****       Sapere aude!        ****        
                 
Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! – forderte der Philosoph Immanuel Kant vor mehr als 200 Jahren. Er hatte etwas viel von uns verlangt, aber ein wenig sollten wir ihm schon entgegenkommen. Jeder auf seine Weise. Hier die meine.
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Gerald Wolf, Gastautor / 16.05.2024

Wir sind das Volk! – Ähm, wer?


Ich, du, er, sie, es – darauf folgt das Wir. In der Grammatik ganz einfach, aber nicht im Leben.
Das Wörtchen „wir“ sagt sich leicht dahin, wer aber gehört zum WIR, wer nicht, wer konkret und wer im großen Ganzen? Diesen Fragen hatte sich kürzlich unser Bundespräsident Steinmeier gestellt, dazu ein Buch geschrieben und einen ganzseitigen Zeitungsartikel: „Die Möglichkeit, ‚wir‘ zu sagen. Patriotismus in unserer Zeit“ (FAZ 15.4.2024).
In dem Artikel wartet der Bundespräsident mit weitgreifenden Überlegungen auf, die darin gipfeln, dass das mit dem Wir so einfach nicht ist. Und schon gar nichts damit zu tun hat oder kaum etwas, ob man in den Grenzen Deutschlands geboren ist, hier schon länger lebt oder erst seit kurzem, ob man die hiesige Sprache spricht oder nicht oder kaum. Vielmehr, so ist der Bundespräsident beim Studium seines Aufsatzes zu verstehen, muss man das Wir einfach nur wollen.

Es ist nicht etwa, wie früher, durch den Begriff „Volk“ zu ersetzen, das sagt ein aus 15 Zeilen bestehender, sehr schwer zu begreifender Satz. Und dann: Vorsicht sei gegenüber Menschen geboten, die auf eine mehr oder weniger geschlossene Herkunftsgemeinschaft setzen (wen wohl wird der Herr Bundespräsident damit meinen?). Denn diese Art der Wir-Bestimmung wäre ein für allemal vorbei. Allerdings hat man als Leser den Eindruck, dass der Autor des Artikels mit dem Wir selbst seine Probleme hat und über weite Strecken hin eher Ratlosigkeit als eine Lösung des Problems zu bieten hat. So ziemlich zum Schluss heißt es bei ihm: „Mit gemeinschaftlicher Freude, wo uns in und mit Europa ein besseres Land gelingt, und mit dem ruhigen Selbstvertrauen, dass auch wir in der Welt ein gutes Land und ein Beispiel sein können.“ – So einfach ist das!
Doch die Frage nun: Wer gehört nicht zum Wir, wer sind die Anderen, die Fremden? Gibt es die überhaupt? Und der Bundespräsident selbst – frühzeitig wurde Frank-Walter Steinmeier politisch aktiv und erfolgreich – ist er typisch für dieses Wir? Gehört er überhaupt zu uns, zu uns hier unten, oder ist er von einem anderen Wir, dem Wir von denen da oben? Wenn, wie einst zur Wendezeit, von den Demonstranten gerufen würde: „Wir sind das Volk“, fühlte sich Herr Steinmeier heute angesprochen oder eher ausgeschlossen?
Im Fußball-Club oder bei den Briefmarkensammlern
Hier in unserer Familie, hier leben wir das Wir. Auch für den Freundes- und den Kollegenkreis gilt das. Ähnlich im Fußball-Club oder bei den Briefmarkensammlern oder den Hobby-Botanikern. Allerdings knirscht es manchmal, hier wie dort. Und das ist ja auch gut, denn immerzu eitel Freude, ständig Gleichklang, nie Kontroversen – nein, ab und zu mal ein Gewitter, eines in der reinigenden Form, das tut not.

Ohnehin gehören alle Menschen dieser Erde ein und derselben Art an. „Homo sapiens“ nennen wir uns, svw. „kluger, weiser Mensch“. Zugleich haben wir allen Grund, uns als „Homo sociologicus“ zu bezeichnen, nämlich als durch Gesellschaftlichkeit geprägte Wesen, als solche nicht zuletzt auch biologisch determiniert. Alle Affenarten sind das, viele Huftiere, die Schwarmfische. Gleich ob in den politischen Ordnungsgefügen oben oder unten rangierend, wir sind ein Wir.
Gemessen an der Endlichkeit unserer individuellen Leben gehören all die Querelen im Miteinander in den Luxusbereich unseres Daseins. Ebenso das Oben und das Unten, zumal es sich oben oft schwerer stirbt als unten. Wozu überhaupt das Oben und das Streben Einzelner hinauf in die höheren, nach Möglichkeit in die höchsten Etagen? In allen menschlichen Sozietäten findet sich dieser Drang, gleichviel ob bei den Ovambos in Namibia oder in unseren politischen Parteien.

