sie zu unseren Lieblingen. Und das, obwohl Ratten ausgesprochen sozial lebende Tiere sind, daher auch leicht handzahm werden, während Eichhörnchen als Einzelgänger leben, als zänkische Individualisten.

Wir Menschen sind von Natur aus keine Einzelgänger, wir brauchen herzenstiefe soziale Bindungen. Je mehr sie uns durch den Verlust traditioneller Familienbeziehungen abhandenkommen, desto größer wird das Sehnen nach einer Partnerschaft, in die wir unser Herz investieren können. So geeignet ein Hund auch sein mag, um in ihm das zu entdecken, das uns so fehlt, das Menschliche. Das Tier als Mensch? – Nein, es gibt bessere Alternativen, menschliche!


MAGDEBURG KOMPAKT 8. Jg., 1. August-Ausgabe 2019. S. 2


German Angst

Der Begriff hat weltweit Karriere gemacht. Doch will man uns Deutschen mit „German Angst“ nicht etwa rundum Feigheit unterstellen, Hasenfüßigkeit, nein, viel eher eine Neigung zu kollektiver Besorgtheit, die über das für Ausländer übliche Maß hinausgeht. Bereitwillig ließen sich die Deutschen von professionellen Angstmachern immer wieder neue Kümmernisse einreden, heißt es, und diese würden sich dann, frei von vernünftigen Erwägungen, wellenartig im ganzen Lande ausbreiten. Gerne auch wird unserer Nation ein Angst-haben-wollen unterstellt, gewissermaßen auf Teufel komm raus, nämlich allen Vernunftgründen trotzend. Andere Nationen würden da weit gelassener tendieren. In dem Roman „Es führt kein Weg zurück“ meinte der amerikanische Schriftsteller Thomas Wolfe, die Deutschen wären von ständiger Furcht infiziert, wie von einer Seuche. Die Folge sei eine schleichende Paralyse, die alle menschlichen Beziehungen verzerre und zugrunde richte.

Erst stirbt der Wald, dann stirbt der Mensch

Alles nur Häme? Häme, wie sie gern über erfolgreiche Nachbarn ausgegossen wird, oder ist da etwas Wahres dran?  Tatsächlich, regelrecht hysterisch waren hierzulande die Reaktionen, als es um Rinderwahn und Vogelgrippe ging, um Amalgam, DDT, Chlor-Hühnchen, Dioxin, das Ozonloch und Fipronil-Eier. Und um das Waldsterben. „Erst stirbt der Wald, dann stirbt der Mensch“, hieß es. Gegenwärtig dreht sich die kollektive Sorge nicht weniger schrill um Glyphosat, Feinstaub und Stickoxide sowie – und das seit langem schon – um Gentechnik und die allgemeine Chemisierung. Auch um eine noch immer unzureichende Gleichstellung der Geschlechter und um heimliche Eingriffe in den Persönlichkeitsbereich. Bereits in den 1980er Jahren wurde gefragt, ob es sich überhaupt noch lohne, unter solchen Vorzeichen Kinder in die Welt zu setzen.

Zur etwa selben Zeit (1983), nämlich als die Computerei gerade aufkam, wurde mit einem Foto vor „Totalerfassung“ gewarnt. Diese Befürchtung hat sich bis in unsere heutige Zeit fortgepflanzt. Deutschland, heißt es, sei das einzige Land, in dem die Erweiterung von Google Street View aus Rücksicht auf die Privatsphäre so gut wie eingestellt wurde. Oder denken wir an die für Deutschland typische Angst vor Radioaktivität. Sie wurde durch den Reaktorunfall in Tschernobyl verstärkt und durch das Erdbeben und den Tsunami in Fukushima noch einmal potenziert. Überstürzt dann der Abschied aus der Kerntechnik („Atomausstieg“, welch Wort!). Heute importieren wir tageweise Atom- und Kohlestrom von unseren Nachbarn, ohne Weiteres in Kauf nehmend, dass um uns herum Kernkraftwerke mit geringerer Sicherheit stehen als die der abgeschalteten deutschen.

Die Sorgen ändern sich, die Besorgtheit bleibt

Weit oben in der Besorgtheits-Rangliste und völlig unangefochten nun der Klimawandel. Weltuntergangsprognosen machen die Runde. Dabei dreht sich alles um den Klimawandel, wie er – vermeintlich – durch menschgemachtes CO2 verursacht wird. Nicht hingegen um den Wandel im Wirtschaftsklima. Denn letzterer bereitet vielen eine weit größere Sorge. Nämlich die, in der Rangliste der Weltwirtschaft immer schneller und immer nachhaltiger abzurutschen. Verursacht, so heißt es, durch nationale Alleingänge, mit denen wir in der Welt zu glänzen versuchen, die ihr aber praktisch nichts bringen. Die Folgen des Wirtschaftsklimawandels würde bald jeder von uns zu spüren bekommen, vor allem aber die junge Generation, die von heute. Die Frage nun: Ist das einfach wiederum diese „German Angst“, diese irrationale, diffuse Furcht vor Katastrophen, die man sich bereitwillig einreden lässt?

Eigentlich sollten Sorgen über Zu- und Missstände die Diskursbereitschaft anfeuern, zumal wenn sie drohen, nationale oder gar internationale Ausmaße anzunehmen. Diskurse mit echten Fachleuten sind hier gemeint, nicht politikgefällige „Experten“, nein, Menschen, die auf allen Etagen der Wissenschaft, Technik und Wirtschaft laut und angstfrei und offen zu Wort kommen. Sachkundige Analysen sind gefragt und Lösungsvorschläge. Erst danach hat es um Politik zu gehen. – Allerdings werden politikunabhängige Sachdiskussionen gescheut. Aus Gründen, über die sich jeder seine eigenen Gedanken macht. Zum Beispiel um die Passfähigkeit von Immigranten und darüber, wieso auf einmal, offenbar gänzlich unerwartet (?), ein erhöhter Wohnungs-, Straßen-, Brücken- und Gleisbaubedarf vermeldet wird, warum plötzlich so viele Lehrer und Polizisten benötigt werden und immer mehr Mittel aus immer knapper werdenden Staatsfinanzen.

Inzwischen werden selbst unsere Kinder und Jugendlichen von kollektiven Ängsten befallen. In „Friday for Future“ findet ihre Besorgtheit öffentlichkeitswirksamen Ausdruck. Um den vom Menschen zu verantwortenden Klimawandel geht es ihnen und um die – eigentlich – längst fällige Klimakatastrophe. Manche unter den Älteren blicken da skeptisch drein. Sie meinen, der angeblich menschgemachte Klimawandel sei eine politisch stilisierte Ente, und unseren Jungen und Jüngsten fielen darauf herein, weil ihnen eine Kuschelwelt geschaffen wurde, in der sie kaum noch etwas vom echten Leben und dessen Sorgen wahrnehmen. Die aber würden sie kennenlernen, wenn sie dereinst das Leben der Erwachsenen zu bewältigen haben und später das von Rentnern.

„German Angst“ oder wohlbegründete Befürchtungen, das ist jeweils die Frage. Nicht dass es uns am Ende wie dem da geht, der aus Angst vor den Baumgeistern den Dschungel mied, zuhause blieb und dort an einem Mückenstich starb. Eine Malaria-Mücke war’s gewesen, kein Elefant. 



MAGDEBURG KOMPAKT 8. Jg., 1. August-Ausgabe 2019. S. 10-11


Wo ist der Durst nach Großem?

Passt Idealismus noch in unsere Zeit?

 

Auch wenn er, der Idealismus, nicht mehr ganz so typisch sein sollte, er passt! Dazu ein Beispiel: Johanna. Mit 72 ist sie eine „alte weiße Frau“. Sie hatte in der Nachkriegszeit kennengelernt, was Not bedeutet, musste sich ordentlich rappeln, um gegen Hunger, Wohnungsknappheit und welche Nöte sonst noch anzukämpfen. In einer Fabrik dann, dort arbeitete sie 48 Stunden pro Woche und trug wie Millionen Andere dazu bei, dass Deutschland wieder lebenswert wurde. Heute bekommt Johanna eine Rente. Ein Zehntel etwa von dem Unterhalt, den die Politiker bekommen, die (unter anderem) über ihre Rentenhöhe zu befinden haben. Ob nun zu recht oder auch nicht, Johanna empfindet Dank, Dank dafür, dass es ihr heute recht gut geht. Die verschweinigelte Grünanlage, auf die sie von ihrem Fenster aus blickt, bietet eine Gelegenheit, Dank zu sagen.  Wem danken und wofür eigentlich? Ganz egal – allen und für alles!

Natürlich müsste sich die Stadt um die Anlage kümmern. Dafür gibt es Mittel aus dem Steuersäckel, und daraus erhalten die städtischen Sauberfrauen und Saubermänner ihren Lohn. Tatsächlich kommen auch manchmal welche von ihnen, um Hand anzulegen. Allerdings ziemlich lustlos, und der Rest vom Dreck bleibt dann eben liegen. Die einen stört das, die anderen eher nicht. Aber nur Johanna ist es, die zur Harke greift und zum Eimer, bis alles wieder paletti ist. Selbst die Hundescheiße ist hernach wie weggezaubert.

Heimlich Gutes tun

Nicht, dass Johanna für ihr Tun der Stolz überkommt, von wegen wie toll, wie großartig. Im Gegenteil, fast ist es ihr ein bisschen peinlich, in den Augen anderer so fürchterlich positiv dazustehen. Deswegen nutzt sie ja auch am liebsten den frühen Morgen des Sonntags oder späte Abendstunden. Ganz besonders berührt es Johanna, wenn sich auch andere Menschen der gepflegten Anlage erfreuen, selbst solche, die nicht einmal im Traum daran dächten, es ihr gleichzutun. Sollten sie Johanna in ihrem heimlichen Eifer überhaupt bemerken, werden sie sich eher sagen: Ich und kostenlos? Einfach so? Also nee, schön blöd!

Nun noch einmal gefragt, passt so viel Idealismus wie der von Johanna, von Ausnahmen abgesehen, eigentlich noch in unsere Zeit? Eine Zeit, in der es doch heißt, Geld regiere die Welt. Wo alles seinen Preis hat, wo es um Löhne und Renten geht, um Stück- und Werbekosten, um Gewinne und geldwerte Vorteile, um Mieten und Fördergelder, um Geldstrafen und Strafzölle. Finanzriesen jedweder Couleur, Banken und Schattenbanken sorgen für Renditedruck und lassen in aller Welt Staatsmänner und Parteien nach ihrer Pfeife tanzen. Öffentlich oder auf geheime Weise. Selbst in menschlich edelsten Bereichen, so der Verdacht, geht es am Ende nicht so sehr um Ideale, sondern um Geld – in der Medizin, Sozialfürsorge und Bildung, bei der Pflege hilfebedürftiger Kinder und hilfloser Alten, bei der Seenotrettung, der Integration von Einwanderern und dem Schutz unserer Umwelt. – Geld als Äquivalent für Wohltaten. Ohne Geld gibt es sie nicht, alle diese Wohltaten oder fast alle, auch wenn dafür nur allzu gern Idealismus als Motiv deklariert wird.

