****       Sapere aude!        ****        
                 
Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! – forderte der Philosoph Immanuel Kant vor mehr als 200 Jahren. Er hatte etwas viel von uns verlangt, aber ein wenig sollten wir ihm schon entgegenkommen. Jeder auf seine Weise. Hier die meine.
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Vom Berühren und Berührenlassen

Über eine Sinneswahrnehmung, die auch in Corona-Zeiten kein anderer Sinn ersetzen kann. Volksstimme 15. Januar 2022

Blind oder ohne Gehörsinn zu sein, können Menschen ertragen. Kaum aber ein Leben ohne einen Sinn für Berührungen. Was macht diesen besonderen Sinn, dessen Erfahrungen in Corona-Zeiten eingeschränkt sind, so besonders, und können wir ihn per Computer schon bald ersetzen. Darüber sprach Uwe Seidenfaden mit dem Magdeburger Neurowissenschaftler Professor Dr. Gerald Wolf.

Man sagt, dass wir unsere Umwelt hauptsächlich mit den Augen wahrnehmen. Da bleibt nicht viel für den Tast- und all die anderen Sinne übrig, oder?

Gerald Wolf: Sicherlich, die Augen sind für unsere Orientierung extrem wichtig. Was aber ist mit Blinden, die sich zu 100 Prozent auf all die anderen Sinne verlassen müssen? Sie kommen damit erstaunlich gut zurecht. Wie es heißt, besser sogar als total Ertaubte, da diese mit ihrem Schicksal oft besonders stark hadern. Doch gibt es keinerlei Fälle, bei denen alle die vier Hauptsinne intakt, die übrigen aber ausgefallen sind. Ich freue mich, dass im vergangenen Jahr Forscher mit dem Nobelpreis gewürdigt wurden, die engagiert der Frage nachgegangen sind, wie die Mechanismen aussehen, denen wir die Empfindung von heiß und kalt, von Schmerz und Druck verdanken. Im Vordergrund standen molekulare Strukturmechanismen.

Erstaunlicherweise geht es dabei auch um den Inhaltsstoff der Paprikaschoten, das Capsaicin. Was hat es damit auf sich?

Beim Kauen von Chili glauben wir, in unserem Mund Feuer wahrzunehmen. Tatsächlich ist der dafür zuständige Rezeptortyp ebenso für das Signal „heiß“ zuständig, gleich ob im Mundraum oder auf unserer Haut. Nicht von ungefähr wird im Englischen scharf Gewürztes „hot“ genannt. Durch die frischgebackenen Nobelpreisträger wurden Untersuchungen angestoßen, durch die weitere Rezeptormoleküle entdeckt und eingehend studiert werden konnten. Unter anderem solche für Druck und Berührung, auch für den Blutdruck.

Zu den seltsamen Wahrnehmungen zählt, dass Menschen nach Amputationen Berührungen die entfernten Glieder wahrnehmen können. Wie ist das neurobiologisch zu erklären?   

In der Tat, der Phantomschmerz ist eine höchst seltsame Wahrnehmungsform. Sie beweist, dass der Schmerz nicht dort entsteht, wo er verortet wird, sondern – wo sonst? – im Gehirn. Hier finden wir die Areale, denen die Informationen zufließen, die normalerweise von den Sinnesstrukturen des nun amputierten Gliedes stammen. Offenbar führt dessen Verlust zu Spontaneitäten, die eine reale Existenz vorgaukeln. Missempfindungen, gegen die neben einer medikamentösen Behandlung physikalische Therapien helfen, Reizstromtherapien z. B., aber auch Entspannungsverfahren und verhaltenstherapeutische Maßnahmen. Im allgemeinen werden die Phantomempfindungen umso besser ausgegrenzt, je früher sich der Patient an die Prothese gewöhnt. Mit anderen Worten: Je schneller die Prothese als mit dem Körper verschmolzen wahrgenommen werden kann, desto seltener tritt Phantomschmerz auf.

