****       Sapere aude!        ****        
                 
Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! – forderte der Philosoph Immanuel Kant vor mehr als 200 Jahren. Er hatte etwas viel von uns verlangt, aber ein wenig sollten wir ihm schon entgegenkommen. Jeder auf seine Weise. Hier die meine.
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MAGDEBURG KOMPAKT 7. Jg., 1. Dezember-Ausgabe 2018


Die äußere Welt und unsere innere

Was wir „Welt“ nennen, reicht vom unvorstellbar Großen, von unserem Universum, bis hin zum unvorstellbar Kleinen, den Atomen, deren Teilchen und dem, woraus diese bestehen. Irgendwo dazwischen, zwischen der ganz großen und der ganz kleinen Welt, ist jene, die wir verstehen. Einigermaßen wenigstens. Zumindest glauben wir das. Eine besonders innige Beziehung haben wir zur Welt unseres eigenen Geistes. Oder ist das nur eine Illusion?

Thomas Wischnewski von MAGDEBURG KOMPAKT befragte den Hirnforscher zu Aspekten seines Vortrages:

Wer „Welt“ hört, glaubt sofort zu wissen, was das ist. Gerät man bei der Frage, was unter „Welt“ zu verstehen ist, nicht unversehens in Erklärungsnöte?

Professor Dr. Gerald Wolf: Jedem von uns geht das so. Zunächst denkt man vielleicht an die ganz große Welt, an das Weltall, das Universum. Oder an die Erde, die „Welt“kugel. Schnell aber fallen einem die vielen anderen „Welten“ ein, die Welt der Politik, die Finanzwelt, die Welt der Kultur, der Wissenschaft und der Technik. In jedem Tropfen Wasser einer Blumenvase leben ganze Welten winziger Organismen, jede einzelne Zelle unseres Körpers besteht aus einer wohlgeordneten Welt von Molekülen. Unter unserer Schädeldecke ist eine ganz besondere Welt zuhause, eine höchst private, nämlich die unseres Geistes, die unserer Seele.

Wie ließe sich all das, was wir unter „Welt“ zu verstehen haben, definieren?

Die Philosophen haben darüber oft und lange nachgedacht. Am überzeugendsten finde ich zu sagen, „Welt“ ist das, was ist. Zwar klingt das trivial, ist es aber nicht. Denn selbst damit hat man seine Schwierigkeiten. Was zum Beispiel ist mit etwas nur Gedachtem, etwas nur Vorgestelltem, etwas nur Gefühltem? Denken wir an eine religiöse Gestalt oder an eine Märchenfigur, an einen Romanhelden, an ein Traumgeschehen. Ist das jeweils einfach nichts, nur weil es nicht der Wirklichkeit entspricht, dem was „ist“? Oder ist es doch etwas, weil es einer hirneigenen Wirklichkeit entspringt? Auch ein Computer zaubert fortlaufend virtuelle Gegebenheiten: Bilder, Videoszenen, Übersetzungen von der einen in eine andere Sprache, mathematische Lösungen. Ist all das im obigen Sinne vielleicht doch etwas, was „ist“?

Noch komplizierter wird es ja, wenn man an Welten denkt, die für unseren Verstand nicht fassbar sind. Zum Beispiel die Quantenwelt oder der Kosmos in seiner Unendlichkeit oder etwaige Paralleluniversen.

Diese Wirklichkeiten sind von unserer Denkwelt weit entfernt. Unsere Vorstellungsmöglichkeiten umfassen gerade einmal den sogenannten Mesokosmos. Er reicht von Milligramm bis hin zu hunderten Tonnen, von tausendstel Sekunden bis zu mehreren hundert Jahren, von hundertstel Millimetern bis zu hunderten und tausenden Kilometern. Alles was darunter oder darüber liegt, ist nicht wirklich vorstellbar. Bestenfalls in Form von Modellen. Ein Atom zum Beispiel wird, zu unserem Vorstellungsvermögen passend, gern als ein Häufchen von Kügelchen gedacht – dem Atomkern mit Protonen und Neutronen –, das seinerseits umgeben ist von sehr kleinen Kügelchen, den Elektronen, die auf vorgezeichneten Bahnen den Atomkern umkreisen. In Wirklichkeit aber ist diese Welt des Allerkleinsten eine ganz andere. Anstelle von Kügelchen sind da nur Kraftfelder. Körniges gibt es in diesen Bereichen nicht. Nur in unserer Vorstellung.

Können Quantenphysiker oder Mathematiker, die ja solche Welten beschreiben, sich diese nicht wirklich vorstellen?

So großartig die Leistungen ihres Intellekts auch sein mögen, nein, das können sie nicht! Unser Gehirn ist für solche Art von Wirklichkeit nicht geschaffen. Maßstab für das, was unser Gehirn zu leisten vermag, ist die Welt, in der Homo sapiens während seines stammesgeschichtlichen Werdens nach Art seiner tagtäglichen Praxis zu wirken hatte. Umso erstaunlicher ist, wie weit sich diese Art von Begrenztheit vom Prinzip her ausdehnen lässt, bis hinein in die Welt der Wissenschaft und Technik und der des Geistes. Aber eben in Grenzen.

Sie meinen also, obwohl Mathematiker oder Quantenphysiker in der Welt ihrer Formeln zuhause sind, können sie keine wirkliche Vorstellung von dieser Welt haben?

So ist es. Sie sind eben auch nur Menschen. Ein Beispiel: Wir alle rechnen mit der Zeit und richten unser Leben darauf ein, obwohl niemand so recht begreifen kann, was das eigentlich ist, die Zeit. Geschweige denn, was man sich unter der Zeit im Quadrat vorzustellen hat – z. B. eine Sekunde (s) im Quadrat (s EXP 2). Allein die mathematische Ableitung dieses Ausdrucks ist es, die wir Menschen uns vorstellen können. Was Geschwindigkeit ist, gerechnet in Metern pro Sekunde (m/s), mag jedem durchaus geläufig sein. Ebenso deren Veränderung beim Abbremsen oder Beschleunigen. Anders aber, wenn es gilt, einen solchen Vorgang zu berechnen. Die Geschwindigkeit ändert sich dann von Sekunde zu Sekunde, und heraus kommt formelmäßig: m/s pro s = m/s multipliziert mit 1/s = m/s EXP2. Ohne weiteres also ist zu begreifen, wie es rechnerisch zu s EXP2 kommt, nicht aber, was die Zeit im Quadrat eigentlich ist.

Können Sie sich als Hirnforscher vorstellen, was im Gehirn so alles passiert, wenn es derartige Überlegungen anstellt?

Nein. Niemand kann das. Unser Gehirn ist gewissermaßen viel zu klein, um seine Größe jemals begreifen zu können. Ja, es scheint noch nicht einmal möglich, einen Verbund aus fünf oder zehn oder auch nur aus drei konkreten Nervenzellen in seiner Arbeitsweise so zu kalkulieren, dass sich jemals präzise vorhersagen ließe, was hinten rauskommt, wenn vorn eine bestimmte Information hineingesteckt wird. Tatsächlich aber besteht unser Gehirn aus etwa 100 Milliarden solcher Zellen mit jeweils hunderten und tausenden von informationellen Kontakten.

Andererseits hat die Hirnforschung hoch Erstaunliches an prinzipiellen Erkenntnissen zutage gefördert.

Durchaus. Sie gestatten im Groben wie auch in so manchen winzigen Details eine Vorstellung davon, wie das Gehirn arbeitet. Jedoch sind wir nach dem heutigen Erkenntnisstand weit davon entfernt zu sagen, wie unsere innere Welt, die des Geistes, auf der Basis von Nervenzellverbänden beschaffen ist, die des Geistes, die unserer Seele, wie der Klang einer Orgel, wie das Gesicht unseres Partners, wie das, was wir unter Freude verstehen.

Zurück zur Ausgangsfrage, was „Welt“ eigentlich ist: Das, was sich an Wissen über die Welt in der Menschheit angehäuft hat, ist trotz der Grenzen unserer Vorstellungsmöglichkeiten doch geradezu ungeheuerlich viel. Anders, wenn es sich um unsere innere Welt handelt. Da glaubt wohl jeder, genau zu wissen, was gemeint ist, von vom eigenen „Geist“ die Rede ist.

Sobald man aber zu erklären versucht, was es damit auf sich hat, wird es schwierig. Das Wort „Geist“ leitet sich aus dem Indogermanischen ab („gheis-“). Hier hat es die Bedeutung von erschaudern oder aufgebracht sein, von ergriffen oder entsetzt sein, sich fürchten. Der religiöse Bezug ist ganz deutlich. Wie überhaupt jede Religion auf das Prinzip des Geistigen setzt. Die Philosophen der Antike waren es, die das religiös Geistige ins Weltliche übertragen haben. Seitdem gibt es einen bis heute andauernden Diskurs über das Verhältnis des Leiblichen (dem Materiellen) zu dem des Geistigen (dem Immateriellen), kurz: das Leib-Seele-Problem, auch Gehirn-Geist-Problem genannt. Die Hirnforschung macht mit jedem neuen Schritt deutlicher, wie sich das Geistige – die Welt des Fühlens und Wollens und des Denkens – aus dem Hirnorganischen heraus erklären mag. Ohne es bis heute wirklich erklären zu können.











































MAGDEBURG KOMPAKT 7. Jg., 2. November-Ausgabe 2018

Die Hüter unserer Moral

Wer ist für die Moral zuständig? Die Kirche natürlich, wer sonst! Denn, so die landläufige Auffassung, von Gott (oder wem auch immer) stammen die Zehn Gebote, der Mensch Moses war ihr Überbringer, und die Kirchen, die von gestern wie die von heute, sind deren Lehrer und Hüter. Tatsächlich gibt es hierzulande wohl kaum einen Ethikrat ohne Kirchenvertreter. Ex professio, von Amts wegen gewissermaßen, gehören sie dazu. Die christliche Ethik, so die Erklärung, bilde nun mal einen Grundpfeiler unserer Kultur. „Wenn dich einer auf die linke Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin“, habe Jesus gesagt (Matthäus 5,39). Als er ans Kreuz genagelt wurde, soll er gebetet haben: „Vater vergib ihnen, denn sie wiss  Nicht Rache also, sondern Versöhnung! Und wirklich, die Welt sähe anders aus, würde dies zur Maxime der Allgemeinheit.

Allerdings gibt es nicht wenige Menschen, die den Kirchen die Moralwächterrolle absprechen. Aufs Neue beflügelt durch jüngste Skandale. Papst Franziskus hat die aus seiner Kirche bekanntgewordenen Missbrauchsfälle als "monströs" bezeichnet. Der Zölibat der Priester und der damit einhergehende sexuelle Frust mag das seine dazugeliefert haben, und der ist kaum weniger beklagenswert. Doch auch die Evangelische Kirche muss in ihren Reihen sexuelle Gewalt erkennen. Als ob das alles nicht Belastung genug wäre, nun auch noch das päpstliche Edikt, gewollte Schwangerschaftsabbrüche seien eine Art von „Auftragsmord“. Abtreibende Ärzte und deren Teams werden damit zu Mördern gestempelt!

Leichtfertigkeiten im Umgang mit werdendem menschlichem Leben mag es geben, und diese sollten nicht unnötig leichtgemacht werden. Aber eine generalisierende moralische Verurteilung, die Fälle von seelischer Not oder sich pränatal ankündigender Gebrechen gleichermaßen mit Bann bedenken? Und das durch einen Menschen, dem seine Organisation in sittlichen Fragen Unfehlbarkeit bescheinigt!

Die Kirche im Dorf lassen!

Wie geht das alles zusammen mit der christlichen Ethik und dem Anspruch, Hüter der Moral zu sein? Gar nicht. Das genau ist den Kirchen „dank“ der neuerlichen Skandale bewusst geworden. Nicht länger vertuschen wollen sie Missbrauchsfälle oder weitere Aufräumungskampagnen abwarten, sondern auch selbst recherchieren, um Verbrechen von sich aus ahnden zu können. Ansonsten, so ist zu lesen, wüchse die Entfremdung der Menschen von ihrer Kirche, was deren Fortexistenz bedrohe. Kirchenbauten am Ende nur noch als Museen? Selbst die meisten der Atheisten wollen das nicht. Wodurch sonst, wenn nicht durch die christliche Ethik, würde die öffentliche Moral institutionalisiert? 

Allerdings eben gründet der Anspruch der Kirchen, Hüter der Moral zu sein, ohnehin auf sehr weichem Boden. Jesus hatte dem Neuen Testament zufolge auch andere als begütigende Seiten. Er sei nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert, findet man in Matthäus 10.34. Im Alten Testament gar, da wimmelt es von göttlich verordneten Grausamkeiten, die unserem heutigen Ethikverständnis völlig zuwiderlaufen. Allein schon das Modell der Sintflut. Gewissermaßen per Handstreich ertränkte Gott alle die damals lebenden Menschen, weil sie, die er einst selbst erschaffen hatte, seinen Erwartungen nicht genügten: Kinder, Frauen, Männer; ausgenommen Noah und seine Familie. Oder denken wir an Moses. Er kam vom Berg Sinai, hatte gerade erst von Gott die Zehn Gebote empfangen, unter ihnen das Tötungsverbot, und ließ 3 000 seiner Landsleute erschlagen. Warum? Weil er sie dabei antraf, wie sie ums Goldene Kalb tanzten.