Und Geld, wieso kann das das ein und alles sein? Man kann es nicht essen, überhaupt kann man damit nichts anfangen, es sei denn, man kauft sich davon etwas, nämlich das, was man braucht, zumindest gerne haben möchte. Die Möglichkeiten gehen ins Unendliche. Sie reichen von Brot und Butter über Kugelschreiber und Handys bis hin zu Auto, Haus, Kleidung, Schönheits-Operationen, Urlaubsreisen und Bildung. Ja bis dahin, mittels hinreichend großer Scheine einen Menschen als Partner heranzuwinken, der sonst eher in der Ferne bliebe. Indes – Gott oder wem auch immer sei Dank – das ist nicht alles: Man kann Geld auch benutzen, um Gutes zu tun. Die Mitfreude lohnt den Einsatz. Sich reinen Herzens mit Anderen zu freuen und dafür Ursache sein zu wollen, gehört zum Edelsten, wozu Menschen fähig sind. Statt Eigennutz Uneigennutz also, statt Egoismus Altruismus.

Der Durst nach Großem

Es gibt aber auch ganz andere Formen des Idealismus: die Hingabe an eine Idee, an etwas Großes. Da sind Leute, die reisen in die Welt, um in Museen Bilder zu bewundern, andere, um Altertümer zu besichtigen oder ihre vierte oder fünfte Sonnenfinsternis zu erleben. Zu denken ist auch an Leute, die von früh bis spät in einem Labor hocken, nur um einem bestimmten Molekül ein weiteres kleines Rätsel zu entlocken, einer Winzigkeit, für die sich in der Welt nur eine Hand voll Leute interessiert. Die nächsten wälzen alte Folianten, um den Gedankengängen eines großen Geistes nachzuspüren, der vor Jahrhunderten irgendwo sein Leben mit Nachdenken verbracht hat. Währenddessen riskieren andere ihr Leben, um schroffe Berge zu besteigen. Die nächsten zimmern Nistkästen, um sie an verstecktem Platze im Wald aufzuhängen. Verwandte Geister schießen ihr 128.346tes Foto von Vögeln oder von Insekten, die kaum niemand kennt, und andere wiederum komponieren Musikstücke, schreiben Gedichte, Geschichten oder Theaterstücke, die aller Wahrscheinlichkeit nach kaum jemals jemand zur Kenntnis nehmen wird.

All das ist Idealismus, ist Anstrengung, die den Betreffenden nichts anderes als eine seltsame Befriedigung einbringt, eine, die zumeist nur sie selbst verstehen. Oder eben einer der eher seltenen Verwandten im Geiste. Doch was wäre die Menschheit ohne diese idealistischen Geister, ohne deren Streben nach dem Großen, nach Vollkommenheit, nach dem „Ideal“ eben? Selbst wenn es sich dabei nur um einen engen Bereich der Wirklichkeit oder des eigenen Denkens handelt. Denn mitunter entspringt daraus ein Funken, aus dem sich ein Brand entwickelt, der am Ende die halbe Welt verändert, im Guten wie im Schlechten: Sokrates, Plato, Epikur, Descartes, Shakespeare, Bach, Kant, Linné, Goethe, Napoleon, Beethoven, Daguerre, Darwin, Marx, Bismarck, Nobel, Robert Koch, Lilienthal, van Gogh, Planck, Einstein, de Coubertin, Lenin, von Bering, Fleming, Otto Hahn, Picasso, Hitler, Mao, Piaf, Adenauer …

Wie im Gedöns der Medien herausragen?

Und heute? Große Geister hat es immer gegeben und wird es auch weiterhin geben, aber wie sie im Gedöns der Medien, zumal der sozialen, ausmachen? Hinzu kommt, dass Forschung und technische Entwicklung heutzutage mit einem zumeist großen, oft sogar riesigen Aufwand einhergehen. Nicht nur an Material, sondern auch an Menschen. Das alles kostet Geld, viel Geld. Der Einzelne läuft Gefahr, dem Team, in dem er arbeitet, so einverleibt zu werden, dass sein Anteil untergeht. Während die Veröffentlichung wissenschaftlicher Arbeiten früher nur einen Autorennamen trugen, ausnahmsweise zwei, sind es heute viel mehr – fünf, zwölf, gar nicht so selten über zwanzig. Wenn da einer unter ihnen in der Begeisterung für die Aufgabe eine 60- oder 70-Stunden-Woche nicht scheut, um mit einer Riesenportion Idealismus Geniehaftes beizutragen, wird das nach außen hin kaum jemals sichtbar. Wer schon kennt die Namen einzelner Personen, wenn es um Computer-, LED- oder Gentechnik geht, um die Entwicklung neuer Pharmaka, um Weltraumtechnik oder um ganz neuartige Energiequellen?

Einzig in den Geisteswissenschaften spielen Einzelne noch eine Rolle. Aber, so scheint es, fast alles Große ist bereits gedacht bzw. gemacht, nirgends ein neuer Kant oder Shakespeare oder Goethe, ein neuer Bach oder Picasso. Darüber können die zahlreichen öffentlichen Ehrungen, ja Rühmungen von Künstlern oder anderen Geistesgrößen der Gegenwart nicht hinwegtäuschen. Eine kurze Zeit noch, dann werden sie so ziemlich oder zur Gänze vergessen sein. Wenn auch weniger schnell in den Kreisen von Eingeweihten. Das gilt dann aber genauso für die Schöpfernaturen in der Wissenschaft und der technischen Entwicklung. Hier wie da geht es ihnen um die Sache und kaum jemals um Pekuniäres. Idealisten eben. Ganz besonders ihr Holz ist es, aus dem der Fortschritt geschnitzt wird. Früher wie heute.

Wo die alten weißen Männer (und Frauen) keimen

Die Frage nun: Passt Idealismus auch noch in die Zukunft? Eine Frage, die von Epoche zu Epoche an die Jugend geht. Schon zu Sokrates‘ Zeiten, vor zweiundeinhalbtausend Jahren also, schien es da Grund zur Skepsis zu geben. Die Jugend liebe den Luxus, soll der große Weise gesagt haben, schlechte Manieren habe sie, verachte die Autorität und diskutiere, wo sie doch arbeiten solle. Umgekehrt würden die Lehrer ihre Schüler fürchten und sie verhätscheln.  Tatsächlich, bald darauf ging es mit dem Wohlstand im antiken Athen bergab. Das mag heutzutage anders sein. Oder doch nicht?

Die Jugend zu kritisieren, kommt zu keiner Zeit gut an. Dementsprechend sind auch heute Verlautbarungen über die junge Generation nahezu ausnahmslos von der freundlichen Art. Umso mehr musste es überraschen, als MDR AKTUELL im Juni dieses Jahres unter der Überschrift „Arbeit wird immer weniger wichtig“ Studien über 18- bis 37-jährige verbreitete, die weniger zuversichtlich stimmen. Fazit: Je jünger der Arbeitnehmer, desto weniger Motivation steckt in ihm. Dazu im Text der Arbeitsforscher Christian Scholz: Die Alten könnten durchaus von den Jungen lernen. Denn wer dem Chef oder der Chefin "Nein" sage und am Wochenende keine Überstunden mache, der komme am Montag auch ausgeruht und entspannt auf Arbeit.

Jeder weiß von der heutigen Generation auch weit Positiveres zu berichten, jgar nicht mal so selten von echtem Idealismus. Von Jugendlichen nämlich, die für ein selbstgestecktes Ziel brennen und sich viel lieber im Konstruktiven als tüchtig erweisen als im Destruktiven. Dennoch geben die Fälle von schwindendem Idealismus zu denken, vor allem dann, wenn sie zu einer Massenerscheinung werden. Wer den Elan von Jugendlichen in Fernost kennt, muss sich fragen, wie es hier wie dort mal aussehen wird, in zehn, zwanzig oder gar in fünfzig Jahren. Dann also, wenn die Jungen von heute die Generation „der alten weißen Männer“ (und Frauen!) stellen







MAGDEBURG KOMPAKT 8. Jg., 2. Juni-Ausgabe 2019. S. 10-11

 


Der Traum vom Klimaschutz

Der Wissenschaft geht es um Sachverhalte und Gesetzmäßigkeiten in Natur und Gesellschaft, der Technik um funktionierende Konstrukte, der Kunst um Kunst und der Politik – um Wählerstimmen. Letzteres klingt zynisch, doch muss jeder diesen Eindruck haben, wer zuhört oder liest, was da von den Politikern ständig so abgesondert wird. Die Probleme im Lande wie auch die außenpolitischen nehmen zu, sie scheinen kaum noch lösbar zu sein. Um sie der Öffentlichkeit, namentlich dem Wahlvolk, gegenüber zu kaschieren, wurde ein massentaugliches Scheinproblem installiert, die drohende menschgemachte Klimakatastrophe. Zur Scheinbewältigung des Scheinproblems setzt man auf ein Zaubermittel, sein Name: „Klimaschutz“. Um die Wissenschaftlichkeit des Projektes zu bezeugen, fanden sich einige leitende Klima-Wissenschaftler, und diese haben dann die ihnen Unterstellten bereitgemacht. In der Wissenschaft heißt das Zaubermittel „Forschungsmittel“. Weltweit findet dieses Prinzip Anwendung. Nicht nur, dass es trefflich von den eigentlichen Problemen abzulenken vermag, nein, es schafft massenweise neue.

Zaubermittel „Klimaschutz“

Nach der Wahlschlappe der bislang dominierenden Parteien nun der Katzenjammer: Hätten wir uns doch noch entschiedener auf Klimakatastrophe und Klimaschutz eingelassen! Die Grünen haben das gemacht und für das Zaubermittel sagenhafte Verkaufszahlen erzielt. Wie beim Roulette geht es zu, nachdem die Kugel gerollt ist: Nicht auf dieses Feld hätte man setzen sollen und auch nicht auf jenes, sondern auf das links oben. Ohne rot zu werden, dafür eher grün, lassen unsere Politiker durchschimmern, dass es ihnen eigentlich gar nicht um die Klimafragen geht, sondern um das mit ihnen verbundene taktische Kalkül. Selbst die AfD wiegt vorsichtig ihre Häupter, ob man der Sache mit dem menschgemachten Klimawandel besser nicht ganz so schroff gegenüberstehen sollte – wenngleich und überhaupt. Allemal jetzt, nach den EU-Wahlen, da die Grünen noch weitere Landgewinne verbuchen.

Künftige Zeitgeschichtler werden noch lange über das Konstrukt „Klimapolitik und Klimaschutz“ nachzudenken haben. Vor allem darüber, wie es überhaupt gelingen konnte, gleichsam mit nichts in der Hand eine solche politische Wucht zu entfachen. In der Mainstream-Öffentlichkeit werden Sachdebatten zu Klimafragen ängstlich vermieden. Denn zu befürchten ist, dass die Wissenschaft Argumente beibringt, wonach sich die Klima-Bedenken als irrelevant erweisen. Nicht wenige Klimatologen bezeichnen sie ohnehin als ausgemachten Blödsinn, vornan den Klimaschutz. Würden sie sich mit ihren Ansichten durchsetzen, wandelte sich die vermeintliche Klimakatastrophe zu einer handfesten politischen Katastrophe.