Es dauert vergleichsweise lang, bis der Stich eines Seeigels im Zeh wahrgenommen wird. Mit anderen Worten: Der Weg von den Augen, der Nase, den Ohren oder dem Mund ins Zentralnervensystems erscheint demgegenüber deutlich kürzer. Warum?

Tatsächlich, die Sinnesmeldungen brauchen jeweils unterschiedlich viel Zeit. Das liegt zum einen an der Art der Sinneszellen, die den Reiz aufnehmen, zum anderen an den Leitungsbahnen, den Nervensträngen (Axonen) also, die die Reizmeldung ins Oberstübchen übertragen. Je dicker die Nervenstränge, umso schneller deren Weiterleitung. Bei den dickeren sind die Axone von sogenannten Myelinhüllen umgeben. Diese weisen Schnürringe auf, wodurch die Meldungen von Schnürring zu Schnürring springen können und dadurch viel schneller sind als bei den dünneren oder gar den „nackten“ Nervenfasern.

Auch Pflanzen nehmen die Umwelt durch Berührung war. Mimosen reagieren darauf in Sekundenbruchteilen. Wie können sie ohne ein Nervensystem Berührungen wahrnehmen?  

Tatsächlich liefern die Mimosen den krassesten Fall. Vor allem die besonders reagible Mimosen-Art Mimosa pudica. Nicht von ungefähr wird sie „Sinnpflanze“ genannt. Jeder, der zum ersten Mal eine Mimose berührt, staunt, ist baff, wenn sich daraufhin ihre Blätter zusammenfalten und die Blattstiele nach unten klappen. „Nur eine Pflanze!“, sagt er sich. Jawohl, auch Pflanzen verfügen, wie alle anderen Lebewesen, über Strukturen, durch die Umwelteinflüsse als Reize wahrgenommen werden, um darauf entsprechend zu reagieren. Bei der Mimose sind es vor allem Druck-(Turgor-)-Änderungen in den Zellen, die zu den Bewegungen führen. Weit üblicher, wenn auch viel langsamer, sind Wachstumsbewegungen. Gut nachzuvollziehen bei Kletterpflanzen. Reizbarkeit gehört zu den Grundeigenschaften einer jedweden Lebensform − samt der jeweiligen Reaktionen. Selbst für einzellige Organismen gilt das. Am augenfälligsten aber für Tiere, zumal dann, wenn sie über ein auf Reizbarkeit spezialisiertes Nervensystem verfügen.

In Elternratgebern wird berichtet, dass bereits ein acht Wochen alter und nur 1,5 Zentimeter großer menschlicher Embryo Berührungsreize wahrnehmen kann. Hat dieser Embryo schon ein Gehirn?  

Das Gehirn wird tatsächlich recht früh angelegt, zwischen der 2. bis 4. Schwangerschaftswoche. Jedoch handelt es sich dabei zunächst nur um eine blasige Struktur, die selbst mit der achten Woche noch völlig unreif ist. Ihre Fähigkeiten sind weit entfernt von denen eines Neugeborenen, geschweige denn von denen eines voll entwickelten Menschen. Dennoch, Reizbarkeit als Grundeigenschaft ist jeder lebenden Zelle gegeben, mithin auch der Eizelle und all ihrer Folgeprodukte. Was wir „höhere Nerventätigkeit“ nennen, verlangt eine entsprechend hohe Komplexität.

In der heutigen Pandemiezeit wird Distanzhalten empfohlen. Selbst das Händeschütteln soll vermieden werden. Wohin wird das uns führen?