Oder man denke an die Kreuzzüge und die dabei verübten Gräuel, an die Hexen- und Ketzerprozesse, an die kirchlich gebilligten Verbrechen gegen indigene Bevölkerungen und vielleicht auch daran, dass im Kirchenstaat die Todesstrafe, wiewohl heute abgelehnt, noch am Ende des 19. Jahrhunderts praktiziert wurde. Kriege, ausgetragen von sich christlich dünkenden Gruppierungen, konnten immer auf die Unterstützung der Kirchen zählen. Ebenso die christliche Gegenseite. Und wie befremdlich ist die Geduld, mit der seitens der Christenheit die Verfolgung ihrer Glaubensschwestern und -brüder in muslimisch geprägten Ländern hingenommen wird. Toleranz eben. Oder?

Eine katholische Pakistani – Asia Bibi, verheiratet, 5 Kinder – wurde vor 8 Jahren wegen Blasphemie zum Tode verurteilt. Ihr „Vergehen“ war aus nicht-muslimischer Sicht bedeutungslos. Nachdem das Oberste Gericht Pakistans das Todesurteil gegen die Christin vor kurzem aufgehoben hatte, keimte zunächst Hoffnung auf. Doch fordern Moslems in zunehmender Zahl und laut schreiend Bibis Exekution. Vor den landesweit organisierten Protesten musste dieser Tage die Regierung kapitulieren. Beide Seiten einigten sich darauf, dass gegen den Freispruch Berufung eingelegt werden könne und Bibi nicht ausreisen dürfe. Indes, der Mob bedroht nicht nur sie zu lynchen, sondern auch die Richter und sonstige Unterstützer.

In unseren Medien wie auch seitens der konventionellen Parteien wird die Angelegenheit entweder nicht oder eher als Nebensache behandelt. Oder gibt es doch einen Aufschrei, einen leisen? Immer wieder hört man, der Islam sei eine Religion des Friedens. Werden die in Deutschland subsidiär schutzberechtigten und in jeder Hinsicht großzügig unterstützten Moslems zu ihrer Haltung befragt? Planen sie hier bei uns Gegendemonstrationen, um das Leben Asia Bibis zu retten? Um zugleich deutlich zu machen, wie sehr sie die in unserem Land grundgesetzlich geschützte Religionsfreiheit schätzen? Wie verhalten sich die Kirchen dazu, wie die Politik, wie all die humanistischen Organisationen, machen die mit? Wenn ja, warum erfahren wir nichts davon? Wenn nein, warum?

Christen oder Nicht-Christen, das ist hier die Frage

Andererseits wäre es grob ungerecht, wolle man die Bedeutung der christlichen Ethik mit solcherlei Überlegungen im Grundsatz bezweifeln. Überzeugte Christen haben ihre moralische Integrität millionenfach belegt und tun dies tagtäglich aufs Neue. Nicht nur durch ihr diakonisches Engagement, sondern auch ihrer Wohltätigkeit einzelnen Bedürftigen wegen. Dabei mag die christliche Ethik eine wirkungsvolle Stütze sein. Muss aber nicht. Denn: Eine bindende Antwort auf die Frage nach der moralischen Überlegenheit von Christen gegenüber Nichtgläubigen steht noch immer aus. Gewiss sind Menschen nicht die besseren Menschen, nur weil sie sich Christen nennen oder sich aus welchen Gründen auch immer moralisch überlegen fühlen. Moralisch höher als andere zu stehen, muss durch Haltung verdient werden, und durch Verhalten.

Um ihre Glaubhaftigkeit nicht aufs Neue zu gefährden, sind die Kirchen gut beraten, mit der gebotenen Strenge weitere Missbrauchsfälle auszuschließen. Auch sollten sie weder materielle Vergünstigungen in den Vordergrund ihrer Arbeit stellen noch sich von Parteien oder, eher schlimmer, von tagespolitischen Haltungen vereinnahmen lassen. Zum Beispiel, indem die Kirchenobrigkeit einer 2 000 Jahre währenden Populismus-Praxis folgt, um sich mit erzkonservativen Vertretern des Islam an einen Tisch zu setzen, gleichzeitig aber die hierzulande wirkungsvollste Opposition, die AfD, zu verteufeln.

Wie, muss man sich da fragen, steht es denn mit der Moral all jener, denen das Christentum ferne ist, überhaupt jedwede Religion? Der Philosoph Immanuel Kant deutet mit seinem berühmt gewordenen Ausspruch auf einen inneren Wächter hin:

"Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir."

Über den bestirnten Himmel wissen wir mittlerweile viel mehr, noch immer aber fast nichts über:

Das moralische Gesetz in uns

Doch kennt es jeder. Wer nachts auf der Landstraße die Scheinwerfer seines Autos immer wieder brav abblendet, sobald ein anderes Auto entgegenkommt, dann bestimmt nicht, weil er befürchtet, die Polizei könnte dies überwachen. Nein, wir machen das aus einer inneren Haltung heraus. Denn jeder weiß, wie unangenehm es ist, geblendet zu werden. Nicht auszudenken, wenn der Entgegenkommende dadurch an den nächsten Straßenbaum geriete. Wir würden dann von schlimmster Reue gebeutelt.

Es handelt sich hierbei in der Tat um eine Art von innerem Moralwächter. Missachten wir ihn, entstehen strafende Gefühle. Nicht von ungefähr spricht man von Gewissens-Bissen, von Skrupeln (lat. scrupulus: „spitzes Steinchen“ – im Schuh). Solche inneren Strafmechanismen sind für unser Zusammenleben von größter Bedeutung. Ebenso verhält es sich im Positiven. Wenn wir etwas Gutes tun, ein weinendes Kind trösten, jemandem die helfende Hand entgegenstrecken, der sie dringend braucht, dann fühlen wir uns selbst gut. Solcherart strafende wie eben auch belohnende Gefühle bewirken, dass die Regeln des Miteinanders, sofern sie tief innerlich als notwendig, gut und richtig akzeptiert sind, eingehalten werden.

Homo sapiens ist nun mal ein durch und durch soziales Wesen, auch von Natur aus. Das gilt genauso für unsere tierische Verwandtschaft. Sie ist ausnahmslos sozial organisiert, und das ohne die Gemeinschaft und deren Regelwerk als zweckmäßig begreifen zu können, als vernünftig. Gesetze quasi-moralischer Art sind es, die das Miteinander gestalten. Sie liegen den Tieren gewissermaßen im Blut. Uns ebenfalls.

Die Frage nun, wie kommen solche Verhaltensregeln in die Tiere hinein, wie in uns? Wie bei so vielen anderen Hirneigenschaften sind es Gene, die die Verschaltung von Nervenzellen im Gehirn bereits vor aller Erfahrung diktieren. In Reifungsprozessen auch noch während der Kindheit. Sie bewirken ‒ unter anderem ‒ die Programmierung wichtiger Verhaltensleistungen und Verhaltenstendenzen. Allerdings weiß kein Mensch, wie diese Programme auf der Ebene der Nervenzellen und ihrer Verbünde aussehen, ebenso nicht, wie sie im Einzelnen zustande kommen. Nur eben, dass sie unter anderem das ermöglichen, was wir aus den Tiefen unseres Inneren als Erlebnisqualitäten erfahren, Qualia genannt. Dazu gehören die Sinnesgefühle wie auch alle Gefühle der seelischen Art.

Er-ziehung und Ver-ziehung

Qualia sind höchst privat, mithin weder lehr- noch erlernbar. Doch ihre Auslösbarkeit ist es, ihre Intensität und Dauerhaftigkeit. Hier, genau hier, greifen die Möglichkeiten für eine moralische Er-ziehung und Ver-ziehung. Chance also und Risiko zugleich.

Hier auch befinden die Stellschrauben, an denen sie alle drehen, zumindest zu drehen versuchen: Mutter, Vater und Geschwister, Lehrer, Freunde und Feinde, Chefs, Politiker und Medien, Künstler und Wissenschaftler, all die (gegenwärtig noch immer) tausenden Religionen mit ihren jeweiligen Moralpaketen, Gurus, Volkspädagogen und Demagogen, Psychotherapeuten und die Ratgeber in Kursen und Büchern. Die Einen eher gut, die Anderen eher schlecht, die Einen eher stark, die Andern eher schwach. Idole gibt es zuhauf, das Ideal aber fehlt: die gütige, starke und unfehlbar kluge Oberhand.



MAGDEBURG KOMPAKT 7. Jg., 2. Oktober-Ausgabe 2018



Gritty besser noch als brainy?

 

Mag sein, dass die Idee mit dem Grit nur eine vorübergehende Leuchterscheinung am eher grauen Himmel der Pädagogik ist. Grit? Im Englischen bedeutet „Grit“ so viel wie Kies, Splitt oder Streusand, aber auch Schneid, Mumm, Charakterstärke, Beharrungsvermögen. Und genau das seien die Eigenschaften, die – mehr noch als Intelligenz, als „brainy“ sein – für den Erfolg im Lebenden den Ausschlag geben. Vor allem für den im Beruf. Behauptet Angela Duckworth, Professorin für Psychologie an der Universität von Pennsylvania, USA. Sie stützt sich dabei auf eine Reihe eigener Studien. Als Mädchen wäre ihr vorgehalten worden, dass es ihr an Genie fehle, an Talent. „Heute weiß ich“, sagt Angela Duckworth, „dass man mit Ausdauer und Leidenschaft mehr erreichen kann als durch Talent.“

Das mag für viele Trost und zugleich Ansporn sein. Ansporn für den Ansporn gewissermaßen. Die Bücher, mit denen A. Duckworth ihre Ansichten in die Öffentlichkeit trug, waren denn auch rasch zu Bestsellern geworden (dt.: GRIT - Die neue Formel zum Erfolg: Mit Begeisterung und Ausdauer ans Ziel. Bertelsmann 2017). Eigentlich erstaunlich, denn wirklich neu ist das mit der Motivation und der Motivationsstärke nicht.

Allerdings mögen diese in ihrer Bedeutung für den Schul- und Berufserfolg, ja, für den Erfolg im Leben, eher unter- als überschätzt werden. Duckworth‘ Mahnruf, Grit zu beweisen, richtet sich nicht nur an diejenigen, denen ein Tritt vors äußere oder innere Schienbein nottut. Er wendet sich auch an unsere Bildungs- und Haushaltpolitiker, deren Anstrengungen ins Leere laufen, wenn sie meinen, dass der Erfolg in der Bildung ganz wesentlich mit äußeren Voraussetzungen zu tun habe, mit dem Geld für Schulen und für zusätzliche Lehrer, mit Unterrichtsformen, mit Digitalisierung, mit Integrationsmodellen. Nein, so Duckworth‘, ganz wesentlich kommt es auf jeden selbst an.

„Tugend will ermuntert sein“

Lehrer mögen sich mit ihrem Wissensangebot halb verrenken, was nützt das, wenn ihre Schüler vor sich hindösen oder sich als Vertreter der Null-Bock-Generation in den Schulbänken spreizen? Was schon soll ihnen groß passieren? Na was schon? So richtig angestrengt haben sich die Alten, damals nach dem Krieg, als es galt, die Trümmer wegzuräumen, Deutschland wiederaufzubauen und „Made in Germany“ erneut zu einem guten Klang zu verhelfen. Aber heute – uns geht’s doch gut!

Dass es uns nicht mehr sehr lange gut gehen wird, ahnen die meisten, zumindest die Älteren unter uns. Sie wissen, dass Wohlstand nicht von Nichts kommt, sondern dass dafür gearbeitet werden muss. Hart gearbeitet. Nicht Mittelmaß, nein, Höchstmaß hat die Richtschnur zu sein. Wenn nicht, dann werden es uns die Anderen in der Welt zeigen. Vor allem die im Fernen Osten. Von so manchen Eltern heißt es dort, sie würden der Schulnoten wegen vor einer regelrechten Dressur ihrer Kinder nicht zurückschrecken. Höchstmaß als Richtschnur. „Tugend will ermuntert sein“, empfahl schon Wilhelm Busch. Für diejenigen, die das mit der Tugend nicht so richtig begreifen konnten oder wollten, gab es damals den Rohrstock. Der Rohrstock hat ausgedient, gut so, aber eben auch der direkte Leistungsvergleich.

Der Autor denkt an die Listen in den Universitätsinstituten und -kliniken, mit denen seinerzeit die Klausurergebnisse veröffentlicht wurden. Am Schwarzen Brett war zu ersehen, ob und wie man es geschafft hatte. Und wie die Anderen. Ziemlich unangenehm, wenn die eigene Arbeit mit einer „Drei“ quittiert wurde, die der Kommilitonin aber mit einer Eins. Jeder weiß, wenn er um die Naturwissenschaften herum nicht gerade einen Bogen geschlagen hat:

Druck macht aus Kohle Diamanten

Oder damals, in der Grundschule: Ich, der Autor, musste nach vorn, um mir die Mathe-Arbeit abzuholen. „Eine Fünf!“, hieß es aus dem Mund der Pädagogin. Gespitzt war der, und auch ihre Nase wirkte spitzer noch als sonst. „Du hast bei deinem Nachbarn zwar richtig abgeschrieben“, ätzte sie vor der ganzen Klasse, „aber es war die falsche Aufgabe!“ In meine Bankreihe zurückschleichend, traf mich der Blick der Mitschülerin, in die ich heimlich verknallt war. Drei Wochen später ist dieser Blick ein ganz anderer gewesen: Mein aufs Äußerste angestachelter Fleiß war durch eine Eins vergoldet worden!