Wie auch immer, es ist eine staatsbürgerliche Pflicht, solcherart Bedenken sorgfältig zu prüfen. Allzumal dann, wenn ein Irrtum von größter politischer und ökonomischer Tragweite wäre. Die Milliarden-, ja Billionen-Euro-Frage nun: Wie lässt sich die Forderung nach einer wissenschaftsbasierten Diskussion durchsetzen, wie sich das Zaubermittel „Klimaschutz“ entzaubern?

Ich lehne mich zurück, schließe die Augen und spiele mein Lieblingsspiel: Privatdemokrat mit unbegrenzten Vollmachten. Die Angelegenheit muss vor den Bundestag, entscheide ich. Vor meinen Augen nimmt das Parlament die Gestalt an, wie ich es von der Tagesschau her kenne. Die Abgeordneten, sofern überhaupt anwesend, lehnen entspannt in ihren Sitzen. Die meisten blicken stumpf vor sich hin oder in sich hinein, manche tippen auf ihren Handys herum. Dasselbe auf der Regierungsbank. Ganz anders als im Parlament der Briten also. Eine Politikerin steht am Pult, nimmt einen Schluck Wasser und fährt fort: „Wir alle, nicht wahr, und keiner von unseren Menschen da draußen, wir alle müssen, ja wir wollen …“ – dröhnende Langeweile.

Das Szenario entwickelt sich zu einem Tagtraum. Nicht viele Menschen haben das Talent für Tag- oder Wachträume. So etwas lässt sich auch trainieren.  Typisch für Tagträume ist, dass man weiß, dass man träumt. Die Inhalte lassen sich sogar steuern. Plötzlich, mich selbst überrascht es, hämmert der Bundestagspräsident eins, zwei, drei auf eine Metallplatte. Schäuble ist es nicht, nein, irgendein anderer.

„Genug geschwätzt!“, verkündet der Präsident mit schneidender Stimme. „Ab heute keine Behauptungen mehr ohne überzeugende Belege. Diskussionen bitte nur noch in der Sache, hohle Polemiken haben unser Land an den Rand der Existenzfähigkeit gebracht, sie sind in diesem Hohen Hause nicht länger zugelassen. Nicht um links geht es, nicht um rechts oder um die Mitte, nur noch um klug oder dumm!“

Diese Idee schreckt mich auf. Voll wach wieder, sage ich mir, da muss etwas geschehen! Angefangen dort, wo ich gerade gewesen bin: im Bundestag. Ich denke mir aus, regelmäßige Examina einzuführen, um die fachliche Kompetenz der Abgeordneten zu trainieren.  Fahrlässige oder gar willentliche Missachtung entscheidungswichtiger Fakten müssen zum Straftatbestand werden. Politiker mit Fach- und Hochschulabschlüssen sind anhand ihrer Graduierungsarbeiten auf Kreativität und Authentizität zu überprüfen.

Nicht links, nicht rechts, nur noch klug oder dumm

Wieder dämmere ich vor mich hin, und in diesem Zustand ordne ich an, „Klimaschutz“ wird zu einem ersten Exempel gemacht. Als Berater sind Wissenschaftler einzuladen, die einen heiligen Eid auf Unabhängigkeit schwören müssen. Nichts anderem dürfen sie verpflichtet sein als ihrer Wissenschaft und der Wahrheit. Damit die Abgeordneten diese Experten überhaupt verstehen können, heißt es, Lehrbücher über Physik und physikalische Chemie zu wälzen und natürlich auch über Klimatologie und Meteorologie. Ebenso zur Statistik. Hernach ab ins Examen!

Vor meinem halbwachen Auge sehe ich mich selbst in der Prüfung, schwitzend. Dann wendet sich das Blatt, ich bin der Prüfer, und die Prüflinge sind es, die schwitzen. Kurzer Anflug von Mitgefühl. Der aber verfliegt, wenn ich an die Verantwortung denke, die die Politiker bei einem sehr, sehr guten Salär für ihr Volk zu tragen haben. Wie seinerzeit bei den Prüfungen von Medizinstudenten in Anbetracht ihrer künftigen Verantwortung als gutverdienende Ärztinnen und Ärzte.

Hellwach wieder, überlege ich, wie denn das Match der Experten auszusehen hat. Sie sollen sich – was sonst? – vor den Augen und Ohren der Abgeordneten Pros und Contras an den Kopf knallen. Unterstützt durch Abbildungen per PowerPoint. Am Ende haben die Abgeordneten darüber hart, aber sachlich zu debattieren, um schließlich, bitteschön, daraus ihre Politik zu machen. In geheimer Abstimmung. Fraktionszwang ist, weil undemokratisch, ein für alle Mal aus.

Was mir zu möglichen Themen einfällt, notiere ich stichwortartig auf einen Zettel:

Temperaturdaten der letzten Jahrhunderte und Jahrzehnte; Fehleranfälligkeit von Temperaturmessung; Beliebigkeiten von Klimamodellen; Temperaturkurven Erdoberfläche, Meer, Stratosphäre; CO2 – wieviel vom Menschen gemacht, wieviel von Deutschland; Anstieg CO2 – Folge oder Ursache einer Temperaturerhöhung; Infrarot-Absorptionsspektrum von CO2 und Sättigungsverhalten; Wasserdampf/Wolken und andere Klimafaktoren.

Zunehmend steigen in mir Zweifel auf, ob sich überhaupt Klima-Wissenschaftler finden lassen, die unabhängig und trotzdem bereit sind, die offizielle Klimapolitik zu vertreten. Ich notiere weiter:

Körpereigene Stickoxidproduktion durch Stickoxidsynthasen und politisch vorgegebene Grenzwerte; Zustandekommen von Grenzwerten; Sonnenaktivität und Temperaturentwicklung auf der Erde und den Planeten; Polkappenverhalten auf dem Mars; Gletscher-Geschichte, Grönland/Grünland; Obamas 97-Prozent-Fake; Schule, Hochschule und Ideologie.

Wieder stocke ich beim Schreiben. Zu befürchten ist, dass die Wirkung rationaler Argumente grundsätzlich gegen Null tendiert. Zumal bei naturwissenschaftlichen Sachverhalten. Die Abgeordneten sind damit völlig überfordert und pflegen stattdessen wie bisher einfach ihre politischen Argumentationsblasen. Wie dem begegnen? Jetzt komme ich nur noch stockend voran, der Schwung ist raus:

Klimabezogene Trendrechnungen; „Klimaziele“; Vorteile/Nachteile einer Erderwärmung/-abkühlung; Plattentektonik und lokale Meeresspiegelanstiege; Extremwetterlagen gestern und heute; Ökologie und Ökonomie regenerierbarer „Energien“ (gemeint sind Energiequellen!); Monokulturen von Energiepflanzen; Machbarkeit/Verantwortbarkeit Kohle- und Kernkraftausstieg, zumal bei gesteigerter E-Mobilität; Energiepreise und Wettbewerbsschäden …

Was, wenn die Abgeordneten einfach streiken? Dann das Parlament auflösen und Neuwahlen anordnen? Was ändert das? Schon wollte ich aufgeben, da sehe ich, in meinen Traum zurückfindend, dass der Diskurs der Wissenschaftler voll im Gange ist. Noch besser: Bei den Abgeordneten sind keinerlei Anzeichen von Langerweile zu entdecken, im Gegenteil, hochrote Gesichter oder auffallend blasse. In ihnen spiegeln sich Wut, Zweifel und Verzweiflung. Eifrigst werden Notizen gemacht. Andere blicken sich ratsuchend um. Lustvoll drehe ich in meinem Tagtraum noch ein bisschen weiter am Rad des Geschehens. Geschrei jetzt, Tumult in den Bänken. Ein Notarztteam trifft ein. Alles redet durcheinander, immer wieder der Ruf „Klimaschutz“. Überall jetzt. Die Rufe verschmelzen zu einer einheitlichen Blase. Diese bläht sich, wird größer und größer. Im Inneren entstehen Schlieren, grüne, rote und gelbe. Dazu jetzt ein schwärzlicher Rauch. Und dann:

P E N G !!

Die Klimaschutzblase ist geplatzt.

„Die Folgen für die Parteien-, Medien- und Bildungslandschaft sind bis auf Weiteres nicht absehbar“, höre ich die Nachrichtensprecherin sagen. Immenser Mitgliederschwund bei den großen Parteien, heißt es. Um Klimaschutz-Hysterie geht es dann und darum, dass Deutschland, wenn es nicht endlich zur Sachlichkeit findet, in den Selbstmord treibe.

Ich wache auf. Nur ein Traum war es.

Wieso eigentlich?


 

MAGDEBURG KOMPAKT 8. Jg., 2. Mai-Ausgabe 2019. S. 44-45












In die Steinzeit düsen

Klingt absurd, ist aber ganz real. Nämlich dann, wenn man sich Neuguinea als Ziel gesteckt hat. Und genau dorthin zog es mich, zur Insel der Menschenfresser und Paradiesvögel. Paradiesvögel – klingt glaubhaft, aber Menschenfresser, Man Eaters?

Offensichtlich haben mir diese seltsamen Menschen Spaß gemacht. Und ich ihnen (Titelbild). Doch wäre einige Jahrzehnte zuvor ein solches Zusammentreffen weniger spaßig gewesen. Zwar ist der Kannibalismus auf Neuguinea offiziell Vergangenheit. Niemand aber weiß genau zu sagen, ob er heutzutage nicht vielleicht doch noch praktiziert wird, irgendwo. Das Land ist riesig, seine Wälder sind auf größere Distanzen hin undurchdringlich und dürfen regierungsseitig größtenteils auch gar nicht betreten werden. Wenn Kenner nach den uralten, für Fremde so wenig bekömmlichen Bräuchen befragt werden, wedeln sie bedeutungsschwer mit der Hand. Der Berühmteste, der in entlegenen Gefilden einfach mal verschwand, und das für immer, ist Michael Rockefeller, der Sohn des früheren New Yorker Gouverneurs und US-Vizepräsidenten.

Heimat der Papuas

Neuguinea – nördlich von Australien gelegen, nach Grönland die zweitgrößte Insel – ist die Heimat der Papuas. Die Papuas entsprechen vom Typus her am ehesten den australischen Aborigines: dunkelhäutig, breite Nasen, kraushaarig (malaiisch papua: „kraushaarig“). In Neuguineas Wäldern leben noch so manche von ihnen in Verhältnissen, die den Urbedingungen durchaus nahekommen. Im Extremfall sind ihnen Metalle unbekannt, und sie verwenden stattdessen Steine. Steinbeile zum Beispiel. Nicht anders hielten es unsere eigenen Vorfahren, die in den Urwäldern von Europas Mitte lebten, zu einer Zeit, die wir aus eben solchem Grunde die „Steinzeit“ nennen. Die Papuas haben die Grenzen ihrer Stammesreviere immer sehr ernst genommen. Diese zu ignorieren, war in früheren Zeiten tödlich. So strikt voneinander isoliert, haben sich hier mehr als 1 000 verschiedene Sprachen herausgebildet. An Geister wird noch heute geglaubt, an Zauberei und an Hexen. Selbst bei der Polizei, heißt es.