Wie fast immer gehen von Wirkungen auch Nebenwirkungen aus, nicht selten Schäden, „Kollateralschäden“. Vor allem Kinder und alte Menschen sind in diesem Fall betroffen. Wahre Grausamkeiten passieren, wenn − aus wohlmeinender hygienischer Absicht zwar – alte Menschen von ihren Angehörigen nicht oder nicht ausreichend besucht werden dürfen. Womöglich sterben sie ohne noch einmal zärtlich berührt zu werden. Oder denken wir an unsere Kinder. Sie brauchen die Mimik und die Gestik der Menschen in ihrer Umgebung. Was aber, wenn Masken das Gesicht verdecken und auf freundlich gemeinte Berührungen verzichtet wird?

Können Jugendliche und Erwachsene das nicht später noch kompensieren? Schließlich gibt es viele Beispiele für herausragende Persönlichkeiten, deren Kindheit recht entbehrungsreich verlief.

Leider sprechen die meisten Erfahrungen, allzumal die der Kinder- und Jugendpsychiater, dagegen. Gleichwohl reagieren junge Menschen individuell unterschiedlich auf solcherart Maßnahmen. Und einige fallen dabei durch das Rost. Über die Spätwirkungen beschränkter oder verzögerter sozialer Kontakte lässt sich selbstredend erst später etwas Verbindliches sagen. Dann aber mag es in dem einen oder anderen Einzelfall zu spät sein.

Was würden Sie raten zu tun?

Unter Beachtung der hygienischen Notwendigkeiten Gesicht zeigen und so viel Körperkontakt wie möglich!

Und was halten Sie von einen Leben in künstlichen Computer-Alternativwelten, in denen man vollkommen gefahrlos vor Infektionen und anderen Risiken sich in fremden Welten bewegen kann? Diese Zukunft ist vielleicht nicht mehr fern.

Im Herbst vergangenen Jahres berichteten führende Unternehmen aus dem Silicon Valley, solcherart Programme zu einem einzigen zu bündeln. Die Menschheit, allzumal die Welt der Kinder und Jugendlichen, soll so zu einem kollektiven virtuellen Raum vereint werden, zu einem „Metaversum“! Wir alle wissen, der Mensch ist nicht nur ein fühlendes und denkendes Wesen, sondern auch ein soziales. Alle unsere tierischen Verwandten − Affen gleich welcher Art − leben gesellig. Und das hat, allzumal für uns Menschen, nicht nur praktische Konsequenzen, sondern auch psychische. Die des Wohlbefindens zum Beispiel.

Dennoch, sind derlei Vorhaben wie die eines von Computern generierten „Metaversums“ entbehrlich?

Darauf zu bauen, dass die Computerei ein vollwertiger Ersatz für die Geselligkeit sein könnte? Bitte nie und nimmer! Gewiss, unsere Kinder und Jugendlichen sind willfährige Kunden. Jeder, der Augen im Kopf hat, sieht wie gebannt sie am PC hocken oder im Lehnstuhl mehr liegend als sitzend auf ihren Handys tippen und wischen. Ab und zu reden sie auch, allein! Eine virtuelle Person ist der Partner. Früher hätte man bei solcherart Gesprächen geglaubt, Anzeichen von Schizophrenie zu erkennen. Und so etwas soll nun weiterentwickelt werden, weiter und immer weiter? Nein, wir sollten uns von der Welt nach Möglichkeit durch alle unsere Sinne berühren lassen!

Infokasten

  • Am 20.Januar, ab 19 Uhr, laden der Naturwissenschaftliche Verein Magdeburg und Emeritio zu einem Vortrag von Professor Gerald Wolf zum Thema "Die Rätsel des alternden Gehirns" in das Naturwissenschaftliche Museum Magdeburg ein. Eintritt frei, um Anmeldung wird gebeten. Der Neurobiologe Gerald Wolf, geb. 1943, ist emeritierter Magdeburger Universitätsprofessor, Hirnforscher und Institutsdirektor. Neben zahlreichen Fachpublikationen und Fach- und Sachbüchern stammen von ihm drei Wissenschaftsromane, kürzlich die Essay-Sammlung „Hirn-Geschnetzeltes“.