Heute ist so was „dank“ Datenschutz und Persönlichkeitsrechten vorbei. Für die Faulpelze eine feine Sache. Eigenartig, im Leistungssport spielt die Anonymisierung keine Rolle. Aber vielleicht kommen wir eines Tages auch noch dahin. Allerdings dann nicht mehr aufs Siegertreppchen.

Edler als der Antrieb durch den Ehrgeiz oder durch die Versagensangst ist das Interesse am Stoff. Gesteigert noch, wenn er zur Leidenschaft wird, im Extremfall zur Besessenheit. So wichtig diese Eigenschaften für die weitere Entwicklung auch sind, bloß wie sie benoten? Bekanntlich kommen diejenigen Schüler am besten weg, die sich unterschiedslos um alle Fächer bemühen. Ein Zensurendurchschnitt von 1,2 und besser – früher ein Traumziel – ist heute keine Seltenheit mehr. Das ist zum einen ein Anzeichen für ein gesunkenes Anforderungsniveau, aber noch immer auch eines für die Ausdauer und den Ehrgeiz der Erfolgreichen.

Doch, so fragt man sich, sind die Einser im späteren Leben ebenfalls die besonders Erfolgreichen? Die größten Entdecker, Erfinder und Firmengründer sollen nicht unbedingt die in jeder Hinsicht besten Schüler gewesen sein, heißt es. Und schon gar nicht im Falle von herausragenden Dichtern, Schriftstellern, Musikern und sonstigen Künstlern. Sind die ganz Großen vielleicht eher diejenigen, die sich früh schon für das Eine und gegen das Andere entscheiden?

Überall verlangt Erfolg neben einer entsprechenden Begabung Ausdauer, sich nicht von Misserfolgen entmutigen zu lassen, „Grit“ eben. Man spricht von der 10 000-Stunden-Regel. Sie besagt, dass erst mit einem Einsatz von etwa 10 000 Stunden an Training, Übung und Studium wahre Meisterschaft zu erwarten ist. Die Spitzenklasse erreicht nur, wer dafür eine Leidenschaft entwickelt, zumindest einen ordentlichen Schuss Begeisterung mitbringt. „Grit“ eben.

Begeisterung verschenken

Dass so etwas geht, beweisen die Lehrer, die ihre Schüler für ihr jeweiliges Fach so entflammen, dass späterhin die Hälfte der Klasse in eine einschlägige Studienrichtung drängt. Beides verlangt Fähigkeiten, zum einen, jemanden für etwas begeistern zu können, und zum anderen, begeisterungsfähig zu sein. Persönlichkeitseigenschaften sind das, die, wie andere solche individuellen Verhaltensdispositionen auch, etwa zur Hälfte im Erbgut verankert sind und daher über das gesamte Leben hin relativ stabil bleiben.

Und was ist mit der Intelligenz, mit „brainy“ sein? Intelligenz ist eine wertvolle Zugabe und ebenfalls ein Geschenk, eines, das uns das Erbgut vermacht. Der Anteil der Gene wird auf siebzig oder achtzig Prozent veranschlagt. Die Intelligenz aber ist es bei weitem nicht allein, die über den Erfolg entscheidet, weder über den im Leben noch den im Beruf, oder wozu immer sich jemand berufen fühlt. Denn nicht Wenige scheitern trotz hoher IQ-Werte. Ihnen fehlt – neben einem Quantum Glück – offenbar genau das, was Angela Duckworth „Grit“ nennt: Ausdauer, Entschlossenheit, Leidenschaft. Im Extremfall können Menschen für ihr Hobby, für ihre Idee, für ihre Arbeit regelrecht „brennen“. Alles Private stellen sie dafür hintan. So weit, dass es tragische Züge annehmen kann, zumindest aus der Sicht der Anderen. „Freaks“ werden solche Leute heutzutage genannt, „Nerds“. Wenn der Geist ihrer Be-Geist-erung ein guter ist, kann daraus etwas ganz Besonderes werden, etwas, was alles Bisherige überragt. Etwas Weltbewegendes gar. Große Entdeckungen und Erfindungen, herausragende Leistungen in der Kunst oder im Managerwesen sind stets Produkt einzelner Köpfe. Und diese Köpfe müssen „gritty“ sein.

Man muss sein Leben aus dem Holz schnitzen, das man hat, und wenn es krumm und knorrig wäre.

– heißt es bei Theodor Storm. Und das Schnitzmesser, so rät schon der gesunde Menschenverstand, das sollte mit möglichst viel Grit geführt werden.

 

MAGDEBURG KOMPAKT 7. Jg., 1. Oktober-Ausgabe 2018

 



Wissenschaftspopulismus

Zunächst, was eigentlich ist Populismus? Jeder weiß es, möchte man glauben, doch keiner kann es sagen. Um schlauer zu werden, habe ich eine Zeitlang im Internet herumgeklickt. Ergebnis: Nicht jetzt, sondern vorher dünkte ich mich schlauer. Dann seit langem mal wieder ein Blick in mein Lexikon: Den Begriff „Populismus“ gibt es dort gar nicht, dafür eine Menge Staub. Zurück in Wikipedia. Alles durchaus lesenswert, was da steht

Auf lateinisch „populus, Volk“ wird verwiesen, und darauf, dass dem Begriff Populismus von den Sozialwissenschaften mehrere Phänomene zugeordnet würden. Hin geht es, und her geht es, bald wird Populismus in die rechte Ecke gerückt, bald in die linke, auch auf die Mitte zielt der Begriff. Gleich welche Gruppierung, nahezu unterschiedslos wird Populismus als politisches Schmähwort verstanden. Und verwendet. Von emotionalen Kampagnen ist die Rede, in denen vereinfachende Lösungen auf komplexe Probleme angeboten würden. Am ehesten bringt es der letzte Absatz auf den Punkt, und hier geht es um die Unzufriedenheit der Wähler mit der Konsensdemokratie, von der sie sich ausgeschlossen wähnten. Und das eben fände im Populismus seinen Ausdruck.

Mit „Populismus“ schmeißen

Interessant auch die Definition bei Wiktionary, das sich selbst als freies Wörterbuch versteht. „Populistisch“ sei, sich mit seinen politischen Forderungen nach den jeweils aktuellen Wünschen und Ängsten der Bevölkerung richtend, um die Unterstützung möglichst vieler Wähler zu erhalten. Welche Partei, fragt man sich da, kann es sich dann überhaupt leisten, nicht-populistisch zu sein? Dennoch, jede tut so, als ob das Schmähwort nur auf die Anderen zutrifft. Wie Dreck, mit dem man schmeißt. Und immer mit Erfolg, denn stets bleibt davon etwas hängen. Vor allem die Konservativen kriegen ihn ab. „Rechtspopulismus“ hat in Europa Konjunktur.

Und was ist mit der Wissenschaft? Die widerlegt populistische Ansätze, spielt dem Populismus aber auch oft genug in die Hand. Gibt es so etwas wie Wissenschaftpopulismus?

Gewiss spielt er keine Rolle, wenn es zum Beispiel um Rätsel der elamischen Keilschrift geht oder darum, ob es tatsächlich unendlich viele Fibronacci-Primzahlen gibt oder nicht. Auch, ob die Radnetzspinnen Larinioides cornutus und Larionioides folium als „gute“ Arten gelten können oder, so wie bisher, besser zwei verschiedenen Spezies zugerechnet werden sollten. Freiräume sind das, in denen der Wissenschaftler nur seiner Wissenschaft, nur sich selbst und nur seinen Kollegen verpflichtet ist. Die paar Forschungsmittel, die er braucht, finden sich auch, ohne sonderlich Aufmerksamkeit auf sich lenken zu müssen.

Doch Wissenschaft kann teuer sein, sehr teuer sogar, und dann heißt es, die Öffentlichkeit zu gewinnen, zumal die Politik, um die dafür notwendigen Forschungsmittel zu akquirieren. Wissenschaft mag aber auch per se für die Politik interessant sein, nämlich immer dann, wenn sie sich als Mittel zum politischen Zweck verwenden lässt. Und sogleich öffnen sich die Türen.

Populismus bedeutet nicht einfach „Lüge“, Wissenschaftspopulismus schon gar nicht. Wissenschaftlich eruierte Teilwahrheiten eignen sich viel besser. Als Beispiel der Klimawandel. Den gibt es. Denn nicht nur das Wetter ändert sich ständig, sondern auch dessen Resultante, wie sie sich über Jahrzehnte hin abzeichnet: das Klima eben. SonneneinstrahlungTemperaturLuftfeuchtigkeitWind und Bewölkung ergeben regional wie auch global bald mehr, bald weniger bizarre Kurven. Nicht nur mit Daten aus der Gegenwart und der jüngeren Vergangenheit gelingt das, sondern auch mit solchen längst vergangener Zeiten.

Nur eben die Ursachenforschung, mit der hapert es. Schwankungen der Sonneneinstrahlung und der Erdbahnparameter werden in Betracht gezogen, Vulkanismus und Plattentektonik sowie Änderungen in der atmosphärischen Zirkulation, den Meeresströmungen und der Vegetationsbedeckung. Politisch jedoch steht eine einzige Gruppe von Faktoren im Vordergrund: die der Treibhausgase. Zwar ist das mit Abstand am stärksten wirkende und womöglich einzig wahre Treibhausgas der Wasserdampf, vor allem die durch ihn gebildeten Wolken sind es.

Ein politogenes Gas

Die politische und mediale Welt aber anerkennt praktisch nur ein einziges Gas: den „Klimakiller“ Kohlendioxid. CO2 – für das Pflanzenwachstum eine conditio sine qua non – bewirkt zwar, wie manch andere atmosphärischen Spurengase, eine Absorption von Wärmestrahlung, das aber nur schwach. Zudem finden sich Veränderungen in der atmosphärischen CO2-Konzentration immer nur als Folge globaler Erwärmungsphasen, mitunter auch in einer Gegenbewegung, oder es ergibt sich keinerlei zeitliche Korrelation.

Auch das aktuelle Wettergeschehen dieses Jahres wurde wieder gerne als Beleg für das unselige Wirken von Kohlendioxid angeführt. Doch gab es – im Europa des Jahres 1540 eine Jahrtausenddürre, und der Sommer 1904 soll gemäß bisheriger Wetteraufzeichnungen der bisher niederschlagärmste gewesen sein – die Ursachen dafür sind unklar, keinesfalls aber CO2- oder gar industriebedingt. Politikern und sonst wie an der Angst vor einer „Klima-Katastrophe“ Interessierten scheint das egal zu sein. Sie bleiben jedwedem Versuch fern, das vermeintliche CO2-Verursachungsprinzip mit entsprechenden Kontrahenten in aller Öffentlichkeit zu verteidigen. Um die Verteilung vieler, vieler Milliarden Dollar geht es da, und vor allem um politischen Einfluss beziehungsweise dessen Wahrung.

Es heißt, fast nur noch solche Wissenschaftler, die aus dem aktiven Dienst ausgeschieden und nicht länger auf Forschungsmittel angewiesen sind, könnten sich leisten, auf die vom herrschenden Dogma abweichenden Sachverhalte hinzuweisen. Zum Beispiel der an der Leipziger Universität lehrende Klimatogeograph Werner Kirstein oder der renommierte schwedische Klimatologe Lennart Bengtsson.

Einem Großteil der Bevölkerung kommt man mit populistischen Argumenten sehr entgegen. Man liebt Ein-Grund-Begründungen, schön einfach sind sie. Und wenn der Klimawandel die Leute nicht ausreichend erschreckt, dann eben, so Ivar Giaever (Physik-Nobelpreisträger von 1973), erschreckt man die Leute mit Wetterextremen. Sind diese hierzulande nicht politogen genug, gibt es ja, bitteschön, Wetterkapriolen sonstwo auf der Welt. Menschen mit anderer Meinung als die der Meinungselite werden wirkungsmächtig als „Klimaskeptiker“ oder gar – angelehnt an Holocaustleugner – als „Klimaleugner“ in die Ecke verwiesen.

Gentechnik, Chemie - igitt!

Umgekehrt werden von Wissenschaftspopulisten gern all jene des Lobbyismus bezichtigt, die der Gentechnik das Wort reden. „Gen-Kritiker“ sind das, die da warnen. Man möchte glauben, bei solcher Bezeichnung handele es sich um eine Art Witz, ähnlich wie bei „genfreien“ Nahrungsmitteln oder dem Bestreben ganzer Länder und Landstriche, „atomfrei“ zu werden. Nein, es sind weitverbreitete Krönungen sprachlicher Absurdität. Den Kritikern der Gentechnik (oder eben kurz „Genkritikern“), unter anderen den von verschiedenen NGOs betriebenen „genkritischen Bewegungen“, geht es samt und sonders um die Diskreditierung gentechnisch veränderter Lebensmittel und die dafür zeichnende Industrie.