Neuguinea verfügt über eine großartige, weil sehr spezielle und bis heute nur ansatzweise erforschte Flora und Fauna. Hier wollte ich hin, schon seit langem. Ganz wenige Reiseanbieter führen Neuguinea in ihrem Programm, und dann fast nur für den Ostteil der Insel. Seit den 1970er Jahren ist er ein selbständiger Staat, Papua-Neuguinea genannt. Mittlerweile blüht hier die Kriminalität. Von einem Besuch durch Einzelreisende wird daher abgeraten, des Öfteren wurden auch Reisegruppen überfallen. Nein, nicht dorthin wollte ich, stattdessen in den seit 1963 von Indonesien regierten Westteil, schlicht „Westneuguinea“ genannt. Rundreisen werden dafür kaum irgendwo angeboten, in Deutschland gar nicht. Ohnehin wollte ich keine Rundreise, vielmehr das Land auf eigene Faust erleben. Die Erlebnistiefe ist dann weit, weit größer.

Der Start erfolgte am heimischen PC: Flüge, Hotels für die Zwischenlandungen und vor allem die Frage, wohin genau. Reiseliteratur für Westneuguinea gibt es so gut wie nicht, auch nicht englischsprachliche. Da bleibt nur, im Internet herumzusuchen, um eigene Pläne zu machen.

Wald, Wald, Wald

Mitte Februar dieses Jahres ging es dann wirklich los. Zwischengelandet in Jakarta und Makassar (auf Sulawesi), war vom Flugzeugfenster aus endlich Neuguinea in Sicht: Wald, Wald, Wald, hier und da mal ein sich dahinschlängelnder Fluss. Ich versuchte, mir vorzustellen, mich dort unten über diese riesigen Distanzen hinweg durchkämpfen zu müssen. In meinem Mund wurde es abwechselnd trocken und feucht. Dann endlich tauchte an der Nordküste das Reiseziel auf, Jayapura, die Provinzhauptstadt von Westneuguinea. Wieder Boden fand die Maschine auf dem Airport in der 25 km entfernten Stadt Sentani.

Jayapura, eingenischt zwischen einem größeren See, dem Sentani-See, und dem Pazifik, mutet unerwartet großstädtisch an: Geschäftsstraßen, viele Autos und Motorräder, laut, viele Menschen. Neben verstädterten Papuas sind es Indonesier, die größtenteils aus Java stammen und per Regierungsprogramm nach Neuguinea umgesiedelt worden sind. Ein als Transmigrasi etikettiertes Programm der indonesischen Regierung hat die Zersiedelung Westneuguineas durch Indonesier aus anderen Gegenden zum Ziel, vor allem eben mit solchen aus dem bevölkerungsreichen Java.

Den Kampf um die Unabhängigkeit von der indonesischen Herrschaft mussten hunderttausende Papuas mit dem Leben bezahlen. Von der Weltöffentlichkeit wurde das kaum bemerkt. Und noch heute gibt es erbitterte Auseinandersetzungen. Staatsterrorismus ist der wohl treffendste Ausdruck für die gleichsam unumschränkte Macht, die von Polizei und Militär ausgeübt wird. Menschen, die für die Unabhängigkeit kämpfen, und sonst wie Aufmüpfige verschwinden über Nacht und für immer und spurlos.

Dennoch wirkt die Bevölkerung, gleich ob Javaner oder Papuas, ausgesprochen zufrieden, zumal sie in relativem Wohlstand lebt und, anders als im Ostteil, durch Kriminalität kaum behelligt wird. Mir selbst – ein oder zwei Köpfe größer als die Anderen, hellhäutig, blauäugig – begegnete man überall mit großer Freundlichkeit. Zwar kann kaum jemand englisch, aber ein „Good Morning“ oder „Good Afternoon“ kriegten die meisten hin. Nicht nur im Vorübergehen wurde ich begrüßt, auch vom Motorrad herunter oder aus dem Auto heraus.

Gleich am Stadtrand wartet der Dschungel. Sekundärwald ist es. Der tropische Regenwald von einst wurde vor allem durch Brandrodung vernichtet. Überall, wo sich die (in unserem Sinne) Zivilisation breitgemacht hat, ist das passiert. Das gilt auch für Siedlungen der moderneren Art, die zwar Straßen aufweisen – Straßen, auf denen Autos und Motorräder fahren –, die aber keinerlei Anschluss an das Straßennetz der Insel haben. Unter einander verbundene Straßen gibt es ausschließlich im Küstenbereich. Die Orte im Inneren sind daher nur über Inlandflüge zu erreichen. Alles, was man dort nicht selbst produzieren kann, muss eingeflogen werden: Autos, Motorräder, Wellblech für die Dächer, ja selbst der Asphalt für die Straßendecke! 

Selbst der Asphalt wird eingeflogen

Einer dieser Orte ist die Stadt Wamena. Der Ort, in einem fruchtbaren Flusstal im Hochland Westneuguineas gelegen, wird viele Male am Tag angeflogen, und auf den hatte ich mich als Startpunkt konzentriert. Auch hier wieder Geschäftsstraßen, sogar mehrstöckige Gebäude, mittendrin buntes Leben.

Die Einwohner, gleich ob hierher verfrachtete Javaner oder der indigenen Bevölkerung entstammend, tragen dieselben Allerweltsprodukte auf dem Leib, wie auch wir sie bei unseren Discountern kaufen können. Zumeist haben die Bewohner Wamenas nichts an den Füßen, dafür ein Smartphone in der Hand.

Der besondere Reiz: Hier in Wamena kann man in eines der zahlreichen Sammeltaxis steigen, um sich bis dorthin fahren zu lassen, wo der Charakter der Siedlungen in den von früheren Zeiten übergeht. Üblich sind mit Pflanzenmaterial bedeckte Rundhütten. In den Binnenhöfen tummeln sich die Bewohner und mittenmang freilaufende Schweine und Hühner. Auch ein oder zwei Hunde, die jedoch weniger zum Bewachen oder gar zum Kuscheln gebraucht werden, weit eher als Schlachttiere. Hundefleisch soll besonders wohlschmeckend sein, sehr zart und so gut wie fettfrei.

In solchen Siedlungen wird das uralte Brauchtum gepflegt. Zu den Festen werden die Körper in oft bizarrster Weise bemalt, und dann auch trägt man wie selbstverständlich die langen Penis-Etuis, Horim genannt. Sie werden aus einer Kürbisart gefertigt und dienen dem Schutz des hierzulande als besonders schützenswert geltenden Körperteils, da es sich bei den Papuas größter Verehrung erfreut. Pfeil und Bogen werden präsentiert und wunderbar geschnitzte Speere.  Dazu dann noch martialische Tänze und Schreie, sodass auch dem Letzten die Lust vergeht, mit diesen Typen zu streiten. Ich selbst hatte vorgezogen, mich, später dann, in einem der Hotels von Wamena hinter einen Aufsteller zu begeben und nur eben mit dem Kopf herauszugucken (Titelbild). Was da an Wunden zu sehen ist, rührt von einem kostenlosen Photo-Editor.

Eine der letzten echten Wildnisse

Von nicht minder großem Reiz ist die Natur Neuguineas. Hier findet man eine der letzten echten Wildnisse: weithin unberührt und kaum Tourismus, schon gar nicht Massentourismus. Diese Natur zu genießen, sie tief zu atmen, bedarf ausreichender Zeit. So etwas lässt sich per Rundreise, zumal unter den ständigen Kommentaren der Mitreisenden, nicht machen. Selbst wenn man auf die zeitraubenden Mittagsessenspausen verzichtet und auch von den sonst so beliebten All-inclusive-Leistungen Abstand nimmt.

Über 60 Prozent der auf Neuguinea heimischen Pflanzen- und Tierarten gelten als endemisch, m. a. W., sie kommen nur hier und sonst nirgendwo auf der Welt vor. Gegenwärtig sind für Neuguinea etwa 12 000 Pflanzenarten beschrieben, 700 Arten von Vögeln, 300 bis 400 von Reptilien und Amphibien und 2 700 Fischarten. Bislang wurden gerade mal 300 Arten von (Webe-)Spinnen gezählt. Da hiervon in Deutschland etwa eintausend vorkommen, lässt sich ermessen, wie groß die Kenntnislücke allein auf dem Gebiet der Arachnologie ist. Dennoch werden trotz der eingeschränkten Zugänglichkeit auf Neuguinea ständig neue Tier- und Pflanzenarten entdeckt, im Jahresdurchschnitt einhundert bis einhundertfünfzig. Von besonderem Reiz sind die Paradiesvögel. Bisher wurden 43 Arten gezählt, eine Art schöner als die andere. Obschon es immer nur die Männchen sind. Was diese an den äußerst schlichten Weibchen wohl finden? Dem menschlichen Betrachter erschließt sich das nicht.

Appetit bekommen, in die Steinzeit zu düsen? Siehe: https://www.geraldwolfmd.de/Und-weiter-draussen/Westneuguinea-2019-I/  (und -II).


MAGDEBURG KOMPAKT 8. Jg., 2. Mai-Ausgabe 2019. S. 18-19


Heute schon gehasst? 

Von meiner Kindheit und Jugendzeit her kann ich mich kaum an den Gebrauch des Wortes „Hass“ erinnern. Wut haben, richtig große Wut auf irgendetwas oder irgendwen, zum Beispiel auf den Mathelehrer, das kannte ich. Aber hassen? Hass ist etwas viel Stärkeres als Wut, auch wenn diese noch so groß sein mag. Wut und Zorn verrauchen, Hass hingegen ist zäh, Hass klebt. Mitunter ein Leben lang. Und so etwas verlangt Reife.

Heute ist mir klar, dass auch damals gehasst wurde, allenfalls unter den Älteren. Zum Beispiel bei Kränkung der Liebe oder der Eitelkeit, oder wenn es um den geschiedenen Ehepartner ging oder um den fiesen Nachbarn. Damals in der DDR wurde Hass sogar verlangt. Den Faschismus galt es zu hassen, vollkommen zu recht, gleichermaßen aber auch den Klassenfeind und das imperialistische Westdeutschland. Überhaupt die „Bee-Rrr-Dee“. Selbst dann, wenn man dort Verwandte hatte, die regelmäßig Päckchen schickten. Oder, falls sie mal zu Besuch kamen, eine West-Zeitung daließen, Schokolade oder wunderbar duftende Seife, vielleicht sogar ein paar echte Jeans. Der Einzige, der seinerzeit dem Hass-Auftrag überzeugend nachzukommen schien, war der Fernseh-Chefkommentator Karl-Eduard von Schnitzler. Der kam aus dem Westen und seine Familienangehörigen, so wurde bekannt, kauften regelmäßig in West-Berlin ein. Auch „West-Weiber“ sagte man „Sudel-Ede“ nach.