Wir auf Neuguinea
Die Insel ist politisch in Hälften geteilt, die eine Hälfte – Westguinea zu Indonesien gehörig – verfügt nur an der Küste über Straßen. Keine führt in das Innere. Zwar finden sich hier Siedlungen nach Art der westlichen Zivilgesellschaft, sie sind aber nur per Flugzeug zu erreichen. Wamena zum Beispiel. Hier gibt es Häuser, Straßen und Autos, doch selbst der Straßenasphalt muss eingeflogen werden. Eine Weile ist es her, da drang ich, der Autor, als Einzelner bis in den Randbereich von Wamena vor und erlebte dort das, wovon ich bisher nur gelesen hatte: Großfamilien, die von denen der Nachbarschaft streng isoliert sind.
Kontaktversuche können schnell tödlich enden, Stammesfehden sind gang und gäbe. Ich hingegen hatte damit keine Probleme, ich wurde von einem Marktbesucher Wamenas in einen solchen Stamm eingeführt und dort recht freundlich begrüßt. So erfuhr ich, wie streng das hier mit dem Wir geregelt ist. Der Bundespräsident Steinmeier fände bei diesen Menschen mit seinen Ansichten keinerlei Akzeptanz. Droht, fragt man sich, bei einer derartigen Isolation nicht Inzucht, Fortpflanzung durch Blutsverwandte? Tatsächlich würde eine solche Gesellschaft nicht lange existenzfähig sein. Dagegen ist seit jeher ein Ausweg im Spiel: Wenn junge Männer im heiratsfähigen Alter sind, werden sie gezwungen, sich eine Frau aus der Nachbarschaft zu rauben. Lebensgefährlich ist das, aber lebenserhaltend. Denn nicht allzu lang hin, dann ist die junge Frau integriert, allemal sind das beider Kinder. Dann wird aus dem Fremdsein ein Wir.

Zwar ist das bei uns mit dem Wir weit großzügiger geregelt, dennoch haben auch wir es nicht mit einem grenzenlosen Einerlei zu tun. So fällt es den meisten bereits schwer, irgendjemanden ohne ersichtlichen Grund anzusprechen. Okay, nach der nächsten Tankstelle kann man fragen, nach einem Café, einem Supermarkt. Da weiß jeder, der ist fremd und braucht Hilfe.
Anders, wenn man hier weder fremd ist noch Hilfe braucht und mit einem x-beliebigen Anderen nur eben mal paar Worte wechseln will. Möglichst gekonnt, also nicht: „Ach das Wetter heute, es ist besser als gestern. Nicht wahr?“ Man möchte sich aber auch nicht der Gefahr ausliefern, dass sich der Angesprochene, dankbar berührt, über sein ganzes Leben verbreitet, inklusive seine Krankheiten. Delikat auch, wollte sich ein einzelner Herr einer ihm fremden Dame per Gespräch andienen. Es sei denn, sie ist bedeutend älter als er. Oder jünger. Auch dann besser nicht. Ebenso wird sich eine Dame hüten, durch allzu große Offenherzigkeit in ein falsches Licht zu geraten.
Tja, wie denn nun? Wie würde sich der Herr Bundespräsident hierbei anstellen, verkleidet natürlich, unkenntlich? Sollte er auf der Straße einen x-beliebigen Menschen einfach mit „Hallo!“ ansprechen und ihm dann bedeuten: „Wir, Sie und ich, wir sind ein Wir. Sie müssen das nur wollen! WollenSie es?“

Der beflügelnde Hund
Führt die andere Seite einen Hund mit sich, wird es einfacher:
„Ach“, sagen Sie der Dame, die da mit dem Weimaraner des Weges einherkommt, „ist das nicht mein Hund?!“
„IHR Hund?“, kommt entrüstet die Antwort. „Es ist mein Hund, mein Rolf-Dieter!“
Sie halten Rolf-Dieter zur Prüfung die Hand hin. Doch Vorsicht, besser die Rückseite! Ein wunderschöner Kerl übrigens. Rolf-Dieter schnuppert, schließlich leckt er an Ihrer Hand, ein wenig. Sie triumphieren: „Sehen Sie!“
„Das kann doch nicht wahr …“
Der Dame verschlägt es die Sprache, und sofort beruhigen Sie: „Nein, nein, nur ein Scherz war das. Ich mag einfach Hunde und kann nur schwer an ihnen vorübergehen. Zumal an einem so schönen“.
Die Besitzerin atmet wieder frei. Und lächelt. Sie setzen noch eins drauf, ebenfalls lächelnd: „Im Ernst jetzt, ich würde Ihnen den Kerl gern abkaufen. So ein schönes Tier!“
Erneute Entrüstung. „Abkaufen, meinen Rolf-Dieter!? Nein und abermals nein. Nie!“
„Aber Sie wissen doch gar nicht, wieviel ich …?“
„Nie und nimmer!“
Und wieder lachen Sie, und nun lacht auch die Dame mit. Aus dem beiderseitigen Sie ist ein Wir geworden.