Die einen verfolgen mit ihren Warnungen eben mal einfach nur populistische Taktiken, den anderen graust es ehrlich vor Weißkitteln mit all ihren labortechnischen „Eingriffen in die Schöpfung“. Dabei ist jedwede Züchtung ein Eingriff in die Schöpfung. Nein und tausendmal nein, heißt es dann, die bisherige Form der Züchtung, die konventionelle, sei eine naturgegebene. Sie wäre dem Menschen mit dem Schöpfungsakt gewissermaßen in die Wiege gelegt.

Was die meisten von den Gentechnik-Kritikern nicht wissen (oder nicht wissen wollen), ist, dass die sogenannte konventionelle Züchtung von heute durch chemische Mutagene oder durch Bestrahlung, zum Beispiel mittels Kobaltkanonen, nach dem Schrotschussprinzip unkontrollierbar befeuert wird. Ansonsten verliefe der Züchtungsprozess viel zu langsam. Gentechnik hingegen wird mit präzisen und relativ einfach kontrollierbaren Eingriffen in das Erbgut gehandhabt. Hochmoderne Verfahren, namentlich das Genome-Editing mit der CRISPR-Cas9-Technik, bewirken winzige Veränderungen (Punktmutationen), die von denen, wie sie in der Natur fortlaufend passieren, nicht zu unterscheiden sind. Und genau darin sehen die Wissenschaftspopulisten das Problem: Das Unnatürliche kommt im Gewande des Natürlichen daher! Professor Szibor hat die Leser von MAGDEBURG KOMPAKT darüber in lesenswerten Beiträgen unterrichtet. Ebenso darüber, wie das Unkrautvernichtungsmittel Glyphosat zu einem politogenen Chemieungeheuer stilisiert wurde.

Man darf gespannt sein, welcher Art die Einwände gegen das Ansinnen der Gentechnik sind, trockenheitresistente Züchtungen auf den Markt zu bringen. Milliardenverluste, wie die in diesem Jahr, ließen sich dadurch vermeiden. Eigentlich passt das doch wunderschön zum Klimakatastrophen-Populismus. Nun, wenn schon, könnte es dann heißen, aber bitte nicht auf deutschem Boden! Hier hat billiger Populismus schon so manchen Industriezweig kurzgehalten und ins Ausland gedrängt. Demnächst womöglich die Entwicklung und Produktion von Verbrennungsmotoren.

Homöopathie und Gender-Forschung

Es gibt in unserer Mitte ganze Bereiche, die glauben machen, auf wissenschaftlicher Grundlage zu argumentieren und zu agieren, stattdessen aber allein oder ganz wesentlich auf Wissenschaftspopulismus setzen. Die Homöopathie und Akupunktur gehören dazu, die anthroposophische und die chinesische Medizin. Und, selbstredend, große Bereiche der Sozialwissenschaften. Wie auch sollten sich die Politikwissenschaften, die Sozial-, Motivations- und Persönlichkeitspsychologie, die Völkerkunde oder gar die Gender-Forschung von wissenschaftsexternen Einflüssen freihalten können, wie die Religionswissenschaften, zumal die Islamwissenschaft?

Dabei müsste die Wissenschaft die Politik von sich besser fernhalten, allzumal ideologische Einflüsse. Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei, steht in Artikel 5 unseres Grundgesetzes.

Gleichsam inflationär sind die Versuche von Esoterik und Parawissenschaften, sich auf echte, auf akademische Wissenschaft zu berufen. Und überall blühen sie, all die Formen von biodynamischer Landwirtschaft, die Unternehmen zur energetischen Wohnraumentstörung und -entstrahlung wie auch Ideen zu Diäten mit „naturbelassenen“ Nahrungsmitteln. Entscheidungen werden ausgependelt oder mittels Geomantie getroffen, Impfgegner tun sich zusammen und Gegner von Tierversuchen. Oft genug finden sich dafür Steuermittel, immer aber verunsicherte Bürger, die dazu Geld und Stimme geben.

Die Vertreter wissenschaftspopulistischer Strömungen stehen den Hard Sciences eher fern, oft sehr fern. Dasselbe gilt vermutlich für die Mehrheit der Politiker. Warum sonst widerstrebt es ihnen, politisch unvoreingenommene Vertreter der Wissenschaft in den Bundestag oder in die Landtage einzuladen, um sich per PowerPoint-Vortrag über deren Argumente und Sichtweisen zu informieren. Und das, bevor tiefgreifende Beschlüsse getroffen werden?

Weit eher hat man den Eindruck, es ginge hier weniger um Sachargumente als vielmehr darum, den anderen Parteien vom Rednerpult her oder aus den Reihen der Abgeordneten durch lautes Gelächter und Protestgeschrei Wählerstimmen abzujagen.

Populismus selbst im Spitzenbereich der Wissenschaft

Wie wohltuend muss es dann sein, wenn sich für die eigenen populistischen Zwecke Kronzeugen aus dem Spitzenbereich der Wissenschaft finden. So Professor Dr. Peter Strohschneider, Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), der im vorigen Jahr vor der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina in Halle eine Rede hielt. Titel: „Über Wissenschaft in Zeiten des Populismus“. Gemeint sind damit nicht etwa die über die Leitmedien verbreiteten Fehlinformationen zur Gentechnik, zu Treibhausgasen oder vermeintlich wissenschaftlich begründeten Grenzwerten atmosphärischer Spurengase.

Im Gegenteil, vom DFG-Präsidenten bekommt man eher das zu hören, was ohnehin ständig von den Türmen der Meinungselite geblasen wird. Es fehlt daher nicht an Warnungen vor Autokraten und Populisten, denen freie Wissenschaft zum „Objekt von Insinuation und Verdächtigmachung“ gereiche. Massiv verbreiteten sie Expertenmisstrauen. Der Austausch von Argumenten als Verständigungsbasis offener Gesellschaften würde aufgekündigt, populistisches Experten-Bashing untergrabe dieses Vertrauen gezielt, Denunziationsvokabeln von „Lügenpresse“, „Expertengeschwätz“ oder „Lügenwissenschaft“ verstellten den Blick auf die wahre Sachlage.

Solche Art von Bestätigung, ausgezeichnet als die „Rede des Jahres“, befeuert die Politiker und die von ihnen herbeigeholten und bisweilen selbsternannten Experten. Sie wissen, wie man es anstellen muss, um wissenschaftliche Sachverhalte so darzustellen, wie es opportun ist. Und das ohne „langweilige“ Diagramme, ohne „langweilige“ Kurven, ohne „langweilige“ Tabellen und ohne irgendwelche Studienbelege oder Gutachten von verlässlich unabhängiger Seite.

Wissenschaftspopulismus, man hört ihn trapsen.

Überall! 





Vom Labortisch in die Apotheke 

Mit Labortischen kennen sich die Wenigsten aus, mit Apotheken aber jeder. Schachteln und Schächtelchen warten hier auf Kundschaft, Tuben, Flaschen und Fläschchen. Es riecht besonders, die Verkäufer geben sich freundlich, wirken aber eher distinguiert. Ganz anders jedenfalls als die Bäckersfrau, der Fleischer oder die Verkäuferin im Supermarkt. Auch die Kunden unterscheiden sich von denen in anderen Läden. Sie machen einen leicht verunsicherten Eindruck und sind recht leise, ja regelrecht verhuscht, wenn sie ihr Rezept über die Theke schieben oder gar sagen sollen, wo ihnen der Schuh drückt. Denn hier, in der Apotheke, geht es ums Ganze, hier dreht sich alles um die Gesundheit, die es wiederherzustellen oder zu bewahren gilt.

Tabletten, Pillen, Kapseln und Tropfen werden dazu bereitgehalten, Salben, Gele, Injektionslösungen und Verbandstoffe. Alles nicht gerade preisgünstig. Immerhin, die Lebenserwartung und die Lebensqualität der Bevölkerung sind über Jahrzehnte hin ständig gestiegen, und das hat viel mit dem zu tun, was in den Apotheken über den Ladentisch gereicht wird. Doch auch in leichteren Fällen weiß der Patient die Mittel der Apotheke zu schätzen, da sie ihm Heilung bedeuten, zumindest Linderung.

Hier Fakt, da Fiktion

Dies gilt paradoxerweise selbst in den Fällen, in denen die Tabletten, Pillen, Tropfen, Tees und Salben objektiv völlig wirkungslos sind. Allein die Hoffnung auf Gesundung oder darauf, sich vor Krankheit zu schützen, verrichtet ein gutes Werk. Gemeint ist der Placebo-Effekt. Mit ihm mag nicht nur im Falle von Homöopathika oder der Scharen an Nahrungsergänzungs- und Gesundheitspflegemitteln gerechnet werden, sondern auch dann, wenn mittels regulärer Medikamente die Aussicht auf Heilwirkung ganz einfach überdehnt wird.

 Denken wir zum Beispiel an Schmerzsalben, die mit ansonsten hochwirksamen Schmerzmitteln (nichtsteroidale Antirheumatika, wie Acetylsalicylsäure, Diclofenac oder Ibuprofen) versetzt sind. Sie sollen durch die Hautschichten, das darunter liegende Bindegewebe und durch Faszien hindurch bis in die Muskulatur eindringen oder gar tiefliegende Gelenke erreichen, um dort Schmerzen zum Verschwinden zu bringen. Gleichsam im Handumdrehen! Angepriesen wird so etwas im Schaufenster der Apotheken oder im (von uns bezahlten) Fernsehen allabendlich zu den besten Sendezeiten.

 Früher war der Apotheker noch derjenige, der das, was er seinen Kunden ausreichte, selber herstellen musste. Dafür gibt es heute pharmazeutische Betriebe. Oft sind das riesige internationale Konzerne mit einem milliardenschweren Jahresumsatz. Aber auch kleinere Hersteller machen sehr gutes Geld, wenn sie es verstehen, mit ihren Produkten die Portemonnaies der Apothekenkundschaft bzw. die der Krankenkassen zu öffnen.

 Forschung

 Denken wir an seriöse Produkte, an Arzneimittel, die Krankheiten tatsächlich zum Verschwinden bringen, zumindest aber deren Symptome lindern. Wie kommt man dazu? Nun, im Prinzip ganz einfach: durch Forschung. Nur eben, dass Pharma-Forschung alles andere als einfach ist. Es genügt nicht, sich hinzusetzen und sich vorzunehmen, ein Mittel gegen Krebs zu ersinnen. Oder eines gegen Depression oder schizophrenen Wahn. Oder gegen Bakterien, gegen die kein Kraut gewachsen ist oder wo Antibiotika nicht länger helfen, obwohl sie früher wunderbar geholfen haben.

 Allerdings hinsetzen muss man sich schon, nämlich um sich möglichst viel von dem anzueignen, was die Schule an Wissen über Biologie, Chemie, Physik, Mathematik und Informatik anbietet. Ansonsten bleiben die Aussichten, sein Geld einmal in der Arzneimittelforschung zu verdienen, mit großer Wahrscheinlichkeit lebenslang verschlossen. Vermutlich auch dem, der das Angebot von leichtfertigen Bildungspolitikern nutzt, Unterrichtsfächer abzuwählen, die Mühe machen. Gewöhnlich sind das die oben genannten Disziplinen.

 Wiederum sein Sitzfleisch muss trainieren, wer sich für ein weiterführendes Studium mit Zielrichtung Arzneimittelforschung entscheidet. Außerdem braucht es handwerkliches Geschick und Beobachtungsvermögen, wie es in den jeweiligen Praktika trainiert werden muss. Intelligenz ist wichtig, keine Frage, Begeisterungsfähigkeit und Beharrlichkeit aber sind für den Erfolg im Studium zumindest von gleichrangiger Bedeutung. Und später auch in der Forschung. Hauptanliegen ist zunächst erst einmal zu begreifen, was die Menschheit bislang von dem begriffen hat, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Für die Pharma-Forschung ist das nicht so sehr die große, ganze Welt, als vielmehr die kleine, nämlich die des Organismus und, eher mehr noch, die der Zellen und der Moleküle.

 Vor den Erfolg haben die Götter den Schweiß gesetzt

 Nach einem beschwerlichen Studium kann es dann endlich losgehen mit der Forschung. Zunächst mit dem Versuch einer Antwort auf eine winzige Teilfrage, wie sie zum Abschluss für die Erlangung des Diplom- oder Mastergrades gestellt wird. Zum Beispiel, wie arbeitet eines der abertausenden Enzymarten in einer der mehr als 200 Zelltypen eines Säugetierorganismus (also auch des unsrigen), wenn man ihm statt des üblichen Stoffwechselproduktes einen chemisch veränderten Molekültyp anbietet? Oder was passiert, wenn man in die Zelle ein leicht verändertes Gen einschleust oder ein abgewandeltes Transport- oder Signalmolekül? Oder wie reagiert die Zelle auf ein chemisch umfrisiertes Signalmolekül-Bindungsmolekül? Immerhin könnte das eine oder andere in Bezug auf Fehlfunktionen interessant sein, mithin auf eine Krankheitsursache hinweisen. Entweder wird für die Zelle alles schlimmer, oder ihre Situation verbessert sich. Und damit auch die des Gewebes, deren Bestandteil sie ist, und schließlich die des jeweiligen Organs sowie die des gesamten Organismus.