Und heute? Selbst ohne sich auf (gefällige) Umfragen berufen zu können, scheint klar, Hass hat in der Politik einen regelrechten Karrieresprung hinbekommen. Die Liebes-Utopien der 68er sind zwar ausgeträumt, sie werden aber in mannigfaltig veränderter Form immer wieder neu aufgelegt. Zugleich wird versucht, Hass auf solche zu lenken, die nicht mitzuträumen bereit sind. Von Fremdenhass ist die Rede, von Hass auf Andersdenkende und Hasskultur. Hass triumphiert als Hass-Parole und Hass-Mail, als Hass-Predigt und Hass-Kommentar.

Hass macht auch in der extremsten Form seiner Abreaktion Karriere, als körperliche Gewalt. Kein Fernsehabend ohne Mord. Auch in der Realität sind Mord und Totschlag etwas völlig Alltägliches geworden. Mord an Anderen, an ihnen allein oder erweitert um sich selbst. Fast immer geschehen die Attentate unter einem politischen oder religiösen Motiv. Am häufigsten in der muslimischen Welt. Mal in Asien, mal in Afrika oder Amerika, mal in Frankreich oder in Belgien, und seit längerem nun auch bei uns in Deutschland. Sprengsätze oder Kraftfahrzeuge sind die Mittel, auch Gift, am beliebtesten aber ist der Griff zum Messer.

Maschinelles Hassen

Mittlerweile gibt es sogar Computerprogramme, die Hassbotschaften formulieren. Man sollte es kaum für möglich halten, „Meinungsmaschinen“ wie Tay, sogenannte Social Bots, greifen mit Hasskommentaren in die Leserdebatten der sozialen Netzwerke ein! Teuflisch genial möchte man meinen, aber etwas Entscheidendes fehlt diesen Programmen: das emotionale Unterfutter. Dieses ist nur uns selbst zu eigen.

Jeder, der schon einmal gehasst hat, aus tiefster Seele gehasst, weiß für den Rest seines Lebens, was Hass ist. Wie sich Hass anfühlt. Zum Beispiel, wenn man im Ureigensten durch etwas verletzt worden ist und sich dabei hilflos ausgeliefert fühlt, dann kommt auf, was sich nicht einfach mit Gefühlen der alltäglichen Art abtun lässt. Nicht mit Ärgerlichkeit, mit Zorn oder Wut. Nein, Hass wird es dann sein. Und wer hasst, wünscht dem Verursacher aus tiefster Seele heraus eine drastische Strafe, vielleicht sogar den Tod.

Wie jedes andere Gefühl ist das des Hasses nur von innen her zugänglich, nur über das Erleben. Das gilt für Sinnesgefühle, wie dem für Kalt oder Laut, für Schmerz oder einen Juckreiz, genauso wie für seelische Gefühle, für Emotionen: Freude, Zuneigung, Zorn, Scham, Stolz, Begeisterung. Und eben auch für Hass. Man spricht von „Qualia“ und meint damit die subjektive Erlebnisform eines Geisteszustandes (lat. qualis, „wie beschaffen“). Wesentlich für das Zustandekommen derartiger innerer Zustände ist das Limbische System unseres Gehirns. Es besteht aus Schaltungen von Nervenzellen, die ringförmig um den Hirnstamm herum angeordnet sind – tief in unserer Biologie verankert.

Die Auslösung solcher inneren Erlebniszustände ist situativ bedingt, die Art, wie wir sie erleben, aber angeboren. Wenn auch erst nach der Geburt zusammen mit dem Gehirn ausreifend. Nach uraltem genetischem Diktat geschieht das. Und so, wie wir Hass heute empfinden, musste ihn auch der Steinzeitmensch empfunden haben.

Die Autoren der Bücher Mose hatten einen solchen Gemütszustand nachvollziehbar beschrieben: „Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick“, heißt es dort. Und weiter: „Lass uns aufs Feld gehen!, sagte Kain zu seinem Bruder. Dort erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot“. Damals wie heute gilt: Der Hassende empfindet sein Begehren als gerecht, der Außenstehende wendet sich mit Grausen.

Hetze, Eskalation und De-Eskalation

Ein probates Mittel, Hass zu erzeugen, ist die Hetze. Anwendung findet sie dann, wenn der Zielperson oder der Zielgruppe hassenswerte Eigenschaften fehlen, sie aber aus welch niederen Gründen auch immer zum Hassobjekt gemacht werden sollen. Üblich ist das Andichten von schändlichen Eigenschaften, von Fiesheit, von gemeingefährlichen Aktivitäten oder Missetaten. Großer Beliebtheit erfreut sich heutzutage die Unterstellung, Nazi oder Rassist zu sein (im Regelfall ohne weitere Begründung). Oder die von Fremdenhass. Dem Grunde nach hieße Fremdenhass, jedweden Menschen zu hassen, bloß weil er fremd ist, unterschiedslos also solche aus dem Nachbardorf, aus Polen oder Argentinien, oder eben Hass auf alle Engländer, Inder oder Syrer, Massai, Indonesier oder Inuit ... Gibt es das überhaupt?

Nein, der Anwurf „Fremdenhass“ ist politischer Art. Er zielt auf Bürger, die mit der Willkommenshaltung gegenüber unkontrolliert einströmenden Menschenmassen nicht einverstanden sind. Leute werden als Fremdenfeinde deklassiert, denen um die nationale Integrität bange ist, die galoppierende Kosten befürchten und Konkurrenz am Arbeits- und Wohnungsmarkt, die im politischen Islam eine arge Bedrohung sehen und in den weit klaffenden Türen eine Einladung zur grenzüberschreitenden Kriminalität.

Wenn bei Bürgern das Gefühl der Ohnmacht hinzukommt, wenn „von oben“ versucht wird, die Lage zu vertuschen, zu verdrehen, zu beschwichtigen und zu beschönigen, lässt das nahezu zwangsläufig Widerstand erwarten. Verstärkt noch wird er bis hin zum Hass durch Verhöhnung. Zum Beispiel, wenn sich die politisch erfahreneren vormaligen DDR-Deutschen als „Jammer-Ossis“, „Dumpfbacken“ oder als „Dunkeldeutsche“ abgetan fühlen, oder wenn Kabaretts nicht die Mächtigen aufs Korn nehmen, sondern ausgerechnet deren Opposition. Oder wenn man zu Talkrunden vier oder fünf Personen einlädt und seitens der Opposition (falls überhaupt jemanden) jeweils nur eine einzelne Person, um diese dann dem vereinten Bombardement der übrigen und den sorgsam ausgewählten Claqueuren auszuliefern.

In der gegenwärtigen Situation liegt die Gefahr einer Eskalation des politisch provozierten Hasses auf der Hand. De-Eskalation ist vonnöten. Denn selbst bei politisch Naiven werden regierungsseitig verabreichte Beruhigungstropfen nicht grenzenlos wirken. Ratsamer ist, auf solche Länder zu schauen, die in Hinblick auf De-Eskalation weiter sind als wir. Als geradezu gefährlich hingegen erscheint der Vorschlag der ehemaligen Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche Margot Käßmann. Sie empfiehlt, den Terroristen mit Liebe und Gebeten zu begegnen. In der Psychiatrie nennt man so etwas „illusionäre Verkennung“.

De-Eskalation, wie und wozu eigentlich?

Wie, fragt man sich, sollte denn die De-Eskalation funktionieren? Abschaffen kann man den Hass ohnehin nicht. Das Hassgefühl gehört zum emotionalen Inventar eines jeden Menschen. Es wird generiert, wenn dazu ein entsprechender Grund vorliegt, zumindest ein vermeintlich echter. Dann auch ist der Hass echt, und dieser ist nicht einfach per Resolution abschaffbar.

Ganz anders, wenn Hass als Instrument genutzt wird, so wie es die Politiker uns vormachen, obzwar sie an den Hassgrund selbst nicht glauben können. Warum dann darauf nicht einfach verzichten? Ein allseitiger Beschluss, und weg damit! – Auch ein solcher Appell käme einer illusionären Verkennung gleich. Denn per Hetze an die Hassbereitschaft der Bevölkerung zu appellieren, erspart Sachargumente, und das ist von besonderem Vorteil, wenn man keine hat. Entweder weil es keine gibt oder weil zu deren Formulierung Sachverstand vonnöten ist. Allerdings eben setzt Sachverstand Sachkenntnisse voraus, sie erfordern Bildung, und diese wiederum bedeutet Arbeit. Außerdem besteht bei solcherart von Sorgfalt immer die Gefahr, der anderen Seite am Ende recht geben zu müssen. Davor ist gefeit, wer ohne Sachverstand, einfach nur durch Diffamierung, Hass erzeugen will. Auch im Privaten funktioniert das.

Arglose durch Hetze zum Hass verführen zu wollen, gehört zum Ekelhaftesten, was Menschen zu tun in der Lage sind. Motto: Immer schön mit Dreck werfen, etwas bleibt schon hängen. Das wusste man bereits in der Antike: Audacter calumniaresemper aliquid haeret!


MAGDEBURG KOMPAKT 8. Jg., 2. März-Ausgabe 2019. S. 46-47



  Das Mikrobiom

Meine kleine Welt und deine 

Auf das große Ganze kommt es an, aber auch auf das kleine. Ja sogar auf das ganz kleine Ganze. Zum Beispiel auf die bestenfalls mikroskopisch erkennbaren Mitgeschöpfe, all die Bakterien also, die einzelligen oder wenigzelligen Pflanzen und Pilze und die Viren. „Mikroorganismen“ werden sie genannt oder „Mikroben“. Überall tummeln sich diese Winzigkeiten, im Wald und auf der Heide, im Meer und im Karpfenteich, aber auch in uns und auf uns. Im Darm kommen sie vor, auf der Haut, in der Lunge, in der Mund- und in der Nasenhöhle. Ihre jeweiligen Gesamtheiten nennt man „Mikrobiom“. Allein das Mikrobiom unseres Darmes besteht aus etwa 100 Billionen Bakterien – eine Anzahl, die der unserer Körperzellen gleichkommt. Die meisten dieser kleinen Gäste sind uns friedlich gesinnt, einige aber bedeuten Krankheit.

Bisher mussten die einzelnen Mikrobenarten auf Verdacht hin mühselig angezüchtet werden, um hernach sagen zu können, worum es sich jeweils handelt. Neu ist, mit modernen Techniken nahezu im Handumdrehen bestimmen zu können, was sich da in unserem Darm, auf unserer Haut oder in unserer Lunge so alles tummelt. Sie ahnen, verehrte Leserin, verehrter Leser, was das für Verfahren sind? Gentechnische sind es. – Gentechnik? Iigitt! Doch keine Sorge, schlimm ist höchstens die Gentechnik-Phobie. Die aber befällt nur Wissenschaftsferne und solche, die sich von ihnen mit Wissenschaftsscheu infizieren lassen.

Durch die modernen molekulargenetischen Analyseverfahren weiß man, dass in unserem Darm mehr als 1 000 Arten von Bakterien vorkommen. Das sind etwa doppelt so viele wie vor Einführung der molekulargenetischen Mikrobiom-Analyse angenommen. Die Lunge Gesunder galt bis dahin als bakterienfrei, dank der modernen Mikrobiomanalyse-Techniken weiß man nun, dass das nicht stimmt. Mehr noch, es stellte sich heraus, dass sich die Zusammensetzung des Mikrobioms bei den verschiedenen Lungenkrankheiten verändert. Wie bei den Erkrankungen des Darmes. Allerdings, was dabei Henne ist und was Ei, was also Ursache und was deren Folge ist, muss sich zumeist erst noch herausstellen.