Auch eine Zigarette tut’s
Man sieht jemand rauchen, schlendert auf die Dame, auf den Herrn zu, eher etwas schüchtern als forsch, und weist mit Freundlichkeit darauf hin, dass die Atmosphäre durch Rauchen zusätzlich belastet wird. Durch CO2. Entrüstung auf der anderen Seite, von wegen wieso, ähm, … und was bilden Sie sich denn …? Sie winken freundlich ab und sagen, das Ganze ließe sich hinbiegen, wenn man Ihnen einen dieser Glimmstängel verkaufen wollte. Dazu präsentieren Sie einen Euro auf der Handfläche und sagen auf ein großzügiges Abwinken hin, das wär‘s ja noch gar nicht ganz, sie brauchten dazu auch noch Feuer.
Niemand, der raucht, mag da widerstehen. Sie ernten ein erlöstes Lächeln und ziemlich gewiss: „Kein Geld, bitte“! Dem ist nun Ihrerseits zu widerstehen, von wegen Schnorren brächte Unglück, unbedingt möchten Sie doch bitten … Das wird im Allgemeinen hingenommen. Nach der Transaktion warten Sie noch mit dem Tipp auf, es mit der Raucherei besser ebenso zu halten. Erstens qualmt man weniger und, zweitens, lernt auf diese Weise nette Leute kennen. Das Eis ist gebrochen und ein Wir entstanden.
Nach eigener Erfahrung funktioniert das Kaufen einer einzelnen Zigarette kaum jemals bei einem der „Geflüchteten“, gleichviel ob er aus Syrien, aus Kurdistan oder aus Marokko stammt. Das ist, wie es scheint, nicht mit deren Grundsätzen zu vereinbaren. Außerdem mögen es die Fremden genießen, einmal einen aus dem Gastgeberland freundlich bittend zu erleben. Wenn dieser dann nach dem Woher und nach der Familie fragt, fehlt nicht viel, und man wird nach Hause eingeladen. Ein neues Wir ist entstanden.

Das Wir der Kleinen und das der Großen
Soziale Fähigkeiten entwickeln sich bereits während der ersten Lebensjahre. Und mit ihnen das Wir-Gefühl und das Freund-Feind-Verhalten. Die kognitiven Leistungen reifen langsamer. Deutlich macht das der Umgießversuch: Erst mit dem 5. oder 6. Lebensjahr wird erkannt, dass sich beim Umgießen von Wasser aus einem breiten Gefäß in viele kleinere, hohe Gefäße am Volumen nichts ändert.
Gleich ob Sozialität oder Intelligenz, immer sind sowohl genetische Faktoren als auch Lernprozesse im Spiel. Im Kindesalter werden genetisch gesteuerte Hirnreifungsvorgänge unter fortschreitender Verschaltung der Nervenzellen mit den Erfahrungen in der Umwelt so verquickt, dass ein hoher Individualitätsgrad resultiert. Selbst bei eineiigen Zwillingen ist das so, die bekanntlich über ein und dasselbe Erbgut verfügen.
Auch Programme, die für das Wir-Empfinden sorgen, gehören dazu. Erfahrungen mit den Geschwistern und den Kindern aus der Nachbarschaft oder der Kinderkrippe spielen dabei herein. Auch, bitteschön, Handgreiflichkeiten. Die sozialen Erfahrungen setzen sich fort über das Schulalter und die Jugendzeit bis hin zur Gründung einer eigenen Familie. Auch am Lebensende lernt man noch hinzu.
Das Ausmaß der Erfahrungen im gesellschaftlichen Umfeld ist nicht zuletzt beruflich begingt und mag bei Politikern besonders groß sein. Schon aus Image-Gründen liegt bei ihnen der Akzent auf dem Wir. Dabei fragt man sich, gilt der Wir-Appell des Bundespräsidenten auch für das Privatleben der Politiker? Zum Beispiel, wenn es um die Integration von Geflüchteten geht. Reden die Politiker nur über Integration und stellen dazu mit mehr oder weniger Erfolg die Weichen in der Verwaltung, oder sind sie auch zu persönlichen Konsequenzen bereit?
Bandeln sie mit Zugewanderten, ihrem Herzen folgend, eben auch einfach mal so auf der Straße an? Laden sie diese zu sich nach Hause ein oder, anders gewendet, sind sie wirklich gern bereit, deren Einladung zu folgen? Begrüßen es unsere Politiker, wenn deren Kinder und Enkel zu den bislang Fremden familiäre Bindungen eingehen? Oder ist das mit der Integration womöglich nur Gerede, nur Getue für die Öffentlichkeit? Und zur Seite unserer Gäste gewandt, wollen diese überhaupt das Wir mit uns? Mit allen Konsequenzen, zum Beispiel auch wahrhaft bitteren der religiösen Art?

Ich, du, er, sie, es – darauf folgt das Wir. In der Grammatik ganz einfach, aber nicht im Leben.