 Leider ist alles noch viel komplizierter, als das hier klingen mag. Ansonsten hätten andere Forscher in der Welt die Antwort längst herausgefunden. Ständig muss bei den Experimenten mit Pannen gerechnet werden, oder die entsprechenden Geräte fehlen, die man zur erfolgreichen Arbeit braucht. Denn diese kosten Geld, häufig sehr viel Geld, und auch dann noch muss man mühsam lernen, mit ihnen umzugehen. Misserfolg lauert an allen Enden. Hinzu kommt der Zeitdruck, denn die Anstellung jüngerer Mitarbeiter ist immer befristet. Mittlerweile auch die der älteren! 

 Wer in der vorgegebenen Zeit mit seiner Arbeit nicht fertig wird, muss sich im Regelfall eine neue Stelle suchen und dann zumeist eine ganz andere Fragestellung in Kauf nehmen. Und das oft sonst wo in der Welt, denn Geld für Forschungsstellen ist überall knapp. Nicht von ungefähr liegt die allgemein übliche Wochenarbeitszeit für forschende Wissenschaftler bei 50, 60 oder gar noch mehr Stunden. Selbst verordnet – die Chefs müssen nicht drängen. Wer sich nicht sputet, verliert. Die Gewerkschaften bleiben da draußen vor, über Stress reden nur die Anderen (u. a. die mit der 35-Stundenwoche).

 Publish or Perish

 Großes Ziel aller wissenschaftlichen Untersuchungen ist deren Veröffentlichung, und die natürlich in einer Fachzeitschrift. Ohne Publikation kein Doktortitel und schon gar nicht die Habilitation. Nationale Fachzeitschriften spielen in der Pharma-Forschung wie überhaupt in den Naturwissenschaften keine Rolle, ebensowenig Veröffentlichungen in einer der jeweiligen Landessprachen. Alle diese Wissenschaften sind nun mal international, und deren Sprache ist ausschließlich englisch.

 Die Qualität der Forschungsergebnisse lässt sich anhand des Ranges der Fachzeitschriften ablesen. Für jedes der eingereichten Manuskripte sind zwei oder drei Gutachter zuständig, die sich bei den hochrangigen Journalen als besonders wählerisch erweisen und oft genug einer Veröffentlichung im Wege stehe n. Darauf dann die Ochsentour mit dem nächsten Journal und dem übernächsten bis hinunter zu den weniger wählerischen. Im Kampf um eine künftige Arbeitsstelle gewinnen jene, die die meisten Publikationen aufweisen und diese zudem in den anspruchsvollsten Zeitschriften. Der Hit, wenn irgendwann mal eine unbefristete Mitarbeiterstelle herausspringt, gar eine Chefstelle, oder im akademischen Bereich – was gibt es dort Besseres? – eine Professur!

 Neue Medikamente haben wirksamer als die bisherigen zu sein und kosten massenhaft Geld

 Bei immer genauerer Kenntnis der Mechanismen, die einen Organismus gesund erhalten oder, umgekehrt, krank machen, sollten sich wirksamere Arzneimittel gleichsam von allein ergeben. Leider ist die Realität weit davon entfernt. Häufig bedarf es eines glücklichen Zufalls, der eine verheißungsvolle Spur liefert. Aber auch dann geht es erst so richtig los. Das Resultat muss in jeder Richtung abgeklopft werden. Nach den Experimenten an Molekülen, an einzelnen Zellen und an Tierversuchen müssen Studien an gesunden Menschen zeigen, ob das neue Mittel nicht etwa schadet. Dann die Studien an Patienten, die zu erweisen haben, inwiefern die Wirkung besser als die eines bisherigen Arzneimittels ist. Tausende und abertausende Patienten sind dazu nötig!

 Errechnet wurde: Von 5 000 bis 10 000 Substanzen, die mit dem Ziel untersucht werden, ein neues Medikament herzustellen, sind es im Durchschnitt gerade mal neun, die in ersten Studien mit Menschen erprobt werden. Und nur eine erreicht später den Markt. Das alles braucht viele, viele Jahre. Und kostet im Schnitt eine bis zu 2 Milliarden US-Dollar. Den Preis bezahlt der Patient bzw. seine Krankenkasse.

 

Zuletzt ein guter Rat für verschreckte Abiturienten:

              Es gibt auch weniger aufwändige Arbeitsrichtungen!

    


MAGDEBURG KOMPAKT 7. Jg., 1. Mai-Ausgabe 2018


Krabbeln und Kribbeln. Und überhaupt: Tiere!

Jeder hat das schon mal an sich erfahren: Man kommt zur Ruhe, und dann juckt und kribbelt es, als ob Ameisen auf einem herumspazierten. So gründlich man auch nachschaut, nichts ist da zu sehen, gar nichts. Trotzdem geht das so weiter. Bis endlich Ruhe einkehrt. Manchmal aber nicht. Dann handelt es sich um sogenannte Parästhesien, und diese können Hinweis auf bestimmte Krankheiten sein. Es gibt auch Fälle, bei denen die Vorstellung, auf oder unter der Haut krabbelten Insekten oder Würmer herum, von einer wahnhaften Art ist – man spricht dann von einem Dermatozoenwahn.

Was die Wenigsten für möglich halten: Überall und ständig krabbelt es in uns, nur eben, dass wir davon nichts merken. Bestimmte Zellen des Blutes und des Bindegewebes sind darauf spezialisiert, sich selbständig fortzubewegen. Auf der Suche nach Keimen oder nach kranken Zellen patrouillieren sie in den verborgensten Winkeln unseres Körpers. Unter dem Mikroskop betrachtet, könnte man glauben, Amöben vor sich zu haben. Es sind aber keine. Es sind körpereigene Fresszellen, Makrophagen genannt. Zellen mit einem Zellkern, wie ihn auch jede andere unserer Körperzellen besitzt. In eine entkernte menschliche Eizelle verfrachtet, würde sich daraus ein eineiiger Zwillingspartner entwickeln, eine Zwillingsschwester, ein Zwillingsbruder! Bei Versuchstieren wird so etwas seit langem praktiziert.

Auch in unserem Darm krabbelt es, ständig und nicht spürbar, in unserer Lunge, auf unserer Haut. Hier finden sich mehr Bakterien, als unser Körper Zellen aufweist, und tatsächlich, viele Arten von ihnen bewegen sich ebenfalls aktiv. Die wenigsten dieser Fremd-Organismen machen uns krank, im Gegenteil, meistens wirken sie sich auf Körperfunktionen stabilisierend aus. In einer pieksauberen Umgebung aufwachsend, neigen wir zu Allergien. Nachgewiesenermaßen leiden Kinder, die sich schmutzig machen dürfen, eher selten unter Allergien.

Läuse, Flöhe, Würmer

Allerdings, ekelhafte kleine Biesterchen, die uns piesacken, die an unser Blut wollen, die gibt es natürlich auch. Läuse, Flöhe, Stechmücken, Gnitzen und Kriebelmücken, Wanzen, Bremsen und Zecken gehören dazu. Manche von ihnen übertragen Krankheiten, auch tödliche: Fleckfieber, Pest, Chagas-Krankheit, Malaria, Gelbfieber, Borreliose, Frühsommer-Meningo-Enzephalitis (FSME). Nicht zu vergessen, die Würmer: Bandwürmer, Spulwürmer, Fadenwürmer, Pärchenegel. Doch sind nicht alle Tiere, die uns besiedeln, bösartig. Zum Beispiel die Haarbalgmilben nicht. Wir alle, zumindest die meisten von uns, sind Wohnsitz solcher Krabbeltierchen. Allerhöchstens einen halben Millimeter lang, leben sie von uns völlig unbemerkt in ihren Verstecken, in Haarfollikeln und Talgdrüsen.

Das Füllhorn mit Tieren, die etwas von uns wollen, was wir nicht wollen, ist beachtlich. Zu denken sei an all die Fliegen-, Ameisen- und Wespenarten, an Schaben und Silberfischchen, an Kleider-, Mehl- und Wachsmotten, an Teppich-, Pelz- und Brotkäfer, an den Holz“wurm“ (die Larve des Nagekäfers). Aber auch an Mäuse und Ratten. Zudem ist da noch das Heer von tierischen Schädlingen, die sich an unsere Nutzpflanzen und Haustiere ranmachen. Allesamt Tiere übler Art, mit einem Wort: Ungeziefer.

Krabbelnde Helferchen

In unserer Nähe gibt es aber auch Tiere, die von uns Menschen nichts „wollen“: die Spinnen. Im Gegenteil, sie befreien uns von Schädlingen und Lästlingen. Um ihre Aufgabe zu bewerkstelligen, weben viele von den Spinnen Fangnetze, und diese filtern nicht nur Insekten aus der Luft, sondern auch Staub und Schmutz. Vermengt mit Resten an Beutetieren führt solches Tun regelmäßig zu Misshelligkeiten. Insbesondere bei Menschen, die ganz besonders auf Sauberkeit bedacht sind. Nicht wenige Frauen neigen beim Anblick von Geweben die genannten Art zu Ekelreaktionen. Auch zum Schreien, wenn sie der Produzenten ansichtig werden. Den Einwand, sie könnten sich doch über diese kleinen, krabbelnden Helferchen freuen, zieht zumeist nicht. Auch nicht das Argument, Spinnen seien hochinteressante Tiere, sowohl ihren Körperbau betreffend als auch ihre Leistungen, allein in Deutschland gäbe es etwa 1000 Arten, und … – Nein, diese verdammten Biester seien giftig, keift es dann zurück, und überhaupt: raus und weg damit! Nun ja, giftig schon, aber bis auf zwei der heimischen Arten nicht für uns Menschen. Gleichwohl, der Argumentator wird immer den Kürzeren ziehen.

Biene und Kuh, Hund und Katz

Fast könnte man nun denken, der Mensch sei eher Feind als Freund der Tiere. Das jedoch stimmt ganz und gar nicht. Zum einen sind da die Nutztiere, Tiere, die der Mensch für seine Zwecke aus der Wildnis herangeholt und unter seiner Obhut gezüchtet hat. Die Palette reicht von Honigbienen und Seidenspinnern über Karpfen und Forellen bis hin zu Hüte- und Wachhund, Pferd, Rind, Schaf, Ziege und Schwein.  Zu denken sei aber auch an solche Tiere, die keine andere Aufgabe haben, als uns ein guter Freund zu sein. Nicht wenige Menschen entwickeln zu ihrem Hund, zu ihrer Katze, zu ihrem Pferd eine Zuneigung, die intensiver ist als die zu anderen Menschen, inklusive die zum Lebenspartner. Nicht nur, dass solche Tiere zum Streicheln einladen, weit mehr als irgendwelche menschlichen Partner, nein, Bello wie auch Minka freuen sich immer, wenn wir nach Hause kommen. Egal, in welcher Verfassung. Auch erweisen sich Hund, Katze und Pferd in einer Weise dankbar für Futter und Pflege, wie all die Menschen, denen wir Gutes tun, leider nicht immer. Höchst ausnahmsweise beißt ein Hund in die Hand, die ihn füttert, unter Menschen hingegen kommt das regelmäßig vor. Auch müssen wir an Menschen denken, die total vereinsamt sind. Ihnen bleibt am Ende nur noch ihr Hund, nur noch ihre Katze.

Fische, Schlangen und Spinnen

Und dann, nicht zu vergessen, gibt es Leute, die haben weder Hund noch Katze noch Pferd, sie bevorzugen vielmehr ein Aquarium mit Fischen und Schnecken. Es schmückt die Stube, außerdem, so sagen sie, wirke das Betrachten auf sie beruhigend. Irgendwie wohltuend. Andere stellen sich ein Terrarium in die Zimmerecke, eines mit Echsen oder mit Schlangen, mit Riesenschlangen, mit Giftschlangen gar. Wozu? Ist es das Kribbeln, dass sie brauchen, wenn sie mit ihren Lieblingen in Kontakt kommen? Es gibt auch Menschen, die favorisieren Spinnen. Vor allem Vogelspinnen. Deren Biss tötet zwar nicht (die Beute schon, uns aber nicht), er kann für uns jedoch sehr unangenehm sein. Man fragt sich: wozu Spinnen, ausgerechnet Spinnen? Darüber schweigt der Autor. Er selbst besitzt zwei dieser possierlichen Tierchen. 



Kampf den Gasen

Das routinemäßige Ermorden von Menschen durch Krieg gehört zum Entsetzlichsten, wozu Homo sapiens befähigt ist. Die Krone der Perfidie ist, dafür flächendeckend giftige Gase einzusetzen. Sarin zum Beispiel, im einfachsten Falle Chlorgas – ein grauenvoller Tod erwartet die Opfer. Für Syrien sind allein seit Jahresbeginn sieben Fälle von Chlorgas-Angriffen gemeldet worden. Die Faktenlage mit Bezug auf Hersteller, Anwender und Opfer ist höchst undurchsichtig.