Mikrobiom-Analyse

Eine Wundertechnik ist es, obwohl dem Prinzip nach ganz einfach. Es kommt dabei auf das Erbgut der Mikroorganismen an, und zwar auf die Abfolge der vier verschiedenen genetischen „Buchstaben“ (Nukleinbasen). Mittels spezieller Gensonden spürt man sie weitgehend automatisiert auf. Eigens dafür hergestellte Moleküle sind das, die sich an jeweils arttypischer Stelle präzise mit denen im Erbgut der Mikroorganismen paaren. Und gleichsam im Handumdrehen weiß man über die Zusammensetzung des Darm-Mikrobioms Bescheid. Genauestens. Oder eben über die der Haut oder der Lunge. Für die Mikrobiologen früherer Zeiten ein wahrgewordener Traum!

Wie in einem feuchtwarmen Herbst die Pilze, so sprießen seither die Publikationen aus den Laboren der Mikrobiom-Forscher.  Denn was liegt näher als zu versuchen, neben der Lebens- und Ernährungsweise alle nur möglichen Krankheiten und Therapien zu den jeweilig identifizierten Mikrobiomen ins Verhältnis zu setzen. Ja sogar verschiedene Persönlichkeitsmerkmale werden den individuellen Mikrobiomen zugerechnet. Herausgekommen bei all den Forschungen ist nicht nur Wissenschaft, sondern auch Halb- und Viertelwissenschaft. Und massenweise Nonsens.

Nonsens etwa in der Art, dass Jogurt glücklich macht, und warum. Nämlich deshalb, weil er den „guten“ unter den Darmbakterien gut schmeckt und diese sich beim Wirt für den Schmaus in Form eines Glücksempfindens bedanken. Auch hat man schnell herausgefunden, ein wenig zu schnell allerdings, dass der Darm und das Gehirn eine bisher verborgene Einheit bilden. Ängstliche Mäuse zum Beispiel sollen nach Verabreichung von Fäkalien draufgängerischer Artgenossen wagemutig werden. In dieselbe Reihe gehören Ergebnisse, mit denen man belegen will, dass autistische Kinder durch sogenannte präbiotische (mit bestimmten Bakterien angereicherte) Kost soziale Fähigkeiten hinzugewinnen.

Klar indes ist (allerdings war es das schon lange vor Einführung der molekularbiologischen Mikrobiomanalyse), dass uns eine große Anzahl von Bakterienarten bei der Verdauung hilft und dass einige von diesen Mikroorganismen lebenswichtige Wirkstoffe liefern. Unter anderem Vitamine der B-Gruppe, Vitamin K und Folsäure. Andere Bakterienarten machen uns krank. Gegen sie kann man mit Antibiotika zu Felde ziehen. Ebenso klar ist, dass dadurch wie auch bei der Chemotherapie regelrechte Kahlschläge durch die Bakterienlandschaft hindurchgetrieben werden. Gewöhnlich lassen sich diese bei Absetzen der Therapie rasch wieder aufforsten.

Was nun ist verlässliches Wissen, was nicht, was allein ist der noch andauernden „Mikrobiom-Manie" geschuldet, und wo überhaupt liegt das Problem? Wie fast immer, wenn bahnbrechend neuartige Erkenntnismöglichkeiten auftauchen, kommt es zu einem Run auf das Neue, ja, zu einem regelrechten Hype. Forschungsmittel werden ausgestreut, die Fachzeitschriften reißen sich um entsprechende Veröffentlichungen, auch die mediale Öffentlichkeit. Und jeder, der einigermaßen kann, will mit dabei sein. Genau in diese Zeit passte das Buch „Darm mit Charme“, geschrieben von Giulia Enders, einer Medizinstudentin. 2014 war es in Deutschland mit über einer Million Exemplaren das meistverkaufte Hardcover-Sachbuch. Aus welchen Quellen auch immer gespeist, gefragt sind positive Ergebnisse. Nach Möglichkeit solche, die zu neuen Ufern weisen. Hingegen wenig beliebt, ja überhaupt nicht gemocht werden negative Befunde oder solche, die die neuartigen nicht bestätigen können. Denn damit lässt sich kaum jemals ein Master- oder gar ein Doktorgrad erwerben, oft noch nicht mal ein Blumentopf. Nein, ja nichts Negatives, nichts, was den Hype verdirbt, die Schatullen der Fördereinrichtungen bleiben dann zu, und die Öffentlichkeit ist, wenn überhaupt, an solcherart Ergebnissen ebenfalls nicht interessiert.

Dank auch für deine …, hmh, für deinen Kot!

Was derzeit vor allem zu lösen bleibt, ist das Problem, was bei verändertem Mikrobiom nun Ursache und was Folge ist. Kann man durch Beeinflussung des Darm-Mikrobioms Krankheiten heilen, zum Beispiel durch bestimmte Nährstoffe und – leider zumeist nicht gerade billige – Nahrungsergänzungsmittel, durch Essgewohnheiten, probiotische Nahrungsmittel oder gar durch Transplantation von Kot Gesunder? Tatsächlich heilen und nicht nur vermeintlich? Um viele einst gepriesene Wege ist es still geworden, ohne dass nach anfänglichem Geschrei jemals ausdrücklich gesagt würde: Entschuldigung, Quatsch war das, einfach unreif, die Studien sind nicht korrekt gewesen! Seitens der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten heißt es, „teuer und sinnlos“ seien molekulargenetische Analysen von Stuhlproben, wenn es allein darum ginge, Ernährungs- und Handlungsempfehlungen abzuleiten. Dafür fehle derzeit die wissenschaftliche Grundlage. – Derzeit! Denn auch das sei gesagt, hinreichend Grund für Hoffnungen gibt es. Diese aber müssen Schritt für Schritt auf ihre Berechtigung hin abgeklopft werden. Und so etwas dauert. Für gewöhnlich viel länger als das Interesse der Öffentlichkeit.

Irgendwie schade, werden viele jetzt denken. Da gab es so hübsche Empfehlungen, was man durch Tabletten, Kapseln, Pillen und Tropfen aus der Apotheke, aus Drogerien, Bioläden und Supermärkten sowie durch klug abgestimmte Ernährung tun könne, um das Mikrobiom zufriedenzustellen. Reizdarm und Allergien seien damit wirkungsvoll zu begegnen, der Depression und sogar dem Krebs.

Und nun? Tja, mit Diäten und Gesundheitsempfehlungen gleich welcher Art ist es wie mit Religionen oder mit dem Klimaschutz, mit Grenzwerten oder politischen Auffassungen. Wirklich vernünftige – sprich: sachliche – Erwägungen sind kaum jemals gefragt. 


MAGDEBURG KOMPAKT 8. Jg., 2. Februar-Ausgabe 2019. S. 17


Schüßler-Salze gegen politische Verbildung 

Politisch gebildet zu sein, ist für mich eine Selbstverständlichkeit. Seit jeher. Auch in der DDR-Zeit war das so. Klar, mit der Wende musste manches neu gesehen und neu begriffen werden. Es kamen Unsicherheiten auf, von wegen was von dem bisher politisch Wissenswerten aufbewahrt gehörte und was nicht. Doch bald hatte man wieder Tritt gefasst. Die Zeitungen halfen einem dabei, ebenso die Nachrichten in Funk und Fernsehen. Bis heute ist das so. Und alles wäre gut, wenn da nicht das Internet für Unsicherheiten sorgte.

Keine Frage, vieles von dem, was man dort erfährt, ist gut und richtig. Aber bei weitem nicht alles. Manches klingt nur logisch, ist es aber nicht. Auch wird da mit Fakten aufgewartet, von denen man noch nie etwas gehört hat. Doch Vorsicht, nicht selten handelt es sich nur um angebliche Fakten! Wahrheiten werden verdreht, Geschehnisse erfunden oder aufgebauscht, pure Behauptungen aufgestellt, bis man nicht mehr ein noch aus weiß. Genau das ist das Ziel solcher Machenschaften: die Ver-Bildung der politisch Gebildeten!

 Mir jedenfalls ging das so. Zunehmend litt ich unter Verwirrung. Was ich bisher genau zu wissen glaubte, löste sich in lauter Fragen und Rätsel auf. Wann immer das Radio lief oder der Fernseher, von dem, was da gesagt wurde, konnte ich weniger und weniger glauben. Schließlich gar nichts mehr. Nicht den menschgemachten Klimawandel, nicht den Sinn unserer Energiepolitik, nicht den von Grenzwerten. Sie erschienen mir leichtfertig festgelegt, die Art der Begründung antiwissenschaftlich. Ich zweifelte an der Schutzbedürftigkeit und der Dankbarkeit der bei uns Schutzsuchenden, und auch an dem Seltenwerden von Insekten. Meine bis dahin sehr stabile politische Haltung wankte, und alles, was ich mir an Sichtweisen angeeignet hatte, geriet in Gefahr. Das Vertrauen in unsere Zukunft, in die der EU und allemal in die von Deutschland, war futsch!

Meine bisherige politische Bildung erlag zunehmend dem Prozess der Ver-Bildung. Ständig plagten mich die schlimmsten Ahnungen, Ängste fingen an, mich zu beherrschen. Beruhigungsmittel halfen kaum noch, ebenso nicht all die verschiedenen Schlafmittel. Tagsüber war ich dösig, abends konnte ich nicht einschlafen.

Der Schwund des Bildungs- und Leistungswillens unserer Bevölkerung schien mir wie durch eine Lupe vergrößert, und die Einschränkung der Meinungsfreiheit schien für mich klar ersichtlich.  Die Erblichkeit der Intelligenz glaubte ich bewiesen, nicht aber die Gefahr von Glyphosat. Auch nicht die von konventionell produzierten, allzumal laktose- und glutenhaltigen Lebensmitteln. Die genderwissenschaftliche Durchdringung sämtlicher Etagen unserer Gesellschaft, in Wirklichkeit dringend erforderlich, empfand ich als Nonsens. Die Gentechnik aber, selbst die Grüne, schien mir entgegen den Warnungen der Experten ein Segen zu sein. Und das Allerschlimmste: Ich musste begreifen, dass ich ein Faschist bin, ein Nazi, ein Rassist und ein Sexist.

Dem Psychiater, der mich nach einer Wartezeit von sechs Wochen endlich vordringen ließ, vertraute ich an, dass mir nicht einmal mehr das zu glauben möglich ist, was hocherfahrene Politiker sagen, alle die nämlich, die uns schon lange regieren. Schöne Beispiele fielen mir dazu ein. Die ganze Zeit über zuckte der Arzt mit den Schultern. Je mehr ich ihm von meinen zwangsartigen Zweifeln zu wissen gab, umso nervöser wurde sein Zucken. Schließlich erzählte ich auch noch, dass mir die Bedrohung von Rechts gar nicht so erscheine, wie ich meinte, meinen zu müssen. Eher die von den Linken und ihren Aktivisten. Und die von den Grünen. Da sprang er auf und entschied, nein, leider, er könne mir da nicht helfen. Beim Abschied raunte er mir zu, dass er selbst unter solchen Symptomen leide.

Ein ebenfalls überlaufener Psychotherapeut wartete mit dem Rat auf: Schüßler-Salze. Aber Vorsicht, nicht mit den hochpotenzierten (also hochverdünnten) anfangen, sondern mit den höheren Konzentrationen. Mit anderen Worten, je konzentrierter, umso weniger wirkmächtig, umso weniger potent also! Der Typ sah mir meine Verwirrung an, winkte ab und verlangte, ich solle einfach nur vertrauen.  

Sie funktionieren, die Schüßler-Salze

Zunächst wollte ich es nicht für möglich halten: Diese Mittel helfen! Zunächst wurde ich ruhiger. Ruhiger und ruhiger. Ich konnte wieder schlafen. Was aber das Beste war: Die politische Verwirrtheit verlor ihre Qual und löste sich schließlich in nichts auf! Nun drängt es mich, mit meinen Erfahrungen an die Öffentlichkeit zu gehen. Einfach, weil ich ahne, dass die Dunkelziffer von Menschen hoch ist, die sich, wie ich einst, der politischen Verbildung ausgeliefert fühlen und ihnen anderweitig kaum geholfen werden kann.

Schüßler-Salze, eigentlich ganz triviale anorganische Verbindungen, sind zur Pflege oder Wiederherstellung der Gesundheit gedacht, zur Steigerung des allgemeinen Wohlbefindens, zur Gewichtsreduktion usw. Aber eben auch, wie sich in meinem Falle erweisen sollte, wirksam gegen die politische Verbildung!

Im Internet fand ich eine große Menge an Angeboten. Tabletten, Globuli, Cremes und Salben, solche von den Firmen Pflüger, von omp, Orthim und DHU. Dabei hat man unter 12 verschiedenen Funktionsmitteln auszuwählen. Wem das nicht reicht, der findet entsprechende Ergänzungsmittel. Das alles in D6- und D12-Potenzen, aber auch in Form von Extremverdünnungen. Aufs Neue sei betont: Anders als man erwarten würde, erhöht sich mit der Verdünnung die Wirksamkeit. Wie in der Homöopathie.

Natürlich war ich zunächst recht skeptisch. Die Hochpotenzen reichen bis C100, und sogar noch darüber hinaus. Der durchaus übliche Potenzierungsgrad von C30 (= 1:100 EXP 30 = 1:10 EXP 60) zum Beispiel entspricht immerhin schon einer decillionenfachen Verdünnung. Ich sagte mir, da könne gar nichts Wirksames mehr enthalten sein. Wenn, wie per Internet zu erfahren, die Wassermenge auf unserer Erde 1,4 Milliarden Kubikkilometer beträgt, dann ist entsprechend der Avogadro-Konstante – 6·10 EXP 23 pro Mol (das zu wissen wurde früher an den allgemeinbildenden Schulen abverlangt) – die Gesamtzahl der Wassermoleküle auf „nur“ 5·10 EXP 46 zu veranschlagen.

Gleich zu Beginn der Behandlung verschwanden solche Bedenken. Ich wählte auf gut Glück eine Niederpotenz, und zwar die „Energie-Plus-Kur“ mit den Schüßler-Salzen 2, 3, 5 und 7. Jeweils 400 Tabletten. Kostenpunkt 22,00 Euro, und dabei hatte ich – wieso eigentlich? – noch 4,00 Euro gespart!

Der Erfolg war durchschlagend! Nicht länger plagten mich die bisherigen Zweifel, alles wurde gut. Die Politiker, solchen wie man ihnen ständig im Fernsehen, im Rundfunk und in den Zeitungen begegnet, sie wirkten samt und sonders wieder so offen und ehrlich, wie ich das als Jugendlicher immer empfunden hatte. Was an ihren Aussagen vor der Behandlung noch heftigste Zweifel-Attacken auslöste, empfand ich – den Schüßler-Salzen sei Dank! – nun wieder als wunderbar beruhigende Wahrheit. Auf welche von Hass triefenden „Informationen“ ich zuvor noch hereingefallen war! Von wegen Einschränkung der Meinungsfreiheit, Zensur, Mundtotmachen der Opposition, Informationssiebung, Kommentare anstelle von Nachrichten – alles Lüge! Auch, dass die Journalisten, wenn sie an ihrem Job hängen, nur in dem Sinne schreiben und redeten, wie es den Politikern genehm ist, letztere nur die Wahlurnen im Blick hätten und sie den eigenen Kindern den Besuch bunter staatlicher Schulen „ersparten“. Jetzt war ich mir wieder im Klaren: Dahinter steckt die Fratze der Rassisten und Faschisten.  Zuletzt noch hatte ich geglaubt, das mit dem Diesel und den NOx-Grenzwerten wäre Blödsinn, weil da angebliche Fachleute, vor allem Pulmologen und so weiter …

Nein, nicht weiter: aus! 

MAGDEBURG KOMPAKT 8. Jg., 1. Februar-Ausgabe 2019. S. 13



Virtuell und physisch, digital und psychisch 

Uns Menschen geht es gut, so gut wie nie zuvor. Wird gern behauptet. Skeptiker sehen das anders. Vor allem um die Zukunft machen sie sich Sorgen. Und tatsächlich, die Jugend mag dafür zu wenig gerüstet sein. Das Leben, meint sie, müsse „Spaß“ machen, nicht zuletzt die Arbeit. „Easy“ soll alles sein. Auch die Schule und, wenn überhaupt studieren, das Studium. Lieber ein Leben in der digitalen Virtualität als eines in der kalten Realität. Geradezu geheiligt wird das Prinzip: Wer nimmt, wer gibt – alle sind gleich!

Nicht alle unter den jüngeren sehen das so, Gott (oder wem auch immer) sei Dank, aber eben viele. Natürlich denken dann die Alten an ihre eigene Jugend. An die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, an Hunger und Entbehrung, an all die Mühen und nicht zuletzt auch an die physischen Anstrengungen des tagtäglichen Lebens. Der Wiederaufbau dann. Ohne die Technik von heute wurden Ruinen abgerissen und Häuser neu erbaut. Oft mit bloßen Händen. Und – nota bene! – ohne Smartphone.

Im Osten Deutschlands sind die Anfangsjahre besonders krass gewesen. Während die Amerikaner bestrebt waren, den Westen Deutschlands zu wirtschaftlicher Stärke zu verhelfen, ließ die Sowjetunion in ihrer Besatzungszone rund 3.000 Betriebe demontieren. Bis 1953 büßte die damalige DDR allein dadurch rund 30 Prozent ihrer noch verbliebenen industriellen Kapazität ein, was in etwa einem Betrag zwischen 50 und 100 Milliarden Mark entsprach. Für die damaligen Verhältnisse eine riesige Summe. Obendrein die zwangsweise Übernahme der sozialistischen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung. All die Misshelligkeiten galt es durch Arbeit, durch – aus heutiger Sicht – unzumutbare Anstrengung zu bewältigen. Nach Urteil von Günter Grass waren es die siebzehn Millionen Ostdeutsche, denen, sozusagen stellvertretend, die Hauptlast des von allen Deutschen begonnenen und verlorenen Krieges aufgebürdet wurde.

Die Alten meckern

Und Spaß? Den gab es damals trotzdem. Spaß von der selbstverdienten Art war das, nicht der durch die Arbeit der Eltern oder der Großeltern ermöglichte. Und nun meckern die Alten an der heutigen Jugend herum. Besonders sticht ihnen ins Auge, was da so alles unter „Digitalisierung“ läuft. Nicht, dass sie, die Alten, etwas dagegen hätten, auf digitale Weise mal rasch einen Begriff nachzuschlagen. Lexika und überhaupt Sachbücher werden kaum noch gebraucht, das erkennen auch sie. Wer sich zudem das Englische zu eigen macht, verfügt dank Internet praktisch über das gesamte Weltwissen. Großartig ist das, keine Frage! Auch muss man kaum noch mit der Hand schreiben, die klapprige Schreibmaschine hat ausgedient, ebenso der Gang zum Briefkasten. Nein, all das läuft heutzutage digital.

Das momentane Non-plus-ultra digitaler Erlebensmöglichkeiten ist das 3D-Fernsehen. Die Welt wird uns hier so überzeugend vorgespiegelt, dass es fast schon zum Problem gereicht, wenn man deren Realität bezweifelt. Allein das Haptische fehlt da noch, der Geruch und der Geschmack. Doch sollen das Fühl- und Geruchs- und Geschmackskino im Anmarsch sein. Man stelle sich vor, wie sich, perfekt in Szene gesetzt, ein seit 70 Millionen Jahren ausgestorbener Saurier auf uns stürzt, seine Zähne in unseren Hals gräbt und zugleich eine bestialischen Geruch verbreitet. Eine Chemie, von der wir nicht wissen, wo sie bei uns ansetzt, ob in der Nase oder auf der Zunge. O tempore, o mores!, rief einst Cicero. Und so wird wohl auch in aller Zukunft zu rufen sein.

Momentan aber erklingt überall ein anderer Ruf, der nach Digitalisierung. Und das mit einem befremdenden Anspruch auf Fortschrittlichkeit, wiewohl man lenkungsseitig Jahre der Entwicklung – anders als in so manchem Entwicklungsland – verschlafen hat. Dabei können sich die wenigsten unter uns vorstellen, wie das eigentlich geht, das Digitale. Ein Finger (lat. digitus) reicht: Daumen hoch oder Daumen runter. Oder eben Eins oder Null. Allein die Reihenfolge entscheidet, üblicherweise die der Einsen und Nullen, was da zum Programm wird, ob am Ende eine Sinfonie oder ein Kriminalfilm herauskommen, ein Urlaubsbild, ein Liebesbrief oder die Weltnachrichten, eine Armbanduhr oder ein Autoteil. Praktisch alles, was der Mensch tut, können auch die Nullen und Einsen. Ebenso das, was er selbst lieber nicht tun möchte, oder nicht in der Lage ist zu tun. Mit Nullen und Einsen lassen sich Flugzeuge steuern, Drohnen und Rübenerntemaschinen. Auch Abwehr- und Angriffsraketen. „Alexa“ dirigiert auf Zuruf das Radio, das Gartentor, das Backwunder, die Spül- und die Waschmaschine. Mehr noch: Mit Einsen und Nullen lassen sich der Garten zu einem unkraut- und ungezieferfreien Blühwunder trimmen, und das Gras in dessen Mitte auf Englischer Rasen.

Tippen und Wischen

Was die Altvordern an der ganzen Digitalisierei stört, ist etwas anderes. Die Spielkonsolen und vor allem die ständige Tipperei und Wischerei auf den allgegenwärtigen Smartphones sind es. Der persönliche Kontakt und das persönliche Erleben gingen flöten, befürchtet man im Lager der Seniorinnen und Senioren. Und tatsächlich, das Musizieren und Singen und selbst der Sport werden am liebsten nur noch als Zuhörer und Zuschauer betrieben. Wenn früher einer einen Ball hatte, waren immer auch Freunde da, die ihn zum Spielen aufforderten. Heute besitzen zwar die meisten einen Ball, oft sogar einen sehr teuren, die wenigsten aber haben Freunde, die Lust und Zeit zum Spielen haben. Und wenn Freunde, dann am ehesten solche, mit denen man per Facebook oder WhatsApp etwas „teilt“. Wem schon liegt es heute noch, draußen im Wald oder auf der Heide mit Holzschwertern Räuber und Gendarm zu spielen?