Gift – wie überhaupt kann etwas giftig sein? Paracelsus (Theophrastus Bombast von Hohenheim, 1493/94-1529) war es, der in einem heute noch gültigen Ansatz meinte: Alle Ding' sind Gift und nichts ohn' Gift; allein die Dosis macht, das ein Ding' kein Gift ist. Beziehungsweise ein Gift ist. Und tatsächlich, sogar der Sauerstoff kann giftig sein, wenn er uns unverdünnt verabreicht wird. Schlimmer noch der Stickstoff, obwohl er an sich gar nicht giftig ist. Sein Anteil in der Luft beträgt 78 Prozent. Wenn dieser gegen 100 Prozent geht, erstickt uns der Stickstoff – mangels Sauerstoff! Besonders problembeladen ist das Kohlendioxid (CO2). In unserer Ausatemluft beträgt sein Anteil etwa 4 Prozent, aber schon ab 8 Prozent kann es zum Erstickungstod kommen, ab 30 Prozent (in Gärkellern, Futtersilos, Brunnenschächten, Höhlen, Bergwerksschächten) binnen weniger Minuten. Und normalerweise? Der CO2-Anteil in unserer Atmosphäre beträgt etwa 0,04 Prozent. Vor vielen Jahren noch lag er bei 0,038 Prozent. Und dieser minimale Anstieg, so sehen es die weitaus meisten Klimatologen und vor allem die Politiker, führt uns geradewegs in die Klimakatastrophe. Zwar rühren nur 3 bis 4 Prozent des Klimakillers CO2 vom Menschen her, und dennoch! So ist das eben mit den Gasen. Eher noch problematischer ist das mit der entsprechenden Faktenlage. Vor allem dann, wenn Quellen hinzugezogen werden, die von Klimatologen stammen, die nicht von der Klimapolitik profitieren.

 Eine andere Gruppe von killenden Gasen sind die Stickoxide (NOx). Hundertausende Tote pro Jahr, so hatte man kürzlich ausgerechnet. Mittlerweile sollen es zwar deutlich weniger sein, auch fehlen entsprechende Totenscheine, die Stickoxide als Ursache angeben, und dennoch: Man weiß Bescheid! Dazu genügt es, eine gute Zeitung zu lesen – ein wohlmeinender Tipp von Herrn Hofreiter (Die Grünen), im Bundestag auf eine AfD-Anfrage hin verkündet. Kaum jemals weiß man durch die Zeitung, dafür durch Fachzeitschriften, dass Stickoxide auch ihre guten Seiten haben, ja geradezu lebensnotwendig sind. Von speziellen Enzymen synthetisiert, den Stickoxid-Synthasen, wird das Gas Stickstoff(mon)oxid (NO, ein Radikal). Es kommt in sehr vielen und zudem ganz verschiedenartigen Zellen unseres Körpers vor. Hier üben das NO und seine Folgeprodukte die unterschiedlichsten Funktionen aus. Die NO-Konzentration beträgt in den Geweben bis zu 1 Millimol (30 Milligramm/Liter; doi:  10.1016/j.niox.2009.07.002), mithin eine etwa millionenfach (!) höhere Konzentration, als es dem in Deutschland für NOx angesetzten atmosphärischen Grenzwert entspricht. Der ist mit 40 Mikrogramm pro 1000 Liter Luft festgelegt. Wieso, kann niemand genau sagen. Zur Biologie des Stickoxids hingegen gibt es bestens begründete Angaben. Und die stammen nicht aus der Politik, auch nicht einfach aus der Zeitung, sondern aus der Wissenschaft – eine Einrichtung, deren Ergebnisse in internationalen Journalen unter Kontrolle ausgewiesener Fachgutachter veröffentlicht werden und, bitteschön, mit den entsprechenden Mitteln von jedermann nachgeprüft werden können.

Apropos Wissenschaft: Nicht viel davon bedarf es, um Chlor herzustellen, wie es unter anderem eben auch in Syrien zum Einsatz gekommen ist oder gekommen sein soll. Jeder Schüler, sofern er nicht gerade Chemie abgewählt hat, kann das. Auch Sie, verehrte Leserin, verehrter Leser, können das! Man nehme Wasser, löst darin Salz (Kochsalz) auf, führe zwei Drähte ein, die an eine Autobatterie angeschlossen sind – und schon entsteht (am positiven Pol) stinkendes, ekelhaftes, giftiges Chlorgas Cl 2 (Vorsicht: Explosionsgefahr!):

2 H2O + 2 NaCl → H2 + Cl2(!) + 2 Na+ + 2 OH-

Dazu bedarf es keiner syrischen Forschungsinstitution. Und schon gar nicht eines multinationalen Raketenangriffs, um ein derartiges Potenzial weltöffentlichkeitswirksam zu zerstören. Auch keiner Bundeskanzlerin, um dazu bestätigend zu nicken.


MAGDEBURG KOMPAKT 7. Jg., 2. April-Ausgabe 2018

Abb. Weltkarte des Glücks

Aus: World Happiness Report 2017 score shown on a map of the world. Darker shades of green show a higher score with darker shades of red showing a lower one.

The World Happiness Report is an annual publication of United Nations Sustainable Development Solutions Network that contains rankings of national happiness and analysis of the data from various perspectives.[1] The World Happiness Report is edited by John F. HelliwellRichard Layard and Jeffrey Sachs. The 2017 edition added three associate editors; Jan-Emmanuel De Neve,[2] Haifang Huang,[3] and Shun Wang.[4] Authors of chapters include Richard EasterlinEdward F. Diener, Martine Durand,[5] Nicole Fortin,[6] Jon Hall,[7] Valerie Møller,[8] and many others.

 

Wo wohnt das Glück?

Jeder ist seines Glückes Schmied. Heißt es. Als Erster formuliert hatte diese Weisheit vor mehr als 2000 Jahren der römische Politiker Appius Claudius Caecus: Fabrum esse suae quemque fortunae.

Wenn schon selber schmieden, was eigentlich ist denn Glück? Dem Grunde nach doch wohl ganz einfach: Gesundheit, intakte Familie, Freunde, eine befriedigende Arbeit, und wenn schon nicht reich, dann wenigstens nicht gerade arm sein. Gewiss, für all das kann man selbst sorgen. Mit ein bisschen Glück eben. Aber stimmt das? Immerhin gibt es ja Menschen, denen es, äußerlich betrachtet, an nichts fehlt, dennoch sind sie unglücklich. Mitunter so unglücklich, dass sie ihr Leben mit eigener Hand beenden. Für die Anderen völlig unverständlich. Die nächsten wiederum hätten allen Grund, unglücklich zu sein, und sie strahlen vor Glück. Für die Anderen ebenfalls völlig unverständlich.

Absolute Privatsache

Das Wohlbefinden lässt sich durch die äußeren Umstände beeinflussen, keine Frage, dennoch ist es ein zutiefst innerer Zustand, zu dem nur wir selbst einen direkten, einen ganz und gar privaten Zugang haben. Das gilt genauso für das Unglücklichsein, für Schmerz und Angst, für Liebe, Frust oder Zorn. Es gibt Menschen, die leiden unter Anhedonie, eine Art von Gefühlsblindheit gegenüber positiven Gemütszuständen. Es gibt keine Möglichkeit, Anhedonikern zu vermitteln, wie sich Glück „anfühlt“. Ebenso wenig wie einem farbenblind Geborenen zu erklären, wie wir Grün empfinden oder Rot oder Blau. Nur bei entsprechender Selbsterfahrung kann man sich darüber austauschen.

Auch wenn es heißt, das Herz sei für das Glücksempfinden zuständig oder der Bauch – nein, die beiden haben andere Aufgaben. Das Herz lässt sich durch ein künstliches oder durch ein fremdes ersetzen, dem Bauch kann ein Stück vom Magen oder vom Darm entfernt werden, die seelische Erlebensfähigkeit für Glück aber bleibt. Sämtliche Gefühle werden im Gehirn gemacht, nirgendwo sonst. Das Glücksempfinden nicht einfach irgendwie und irgendwo im Gehirn, sondern in speziellen Gebieten, die bei Aktivierung uns ein Glücksgefühl erleben lassen. Am Boden des Gehirns sind sie zu einem sogenannten Glückszentrum zusammengeschaltet. In der Gegend der Sehnervenkreuzung befindet sich dessen Herzstück, ein wenige Millimeter großes Gebiet, das Hirnanatomen auf den Namen „Nucleus accumbens“ getauft haben.

Wie jedwedes Hirngewebe besteht der Nucleus accumbens aus Nervenzellen, die über zahllose Fortsätze untereinander verbunden sind wie auch mit Nervenzellen in anderen Hirnregionen. Das mag einigermaßen verständlich klingen, ist es aber nicht. Bis heute gibt es noch nicht einmal einen Denkansatz dafür, wie Nervenzellen in einem Verbund Gefühle hervorbringen können, hier also Glücksgefühle. Man muss sich das Ganze einmal auf der Zunge zergehen lassen, und zwar viel, viel langsamer als einen edlen Wein oder eine köstliche Trüffelpastete: Hier, in diesen paar Millimeterchen Hirngewebe, wird entschieden, ob wir glücklich sind oder nicht und ob anhaltend oder nur vorübergehend! Eine anatomisch-physiologische Lächerlichkeit ist Dreh- und Angelpunkt unseres ganzen Lebens, ist des Glückes Schmied!

Und was machen die Glückshormone (Endorphine, Enkephaline), was das Dopamin, Serotonin, Noradrenalin & Co.? Jawohl, die “machen“ ebenfalls Glück. Nicht von sich aus, sondern indem sie die Nervenzellen im Glückszentrum aktivieren. Signalstoffe sind es, die von Nervenzellen produziert werden, die an den Nervenzellen des Glückszentrums ankoppeln. Dieselben Substanzen wirken auch in ganz anderen Bereichen des Gehirns, solchen, die nichts mit Glück zu tun haben. Im Glückszentrum kommt es darauf an, in welcher Konzentration und in welchem Verhältnis zu anderen Signalstoffen sie freigesetzt werden. Auch wie rasch sie wiederaufgenommen oder verstoffwechselt werden, und wie die Nervenzellen dort mit entsprechenden molekularen Fühlern, sog. Rezeptoren, ausgestattet sind, um darauf reagieren zu können. Aus Missverhältnissen folgt Freudlosigkeit, schlimmstenfalls Depression. Psychotherapie oder antidepressive Medikamente, die diese Missverhältnisse korrigieren, können helfen. Mitunter auch nicht. Und dann droht schlimmes Leid, gar nicht selten Suizid. Einen Ausweg mag die Elektrokrampfbehandlung bieten, neuerdings auch – eher versuchsweise – die Implantation von Elektroden in entsprechende Hirngebiete, die mit einem „Hirnschrittmacher“ verbunden werden, einem Gerät ähnlich einem Herzschrittmacher.

Ratschläge säckeweise

Die Anzahl der Glücks-Ratgeber geht in die Vieltausende. Was nicht alles wird da empfohlen. Allem voran die Konzentration auf das Gute und Angenehme. Denn wer sich schlecht fühlt, weil er sich schlecht fühlt, fühlt sich noch schlechter. Und überhaupt: Sich auf die Familie konzentrieren, auf den Partner und die Kinder, sich sportlich betätigen, gesund ernähren, Schokolade essen, für ausreichend Schlaf sorgen, sich einen Hund oder eine Katze anschaffen oder Aquarienfische, für Abwechslung sorgen oder gerade nicht, nämlich für Besinnung auf sich selbst, für „Achtsamkeit“. Sodann: Anderen helfen, auf Gott vertrauen, auf Maria, auf Ganesha oder einen Guru, sich um Erfolg bemühen oder, vielleicht besser noch, alle fünfe gerade sein lassen. Spazierengehen und Wandern, Radfahren und Bergsteigen, für Gemütlichkeit sorgen oder für einen Kick, auf Sportveranstaltungen gehen und mit Anderen jubeln und schreien, sich in Fitnesszentren abstrampeln, Genießen erlernen, Berufsstress vermeiden, Stress und Unangenehmes sowieso, und lernen, in Einklang mit sich selbst zu leben. Keine Selbstverurteilung also, weder Selbstentwertung noch Selbstzweifel zulassen, nicht immerzu glücklich sein wollen, andererseits aber auch keine Angst haben vorm Glücklichsein, ein Glückstagebuch führen …

Es gibt Menschen, die „von Haus aus“ glücklich sind. Sie brauchen solcherlei Ratschläge nicht. Offenbar haben sie Glück mit ihrer genetischen Ausstattung. Forschungen an eineiigen Zwillingen deuten darauf hin, wenngleich man nicht weiß, auf welche Gene es beim Wohlbefinden ankommt. Es ist wie bei den anderen Persönlichkeitseigenschaften auch, sie sind jeweils etwa zur Hälfte erblich bedingt. Der Rest ist Sache der Umwelt und, vor allem, von einem selbst. Es gibt Völker, die sind im Durchschnitt glücklicher als andere (→ Google Bild; happiness world map). Neben Australien und Neuseeland ragen als besonders glücklich die nördlichen Länder heraus, darunter die Bevölkerung von Island. Kaum ein Baum wächst dort, fast die Hälfte des Jahres leben sie, diese Isländer, im Dunkeln, ansonsten mit Regen und Wind und eher ausnahmsweise unter einer wärmenden Sonne. Von Glücksforschern hervorgehoben wird auch das Volk des Himalaya-Staates Bhutan. Seit 2008 ist dort das »Bruttonationalglück« als Staatsziel in der Verfassung verankert. Der fürsorgliche König fragte seine Untertanen in einer groß angelegten Erhebung, was ihnen denn in ihrem Leben am meisten Freude bereite. Dabei stellte sich heraus, dass für die Bewohner Bhutans, die zumeist in ärmlichen Verhältnissen leben, Glück nicht von materiellem Besitz abhängt. Wie schön!