Das eben war früher anders. Ob besser, können nur diejenigen beurteilen, die das eine wie das andere kennen. Nicht, dass die Alten allesamt am Konservatismus erstickten, von wegen früher, beim Kaiser, wäre alles besser gewesen. Umfragen haben ergeben, dass inzwischen 79 Prozent der 60- bis 69-jährigen online sind, und 45 Prozent der über 70-jährigen. O Gott Umfragen, ganz klar, Vorsicht! Und dennoch, so ganz falsch werden diese Zahlen nicht sein. Auch lassen sich diejenigen unter den Älteren, die ein Smartphon besitzen und mit ihm umgehen können, von ihrem Schatz nicht bedenkenlos vereinnahmen. Selbst jene nicht, die Social Media nutzen.

Digitale Demenz?

Da ist aber doch wohl das Problem mit der digitalen Demenz, wie sieht es damit aus? Der Ulmer Psychiater Manfred Spitzer machte den Begriff zum Titel eines seiner Bücher. Seitdem ist er aus der Medienpsychologie nicht mehr wegzudenken. Wieso Spitzer als Psychiater ausgerechnet von „Demenz“ spricht, bleibt im Dunkeln, da der Begriff allein für das Erlöschen vormals vorhandener geistiger Fähigkeiten zu verwenden ist. Sicherlich mag bei einem Kind oder einem Jugendlichen die vereinseitigende Hinwendung zum Virtuellen problematisch sein. Die Welt der direkten Erfahrung wird dann nicht genügend erschlossen, sowohl geistig als auch körperlich nicht. „Verblödung“ aber? Womöglich eher das Gegenteil. Denn wie bei Älteren nachgewiesen, wirkt sich die Betätigung am Computer bzw. Smartphone auf den Geist fördernd aus. Andererseits lässt sich zeigen, dass von einem Lesestoff weniger im Gedächtnis hängen bleibt, wenn er dem Bildschirm entnommen wird.

Bildschirmbilder sind nun mal von der flüchtigen Art. Bedrucktes Papier, wie das Ihnen, verehrte Leserin, verehrter Leser, in diesem Moment vorliegende, wird aller Wahrscheinlichkeit nach seinen Wert behalten. Eben, weil es nicht nur als Abglanz, sondern durch Blättern und Greifen auch physisch erfahrbar ist. 

 

 

MAGDEBURG KOMPAKT 8. Jg., Dezember-Ausgabe 2019. S. 18-19

 

Max Planck und Rogätz 

Was haben Max Planck und Rogätz miteinander zu tun? Das fragte ich mich, als ich dieser Tage in Rogätz herumspazierte und dort auf ein Schild stieß: Max-Planck-Straße. Wie das? Hier, in einem solchen Nest, eine Max-Planck-Straße?  

Tatsächlich, es gibt einen Zusammenhang. Seit kurzem weiß ich Bescheid. Und bekanntlich regt kaum etwas so stark das Mitteilungsbedürfnis an wie das, was man gerade erst erfahren hat.  

Aber zurück zu Rogätz, wie es mir begegnete. Die Langeweile trieb mich um, raus musste ich, raus aus Magdeburg, raus zum Luftholen. Elbabwärts in Richtung Tangerhütte war die Idee, und Rogätz lag an der Strecke. Das Dorf wirkte wie alle anderen Ortschaften hier, so, als ob sie sich in sich selbst zurückgezogen hätten. Kein Mensch war zu sehen, kaum Grün, nichts blühte, kein Vogel außer Krähen und ein paar verloren wirkende Sperlinge. Feucht und kalt war es, der Himmel grau und der Wind unentschlossen, ob er nun wehen sollte oder nicht. Derweil ich den kopfsteingepflasterten Weg zum Elbufer hinunterstakte, rätselte es wieder in meinem Kopf. Eine Max-Planck-Straße in Rogätz! Ist er, der große deutsche Physiker, womöglich hier geboren worden? Planck, der große Rogätzer? – Wohl kaum, denn dann wäre öfter von ihm zu hören.  

Von der Bedeutung her wird Planck mit Albert Einstein in eine Reihe gestellt: Max Planck als Begründer der Quantenphysik, 1918 Nobelpreis für Physik. Schon damals war klargeworden, dass sich die Plancksche Quantentheorie nicht mit der Einsteinschen Relativitätstheorie verträgt, und noch heute wird nach einem Weg zur Vereinheitlichung der beiden Theorien gesucht. Auch hatten die Gelehrten miteinander persönliche Probleme. Eine stattliche Anzahl von Begriffen geht auf Planck zurück: das Plancksche Strahlungsgesetz, das Plancksche Wirkungsquantum, die Planck-Zeit, die Planck-Länge, die Planck-Masse. Zu denken ist natürlich auch an die Max-Planck-Gesellschaft. In den Sechzigern des vorigen Jahrhunderts aus der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft hervorgegangen, gehören zu ihr heute 84 große Forschungseinrichtungen, die über ganz Deutschland verteilt sind. In Magdeburg gibt es auch eine: das Max-Planck-Institut für Dynamik komplexer technischer Systeme. Max Planck, so bedeutsam er ist, wieso aber, fragte ich mich, wurde eine der wenigen Straßen von Rogätz ausgerechnet nach ihm benannt?  

Am Ufer wartete die Fähre, um Autos und Menschen auf die Schartauer Elbseite zu bringen. Kaum jemand wollte mit. Die Mauer am Hochufer hatte als Betätigungsfeld für Schmierfinken herhalten müssen. „FCM“ prangte da in übermannshohen Lettern, verkrakelt mit Botschaften, die womöglich gar keine sind. Oder von geheimer Art. Eine Schar Enten dümpelte in Ufernähe. Stockenten? Nicht möglich, zu klein dafür. Auch kamen von dort helle „Wiiuh“-Laute. Oder eher „Wu-wiiuh“. Ein Blick durchs Fernglas bestätigte: Pfeifenten sind’s – schwarzer Schwanz, brauner Kopf, blonder Scheitelstreif, weißer Fleck an der Körperseite. Im Winter recht häufig zwar, die Pfeifenten, aber eben etwas anderes als die üblichen Stockenten. Während ich so schaute, tauchte es aus meinem Unterbewusstsein herauf: Du hast doch dein Handy dabei, da google doch mal!  

„Planck“ tippte ich ein, dazu „Rogätz“. Von wegen keine Netzanbindung in der Provinz, gerade mal ein paar Sekunden, und ein Beitrag aus dem Jahre 2008 bot sich an: „Mit Max Planck im Exil“ (https://www.welt.de/welt_print/article2475474/Mit-Max-Planck-im-Exil.html). Hier in Rogätz, stand da zu lesen, habe Max Planck anderthalb Jahre lang gelebt. Sein Haus in Berlin-Grunewald wäre 1943 im Bombenkrieg beschädigt worden, und auf Drängen seines Sohnes Erwin habe Planck eine Einladung des befreundeten Großindustriellen Dr. Still befolgt. Dieser, aus Recklinghausen stammend, ein Spezialist für Koksöfen, hatte das Rogätzer Rittergut ausbauen lassen. Und hier, im Herrenhaus gleich neben dem wuchtigen Klutturm, bot er Max Planck mit Ehefrau Marga zu wohnen an.  

Der Artikel ist gut geschrieben. Ich musste ihn stehenden Fußes lesen. "Meine Zeit ist vollständig ausgefüllt mit Schreiben, Lesen, Spazierengehen und allerhand Arbeiten", habe der mittlerweile 85jährige Gelehrte an seinen Schüler und Vertrauten Max von Laue (ebenfalls Nobelpreisträger) geschrieben. Er lese mit viel Freude das Buch "Raum - Zeit - Materie" des Mathematikers Hermann Weyl. Natürlich war da niemand, mit dem Planck sich hätte darüber austauschen können. Allein dem Briefwechsel mit Kollegen und Freunden blieb das vorbehalten. Hier auch, in Rogätz, erhielt Planck die Nachricht, dass sein Sohn Erwin als Mitverschwörer des 20. Juli 1944 vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt worden war. In seiner Verzweiflung hatte sich der Vater an Hitler gewandt: "Als Dank des deutschen Volkes für meine Lebensarbeit, die ein unvergänglicher geistiger Besitz Deutschlands geworden ist, erbitte ich das Leben meines Sohnes." Hitler antwortete nicht, und der Sohn wurde hingerichtet.  

Eine kleine Ausstellung im ehemaligen Torhaus, ein Straßenname und eine Bronzetafel am früheren Herrenhaus erinnern heute an die Plancks, die hier bis 1945 Unterschlupf erhalten hatten. Das Herrenhaus wurde längst in einen Kindergarten umgewandelt. Einige Mütter und Väter, von der Arbeit kommend, holten gerade ihre Sprösslinge ab. Sie befragte ich nach dem berühmten Vorbewohner des Hauses. Achselzucken oder ein leicht peinlich berührtes „Weiß-nicht“. Ein Junge mit Ranzen, etwa vierzehn- oder fünfzehnjährig, schlenderte vorbei. Ihm bedeutete ich, doch mal kurz die Stöpsel aus seinen Ohren herauszunehmen, damit ich ihm eine Frage stellen könne. Das tat er. Und: Nein, von einem Planck hatte er nichts gehört. Nichts? Kann denn das sein: nichts? Auch in der Schule nichts, fragte ich ihn nun in höherer Stimmlage und mit schief verzogenem Mund. Er gehe hier nicht zur Schule, sondern in Wolmirstedt, war die Antwort.  

Ich schaute hinein in das ehemalige Herrenhaus. Eine Erzieherin teilte mir freundlich mit, jawohl, sie hätte da was gehört. Richtig, die Bronzetafel, die da am Haus, genau. Aber ich sollte besser mal ein paar alte Dorfbewohner befragen. Jawohl, die vielleicht, die würden eventuell etwas wissen.  

Retter des örtlichen Ansehens war ein jüngerer Mann. Mit Hund kam er daher, freundliches, forsches Auftreten. Er wusste Bescheid. Auch, dass es da eine kleine Heimatgruppe gäbe, die sich um Plancks Nachlass kümmert und um all das, was heute noch an ihn erinnert. Oder eben erinnern sollte. Gleich darauf winkte er eine ältere Dame heran, deren Vater, wie sie dann nicht ohne Stolz erzählte, Max Planck des Öfteren über den Weg gelaufen wäre. Recht unscheinbar sei er aufgetreten, dieser alte Mann, von dem damals die Wenigsten gewusst hätten, wie berühmt er sei. Ja, fügte sie mit einem schmalen Lächeln hinzu, und das bis zum heutigen Tage.  

Auf der Heimfahrt musste ich immerzu an Max Planck denken. Und an Rogätz. Der Ort ist alles andere als kurzweilig, das Gegenteil von kurzweilig eher, und trotzdem …