Also auf nach Bhutan! Doch da ist die Rechnung nicht mit dem Land und den Leuten gemacht. Die lassen nämlich kaum jemanden rein, Touristen nur ausnahmsweise. Also besser dableiben. Allerdings gehört Deutschland nicht gerade zu den Stammländern des Glücks, in jüngster Zeit nun auch noch mit abnehmender Tendenz. Warum wohl? Vielleicht eher doch auswandern? Aber wohin?


MAGDEBURG KOMPAKT 7. Jg., 1. März-Ausgabe 2018 


Sind Sie denn noch normal?

Wie sollte man auf eine solche Frage reagieren? Ignorieren? Dann bleibt die Beleidigungsabsicht auf einem sitzen. Einfach „ja“ sagen? Die Quittung wird eine selbstgefällige Geste des Zweifelns sein. Besser vielleicht: „Nein, Verehrteste(r), ganz im Gegensatz zu Ihnen!“ Und der Angreifer wird zum Angegriffenen. Von wegen ich, wird er sich fragen, ich und normal, was soll denn das heißen? Stinknormal etwa?

„Normal“ – im Ernst, wer schon möchte das sein, ein durch und durch normaler Mensch? Intelligenz, Kunstsinn, Sportlichkeit, Beliebtheit, sonstige Persönlichkeitsmerkmale – nichts, aber auch gar nichts Außergewöhnliches an sich haben, alles Durchschnitt?  Selbst das Aussehen null-acht-fünfzehn, mit einem Gesicht, als ob es computertechnisch „gemorpht“ wäre (http://www.beautycheck.de/cmsms/index.php/durchschnittsgesichter)? Kaum etwas Persönliches lässt sich in einem solchen Einheitsgesicht entdecken. Möchten Sie, verehrte Leserin, verehrter Leser, so herumlaufen? Wollten Sie völlig durchschnittlich sein, verwechselbar, austauschbar, profil-los?

Das Erbgut von uns Menschen ist zu etwa 99,9 Prozent identisch. Das heißt, bei den sechs Milliarden genetischen Buchstaben, wie sie von unseren beiden Chromosomensätzen repräsentiert werden, unterscheiden wir uns von anderen Menschen in durchschnittlich etwa sechs Millionen solcher molekularen Zeichen (meistenteils als sogenannte SNPs; single nucleotide polymorphisms). Unterschiedliche Häufigkeiten von Genkopien hinzugerechnet, kommen wir beim Buchstabieren individueller genetischer Texte auf gerade einmal 30 Millionen Abweichungen. Das scheint, gemessen am Gesamtumfang, nicht sonderlich viel zu sein, dennoch kann bereits ein einzelner falscher Buchstabe Krankheit bedeuten.

Den völlig durchschnittlichen Menschen gibt es nicht

Einen Eindruck von der Macht genetischer Besonderheiten erhält, wer Personen vergleicht, die ein identisches oder weitestgehend identisches Erbgut haben: eineiige Zwillinge. Doch selbst diese sind noch immer vollständig unterschiedliche Ich-Personen, auch dann, wenn sie unter gleichartigen Umständen aufwachsen. Die Begriffe „normal“ oder „Durchschnitt“ ergeben aus solcher Sicht keinen Sinn. Was sollte das sein, ein völlig durchschnittlicher Mensch? Jeder von uns ist einmalig.

Anders, wenn man anstelle eines spektrallinienartig begrenzten Durchschnittswertes, wie er in der Statistik verwendet wird, einen größeren Bereich absteckt, einen, der dem der Mehrheit der Bevölkerung entspricht. Die meisten von uns werden sich zu dieser Art von Normalität zählen wollen. Bei besonders günstigen Merkmalen allerdings, da möchte man denn doch lieber auf das Prädikat „durchschnittlich“ verzichten.

Im Positiven aus der Masse herauszuragen, macht stolz, und Stolz ist nun mal mit kuscheligen Gefühlen besetzt. Auch dann, wenn wir glauben, uns einer solchen Auszeichnung halber ein bisschen genieren zu müssen. Anders hingegen bei Eigenschaften, die belasten beziehungsweise in den Augen der „normalen“ Anderen ein ungünstiges Bild ergeben. Bei körperlichen Handicaps sowieso. Problematisch wird es bei Abweichungen, die den Geist betreffen, die Seele. Und genau das ist es, was landauf, landab als „nicht normal“ bezeichnet wird.

Ein Beispiel: Das Bild von der Wirklichkeit ist verzerrt. Passiert uns dies des Nachts beim Träumen, gilt das als normal. Auch die Entrückung unseres Denkens tagsüber, wenn es sich von irrealen Hoffnungen oder Befürchtungen treiben lässt, teilen wir mit vielen Anderen. Ebenso Weltanschauungen, Ideologien und religiöse Überzeugungen, mögen sie den Zweiflern noch so absurd erscheinen.

Beim schizophrenen Wahn ist das anders: Der Wahnkranke wähnt, völlig normal zu sein, seine Erlebnisse aber sind für niemanden ableitbar, sie bleiben für die Anderen, die wirklich „Normalen“, völlig unverständlich. Selbst bei gutem Willen findet man keinen Zugang zur inneren Welt des Kranken. Er wirkt verworren, wenn er behauptet, man hypnotisiere ihn über die Steckdose und über das Internet, sein Denken würde von fremden Mächten entzogen, abgehört und manipuliert.

Oder denken wir an Das sexuellen Anderssein, an Masochismus und Sadismus, an Pädophilie, Nekrophilie und Sodomie, an sexuelle Triebtäter. Was kann bei den Betroffenen noch als privat gelten, ab wann darf die Anomalie des Einzelnen seitens der „Normalen“ nicht einfach hingenommen werden, ab wann wird sie strafbar? Noch heute wartet in gar nicht so wenigen Staaten auf Homosexuelle die Todesstrafe. Und wir hier in Deutschland, in Europa, wo homosexuelle Paare sogar heiraten dürfen, nehmen diese Abscheulichkeit einfach so hin! Was ist da normal, das Hin-richten oder das Hin-nehmen? Normal hingegen erscheint hierzulande, dass es offiziell „Bürgerbüro“ heißt und „Bürgerversicherung“, Studenten an unseren Hochschulen aber mit Punktabzug bestraft werden, wenn sie ihre Texte nicht „durchgegendert“ haben.

Das „Sie“ in der Titelfrage lässt sich auch kleinschreiben

Nämlich dann, wenn man nach der Normalität ganzer Gruppen von Menschen fragt. An Serientäter ist da zu denken, an Fußball-Hooligans, an Extremisten unterschiedlicher politischer Couleur. Auch bei Extremsportlern und Veganern fragen sich das viele, bei der „heutigen Jugend“ und ihren Lehrern, bei Oberfaulen und bienenhaft Fleißigen, bei „krankhaft“ Ehrgeizigen und den Alles-egal-Typen. Die Leute auf den Chefetagen und Langzeit-Politiker werden oft für nicht-normal gehalten, an Narzissten und Zwanghafte ist zu denken und an illegal Eingewanderte, die uns, dem Gastgeberland, gegenüber von Dankesschuld gequält werden. Ja, warum nicht auch an Dunkeldeutsche, wenn man sie mit Helldeutschen vergleicht, und an Helldeutsche verglichen mit Dunkeldeutschen? Überhaupt an die Deutschen, und das im Lichte anderer Nationen, solche, die uns Deutsche für „brainless“ halten. Allen Ernstes gefragt:

Sind, bitteschön, wir Deutschen noch normal? 



MAGDEBURG KOMPAKT 7. Jg., 1. Februar-Ausgabe 2018


Schön einfach

Prof. Dr. Gerald Wolf über Eingrund- und Vielgründe-Begründungen

Als Kind glaubte man an den Weihnachtsmann, fürchtete ihn wegen der Rute (mit der er immer nur drohte), und liebte ihn wegen seiner Geschenke. Dann kam heraus, es gibt gar keinen, der Nachbar ist es. Der hatte ihn immer bloß gespielt. Ich selbst erinnere mich, wie unsere Kinder bedauerten, dass ich immer gerade dann nicht da war, wenn der Weihnachtsmann an die Tür pochte. Als die Sache später ans Licht kam, war die Enttäuschung groß. Und bitteschön, ich sollte im nächsten Jahr doch einfach wieder so tun als ob! Mit dem Glauben an den Weihnachtsmann und mit dem Osterhasen, mit Schneewittchen und der eifersüchtigen Königin, mit dem Allwissen und Allkönnen von Mutter und Vater und späterhin der Lehrer war die Welt einfach. Und irgendwie auch schöner. Allemal die Welt mit dem treusorgenden lieben Gott, der einen vor jeglicher Unbill schützt.  

Die einfachen Erklärungen habennicht nur für Kinder ihren Reiz. Vom Offenkundigwerden tieferer Wahrheiten halten oft auch Erwachsene nicht viel, schon gar nicht von solchen, wie sie die Wissenschaft liefert. Die Welt würde dadurch ihrer Schönheit beraubt, ja geradezu entzaubert, meinen sie. Warum zieht sich das Leben im Winter zurück? Weil, lieben diese Menschen zu antworten, auch die Natur ihren Schlaf braucht. Warum färben sich die Blätter im Herbst so bunt? Weil Schönheit im Wesen der Dinge liegt. – Schön einfach ist das, einfach und schön. Genaueres über die eigentlichen Gründe zu wissen, ist aufwändig, kostet Mühe und – nützt eh nichts. 

Huhn und Ei

Und tatsächlich, wozu wissen wollen, wie das geht, zum Beispiel wenn ein Huhn gackert und hernach ein Ei legt? Ein Ei, ein rundes Ding, Kalkschale drum, drinnen eine gelbe Kugel, fertig. Was schon gibt es da groß herumzurätseln, wie so etwas im Vogelbauch entsteht. Oder wenn der Vogel sich drei Wochen lang draufsetzt, es dann in dem Ei piept, und ein Küken herausklettert. Zuvor ist der Hahn mal auf das Huhn gestiegen, und davon kommt das eben alles. Ein-Grund-Begründungen. Ein Kind, das nach dem Warum fragt, wird ratlos dreinschauen und – was anders? – diese „Erklärung“ irgendwann hinnehmen. Wenn es wissen will, warum das Wasser kocht oder bei Kälte fest wird, heißt es womöglich, ist nun mal so. Wenn es kalt ist, dann gefriert das Wasser eben, wird zu Eis. Bei unter null Grad passiert das. Aber, mag das Kind weiter fragen, wenn man da Salz drauf streut, Streusalz, dann …? Dann? Ach Quatsch, heißt es da, immerzu diese Fragerei, nimm lieber den Finger aus der Nase!  

Hatten Sie, verehrte Leserin, verehrter Leser, als Kind Ähnliches erlebt, bei den Kindern von nebenan vielleicht? Ein-Grund-Begründungen, und gut. Wozu auch sich den Kopf zerbrechen, ob nun über gelegte oder ungelegte Eier, über kochendes Wasser und Eis? Wenn die Vögel im Frühling wieder zu singen anfangen, klingt das schön, und es ist doch wohl ziemlich egal, wie man diese Kerlchen im Einzelnen nennt. Genauso das Unkraut im Garten. Weg muss es, und gut. Warum Frank von nebenan Krebs bekam und schließlich daran gestorben ist, man selbst aber lebt, bisher jedenfalls – was ändert es, wenn man das alles genauer wüsste? Zum Glück gibt es ja für jedes Problem Fachleute, und wenn die nichts ändern können, dann ist es, wie es ist! Und wenn alle sagen, dass etwas so und so ist, auch die Fachleute, dann wird das schon stimmen. Zum Beispiel die Sache mit der Globalisierung und der Armut, der schlechten Luft, oder dass die Gefahr rechts ist und eine andere im Glyphosat liegt, oder dass die Kernkraftwerke alle abgeschaltet werden müssen.

Man selbst hat ja ebenfalls etwas zu bieten, ist vom Fach, ist tüchtig im eigenen Beruf, und so verteilt sich eben das mit dem Wissen-müssen und dem Nicht-wissen-müssen auf die Menschen ringsum und weltweit. Was geht unsereinen die ganze Politik an, die machen sowieso, was sie wollen, heißt es dann. Ob die Flüchtlinge für uns nun ein Geschenk sind oder gerade nicht, welche Partei da was sagt und denkt und macht, und so weiter und überhaupt, das ist deren Sache. Hängt sowieso alles nur am Gelde. Auf jeden Einzelnen von uns trifft das zu, auf die Unternehmen und Verwaltungen, die Staaten – Geld regiert Welt. Egal ob es sich dabei um bedrucktes Papier handelt, um Gold oder um Schulden, die hin- und hergeschoben werden. Neuerdings kommen noch ja die digitalen Währungen hinzu. Überhaupt, dem Digitalen, dem gehört die Zukunft. Sowieso. Wer nicht genügend Bits und Bytes bewegt, wird scheitern oder zumindest zurückbleiben.

Trotzdem, die Menschen sind verschieden. Die einen kommen bei Urlaubsreisen kaum raus aus dem Bereich des Swimmingpools, die anderen kaum rein. Sie müssen immerzu in der Gegend herumforschen. Die Einen wollen mal gründlich abschalten, wollen endlich ihre Ruhe haben, und den Anderen machen im Hinterteil ständig Hummeln zu schaffen. Schon weit vor Reisebeginn haben sie sich über das Land kundig gemacht. Das Fremde lockt. Mit dem Fernglas am Hals und dem Wörterbuch in der Hand laufen sie herum, besuchen jede Kirche und jeden Tempel, gucken den Leuten in die Fenster, auf den Märkten fingern sie in den Auslagen herum, naschen von dem und probieren dies. Und nichts, aber auch gar nichts bleibt vor ihrem Fotoapparat verschont.

Viel-Gründe-Begründungen

Dieselben sind es auch, die gern genauer wissen wollten, was das eigentlich für Gründe sind, die das Wasser kochen und die gefrieren lassen, und wie das kleine blau blühende Pflänzchen heißt, dass sich da im Tomatenbeet breitmacht. Natürlich auch, was das für ein Vogel ist, der so unscheinbar grau aussieht, dafür aber wundervoll singt. Klimaveränderung, ob sie, falls sie überhaupt stattfindet, menschgemacht ist, und wenn, ob es wirklich am CO2 liegt oder welche anderen hundert Gründe es dafür geben mag. Das Wissen darum hat für diese Menschen persönlich keinerlei Konsequenz, und trotzdem. Obwohl in ganz anderen Berufen zuhause, lassen sie sich von dem Gedanken faszinieren, dass die Teilchen, die unsere Materie aufbauen, nicht etwa kleine Kügelchen sind, sondern gleichsam aus Nichts bestehen, nur Energiewolken sind, nichts wiegen und erst durch das verrückte Higgs-Feld eine Masse kriegen. Und ob es tatsächlich Paralleluniversen gibt, fragen sich die, die immer alles genauer wissen wollen. Dabei wissen sie noch nicht einmal, wozu sie das alles wissen wollen. Zum Beispiel, dass auch die schlausten Hirnforscher nicht sagen können, was Bewusstsein eigentlich ist, und was die eigentlich Seele ist. Ja, dass es noch nicht einmal möglich scheint, einen Verbund aus fünf oder zehn konkreten Nervenzellen in seiner Arbeitsweise so zu kalkulieren, dass man genau sagen könnte, was „hinten“ rauskommt, wenn „vorn“ eine bestimmte Information hineingesteckt wird. 

Das Wunder Gehirn lässt sie einfach nicht in Ruhe, schon weil sie selber eines haben. Bei jedem von uns, so stünde geschrieben, arbeitet es mit etwa 100 Milliarden Nervenzellen und vielen Billionen von Zellteilen, die für jeweils ganz bestimmte Aufgaben zuständig sind. Als Viel-Billiarden-Ursachengefüge sei das Gehirn nie und nimmer wirklich begreifbar, bestenfalls in seinen Funktionsprinzipien. Das aber immerhin! Jene, die ständig auf Suche nach Neuem sind, erleben eine Art Kick, wenn sie erfahren, dass wegen der ungeheuren und völlig unvorstellbaren Komplexität des menschlichen Gehirns kein Mensch in der Lage ist, sich selbst wirklich zu begreifen, geschweige denn andere. Und dass wegen der tausenderlei klimatischen Faktoren sich noch nicht einmal das Wetter der folgenden Tage genau vorhersagen lässt, allemal nicht das Klima der nächsten Jahrzehnte. Welch Vermessenheit, wollte jemand sagen, wie sich das Gefüge aus den unschätzbar vielen Faktoren entwickelt, dem wir vor und nach der Geburt ausgeliefert sind – das also, was landläufig „Schicksal“ genannt wird. Der Wissensdurst solcher Menschen lässt sich einfach nicht löschen. Sie wollen wissen, was das Leben „eigentlich“ ist und was (und ob überhaupt etwas) nach dem Leben kommt. Einzig genau wissen sie, dass sie sich ohne den Versuch um Durchblick nicht wirklich wohlfühlen können. Auch wenn der Versuch noch so aussichtslos ist und sie Gefahr laufen, sich dabei den Kopf zu zerbrechen. 

Und Sie selbst, verehrte Leserinnen, verehrte Leser?

Sie gehören zu den zuletzt genannten Menschen. Ansonsten wären Sie nicht bis an diese Stelle hier gelangt. Hätten, weil „langweilig“, gleich zu Anfang aufgegeben. Was ist das, was Sie von den Anderen unterscheidet? Man könnte meinen, der Bildungsgrad. Doch schauen Sie sich um, und Sie werden feststellen, dass es der Grad der formellen Art eher nicht ist. Also der in Hinblick auf schulische Laufbahn, akademische Titel usw. Vielmehr trifft man in allen Berufszweigen und auf allen Ebenen Menschen an, die mehr als andere am Allgemeinen interessiert sind und sich mit Ein-Grund-Begründungen nicht zufriedengeben. Manche von ihnen brennen vor Wissensgier, die anderen schmeißt so schnell nichts um. Im Untergrund wirkt da eine der fünf großen Klassen von Persönlichkeitseigenschaften, „Big Five“ genannt (nicht zu verwechseln mit den Big Five der Safari!). Hier ist es die Klasse „O“ (von engl. „openness“, Grad der Offenheit für neue Erfahrungen). Alle diese Persönlichkeitsmerkmale sind jeweils zu etwa 50 Prozent in unserem Erbgut festgelegt. Um die andere Hälfte muss sich gekümmert werden, in erster (!) Linie durch das Elternhaus, in zweiter durch die Schule und in dritter (späterhin ausschließlich) durch sich selbst. Die Mühe lohnt sich, der Appetit kommt bekanntlich mit dem Essen. 

Gut ist es um eine Gesellschaft bestellt, die möglichst viele Menschen mit einem hohen Grad an Offenheit für Erfahrungen beherbergt. Es sind Menschen, die, Goethe folgend, erkennen wollen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Und noch besser geht es einer Gesellschaft, die solche Glieder als Schatz begreift und als ihre Elite pflegt. Sie werden es durch Entdeckungen und Erfindungen, durch Probierlust und Unternehmungsgeist danken. 

MAGDEBURG KOMPAKT 7. Jg., 1. Januar-Ausgabe 2018


Digital, analog und leibhaftig

In der Zoo-Handlung neulich, ein Streichelgehege für Zwergkaninchen. Eine Göre von fünf oder sechs Lenzen lehnte am Eckpfeiler und tippte auf ihrem Smartphone herum. Gesichtsausdruck zwischen blasiert und gelangweilt. Die Mutti stieß ihr Ein-und-alles wiederholt an, sie solle mal gucken, wie niedlich doch, diese Süßen da, und überhaupt. Missmutige Antwort, und weiter ging’s mit dem Getippe.

Klar, wir Älteren hätten das nicht anders gemacht, nur eben gab es früher keine Smartphones. Noch nicht einmal das Wort „digital“, jedenfalls nicht im Sinne von digitaler Technik. Weder Computer gab es, noch Selfies noch Pokémons. Noch nicht einmal den Fernseher kannte man! Allerdings eben auch kein Fernsehverbot, falls zuhause ein Eintrag ins Schülertagebuch unterschrieben werden musste: „Heftführung liederlich“, „Brigitte (Jürgen, Monika …) schwatzt im Unterricht“. Ersatzweise gab es paar hinter die Ohren. Sehr konkret fühlbar. Überhaupt, das meiste, was das Leben so bot, war leibhaftiger Natur, war reale Welt. Schreiben erfolgte mit dem Stift auf Papier und nicht mit der Fingerkuppe auf einem Display, Rechnen ebenfalls auf Papier oder auch im Kopf. Ballspielen musste man selber, denn Fußballfernsehen gab’s eben nicht. Wen es nach Abwechslung gelüstete, konnte zusammen mit Freunden „Verstecken“ spielen oder „Räuber und Gendarm“. Sofern nicht gerade Holzhacken angesagt war, Briketts schichten, der Mutter bei der Wäsche helfen, Schuhe für die Familie putzen oder, sofern vorhanden, die Familienkutsche. Für Abenteuer sorgten verlassene Gemäuer oder ein selbstgebautes Baumhaus, und für das Training des Familienlebens war die Freundin da und deren Puppe. Alles sehr leibhaftig, jedenfalls viel gegenständlicher als heute.

Nullen und Einsen

Ganz anders die Welt der Gegenwart. Bestimmt wird sie digital, von einer Technik, die mit gerade mal zwei Ziffern arbeitet: Null und Eins. Und allein auf die Reihenfolge kommt es an, die der Nullen und Einsen, wenn es sich um eine Botschaft auf dem Display unseres Smartphones handelt oder um die Übertragung eines Krimis auf unseren Fernseher. Digital konservierte Musik wird auf Ohrstöpsel übertragen, die die so Verstöpselten von der Hörwelt ringsum abtrennen. Ihre Augen sind blicklos, gerade mal Lampenpfosten registrierend, um mit ihnen nicht zu kollidieren. Digitalisierte Roboter bauen Autos und Flugzeuge, und Roboter bauen Roboter. Digitale Rechner steuern Drohnen, die fremdes Gelände ausspähen oder bombardieren, andere lassen im Schachspiel jedweden Gegner alt aussehen, selbst Weltmeister. Schon gibt es selbstfahrende Autos, fühlende Fußböden und denkende Kühlschränke, sogar Jogurts, die mitteilen, wie lange sie noch frisch sind. Der Fortschritt der digitalen Technik verläuft derart schnell und dramatisch, dass es selbst den klügsten Futuristen nicht möglich ist vorherzusagen, was die Auswirkungen „von Allem auf Alles“ sind. Ganz besonders um die nächsten Generationen geht es. Wie werden sie den Wandel verkraften, wie kommen sie mit einer Welt zurecht, die zunehmend von der virtuellen Art ist? Ist Fortschritt in solchen Ausmaßen begrüßenswert? Denn Fortschritt an sich muss nicht immer gut sein. Auch der Krebs schreitet fort und zerstört, wird er nicht gebremst, am Ende den ganzen Körper. Doch wie den Fortschritt der menschlichen Gesellschaft kontrollieren, wie ihn dosieren? Ein Zurück ins Gestern? Undenkbar!

Gleichwohl, in der Kindheit und Jugend der Älteren von uns ist auch nicht alles von der leibhaftigen Art gewesen. Längst waren Telefon und Radio erfunden, ebenso Fotografie und Kino, Schallplatte und Tonband. Sie ersetzten die leibhaftige Wirklichkeit, wenn auch auf Basis der Analogtechnik. Und diese Techniken waren ebenfalls hochwillkommen. Zum Beispiel Schallplatten. In Form unregelmäßiger Rillen eingepresst, erfreuten sie mit der Stimme Carusos oder von Conny Froboess. Oder die Filme von Hans Moser und Theo Lingen. Sie begeisterten Millionen und Abermillionen Menschen letztlich allein durch die Art, in der Silberkörner auf Zelluloidstreifen verteilt waren. Analog kodiert wurde auch das gesprochene Wort. In Form elektrischer Stromschwankungen war es über Drähte, die sich zwischen schier endlosen Reihen hölzerner Masten spannten, in die entferntesten Gegenden der Welt zu transportieren.

Wozu Bücher?

Ebenfalls kodiert, wenn auch in einer ganz anderen Weise, ist die Schrift. Seit Jahrtausenden gibt es sie, und immer handelt es sich um einzelne Zeichen, die je nach Reihenfolge ganz unterschiedliche Worte und Sätze ergeben. Schriftzeichenfolgen übermitteln Sachinformationen, sie können aber auch Erlebnisse der komplexesten Art bescheren, die denen der Wirklichkeit in nichts nachstehen. Eigentlich eine der wunderbarsten Sachen der Welt: Hochautomatisiert tasten die Augen die Buchstabenfolgen ab, das sogenannte Lesezentrum des Gehirns (in dem Winkel, wo Scheitel-Schläfen- und Hinterhauptlappen aufeinandertreffen) erfährt daraus deren Sinn, und Leistung des Gehirns insgesamt ist es, je nach Text einen Gleitflug durch die Wolken zu erleben, einen Ehekrach mitzumachen, einen Motorradunfall oder eine Klettertour durch die Alpen. Oder es lässt einen Tränen lachen. Allein durch Lesen, allein durch das Ver-folgen von Ab-folgen von Buchstaben, mag das Gehirn eine entsetzliche Angst vor einem Mörder entwickeln. So entsetzlich, dass man die Angst leibhaftig verspürt: der Blutdruck steigt, der Atem stockt, die Pupillen verengen sich, auf der Stirn tritt kalter Schweiß zutage.

„Die Lesefähigkeit von Grundschülern sinkt!“, tönt es justament aus allen Zeitungen. Seit 2001 sei der Anteil der Viertklässler mit einer nur rudimentären Lesefähigkeit von 16,9 Prozent auf 18,9 Prozent gestiegen. Dafür mag es viele Ursachen geben. Eine davon ist ganz sicher die zunehmende Digitalisierung. Bilder, Videos, Gesprochenes, schlampiges Chatten und Smileys ersetzen fließendes Lesen und gewähltes Schreiben. Demnächst kommt vielleicht noch das Fühl- und Geruchskino hinzu, Sex-Roboter gibt es schon, und ein faktisch ereignisloses Leben wird digital enorm intensiviert. Es ersetzt die Wirklichkeit nahezu komplett. Alles ist höchst bequem, wozu dann noch anstrengen, zum Beispiel durch Bücherlesen? Und überhaupt.

Ja, wozu überhaupt alles?