Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! – forderte der Philosoph Immanuel Kant vor mehr als 200 Jahren. Er hatte etwas viel von uns verlangt, aber ein wenig sollten wir ihm schon entgegenkommen. Jeder auf seine Weise. Hier die meine.
Volksstimme 13. Juli 2019
Wieviel Mensch steckt im Tier?
In jüngster Zeit fanden Archäologen zunehmend Beweise dafür, dass die Evolution auf dem Weg zum heutigen Menschen viele Zwischenschritte einlegte. Biologen konnten zeigen, dass Tiere zu Intelligenzleistungen fähig sind, die bislang nur den Menschen zugetraut wurden. Was hebt uns dann überhaupt noch aus dem Tierreich heraus? Darüber sprach Uwe Seidenfaden mit dem Magdeburger Biologen und emeritierten Hirnforscher Professor Dr. Gerald Wolf.
Herr Prof. Wolf: In vielen Schöpfungsgeschichten heißt es, dass Gott vor dem Menschen die Pflanzen und Tiere geschaffen hat. Vom Prinzip her sieht es auch die moderne Wissenschaft so, die Paläontologie. Aber ist der Mensch wirklich die Krone der Schöpfung bzw. der Höhepunkt der Evolution?
Der Mensch hat sich „Homo sapiens“ genannt und meint mit „sapiens“ verständig, klug. Bis heute hat uns darin kein Tier widersprochen, geschweige denn eine Pflanze. Und tatsächlich, in Hinsicht Intelligenz und Machtanspruch sind wir allen anderen Lebewesen himmelhoch überlegen. So hoch, dass wir sie alle – gemäß biblischem Auftrag, meint manch einer – zu Untertanen erklärt haben.
Die Domestizierung von Tierarten ermöglichte uns Menschen ein besseres Leben. Die Entwicklung führte einerseits zur Massentierhaltung und andererseits zu Heimtieren, die verwöhnt werden. Wildlebende Tiere verlieren zunehmend ihren Lebensraum. Wie intelligent ist das?
Alles oder fast alles hat eben auch seine Kehrseite, die fürs erste nicht bedacht wird. Wer schon hatte die künftigen Unfalltoten im Auge, als die ersten Automobile ins Rollen kamen, wer Tschernobyl oder Fukushima, als man begann, die Kernspaltung zur Energiegewinnung zu nutzen? Die Zündung von ein paar Wasserstoffbomben würde ausreichen, den gesamten Planeten zu zerstören. Oder denken wir an die Konsequenzen einer weltweiten Wohlstandsentwicklung, zum Beispiel daran, wie sich ein ungebremstes Bevölkerungswachstum auf die Natur auswirkt und auf die Menschheit selbst. Zyniker könnten sagen: Wie viel besser sind doch die Tiere, da alle ihre Befähigungen zusammengenommen niemals ausreichten, ein derartiges Konfliktpotenzial zu erzeugen.
Andererseits bewältigen Tiere, selbst solche mit deutlich kleineren Gehirnen, spezielle Intelligenztests besser als ein durchschnittlich begabter Mensch. Ist das nicht erstaunlich?
Tatsächlich. Wie beispielsweise gelingt es Fliegen mit einem Gehirn von nur wenigen Hunderttausend Nervenzellen die beste Ausweichroute zur tödlichen Fliegenklatsche in Bruchteilen von Sekunden zu ermitteln? Das sind Fragen, die sich auch die Hirnforscher stellen. Viele Wissenschaftler versuchen, hochintelligent wirkende Prinzipien tierischen Verhaltens auf Roboter zu übertragen. Andererseits lässt sich trotz intensiver Forschung bis heute noch nicht einmal das Zusammenwirken weniger Nervenzellen innerhalb unseres Gehirns exakt beschreiben, erst recht nicht das der insgesamt etwa 100 Milliarden. Wir müssen uns mit Prinziplösungen zufriedengeben.
Die Ureinwohner Malaysias nennen Orang-Utans Waldmenschen. Biologen sprechen von Menschenaffen. Doch gewähren wir ihnen kaum mehr Schutz als anderen Tieren. Immerhin stehen sie dem Menschen ja auch genetisch viel näher als beispielsweise eine Maus, oder?
Was schon heißt „Tier“. Die Palette reicht von der Amöbe bis hin zu den Menschenaffen. Hier wiederum stehen wir den Schimpansen besonders nahe. Umgekehrt sind die Schimpansen mit uns näher verwandt als mit den anderen Menschenaffen, den Orangs also und den Gorillas. Unser Erbgut, die DNA, ist zu 99,5 Prozent identisch. Diese unsere Verwandten einfach als „Tiere“ abzutun, fällt ausgesprochen schwer.
Was halten Sie vom Vorschlag, unseren nächsten Verwandten –Schimpanse, Gorilla und Orang-Utan – Menschenrechte einzuräumen? Dagegen sprechen schwerlich abzuweisende juristische Bedenken. Daher wäre ich eher für eine international abgesicherte, hocheffektive Schutzpflicht.
Rund die Hälfte der Gene teilen wir Menschen mit der Bäckerhefe. Man könnte sagen, zur Hälfte sind wir mit ihr verwandt. Trotzdem stellt niemand in Frage, ob es ethisch zu verantworten ist, genetische Experimente mit der Bäckerhefe durchzuführen. Ist das nicht inkonsequent?
Der größte Teil der Gene wird für ganz grundlegende Aufgaben benötigt: für den Bau der Zellen und die tausenden und abertausenden Enzyme, die den äußerst komplexen Stoffwechsel bewerkstelligen. Demgegenüber erscheinen die Erbinformationen, die für den Bau der Gewebe, Organe und selbst den des Gehirns nötig sind, eher nachrangig. Somit auch die für die Artunterschiede von Mikroben, Pflanzen und Tieren. Ihnen gegenüber uneingeschränkt ethische Verpflichtungen zu hegen, führte zu regelrechten Absurditäten. Dann müssten wir jeder Mücke, wenn sie uns sticht, ihre Blutmahlzeit gönnen, ja selbst der Anopheles-Mücke, der berüchtigten Malaria-Überträgerin.
Ein Zeichen von Intelligenz ist die menschliche Sprache. Eine besondere Rolle spielt dabei das sogenannte FoxP2-Gen. Ist es wirklich einmalig im Tierreich?
Das FoxP2-Gen sorgt als sog. Transkriptionsfaktor für die An- und Abschaltung von einer Vielzahl anderer Gene, darunter solchen, die für den Spracherwerb des Menschen eine wichtige Rolle spielen. Ist dieses „Sprach-Gen“ durch eine Mutation verändert, kommt es zu schweren Sprachstörungen. Bei Schimpansen scheint FoxP2 in dieser Hinsicht keine Funktion innezuhaben, wohl aber bei anderen Tierarten. An Zebrafinken (sie erlernen das Singen ähnlich wie Kleinkinder durch Nachahmung) hat man gefunden, dass Störungen im FoxP2-Gen zu einer starken Vereinfachung ihres Gesanges führen.
Werden wir Menschen die Funktionsweise unseres Gehirns jemals so verstehen, dass wir aus tiefstem Grunde heraus begreifen, was uns in unserem Oberstübchen regiert?
Die Architektur dieses hochgradig vernetzten Gebildes, was wir im Kopf mit uns herumtragen, ist derart verwickelt, dass wir sie nie und nimmer wirklich begreifen können – die Hirnforscher der ganzen Welt und die in aller Zukunft einbegriffen. Immer nur sind Prinziplösungen möglich. Nicht anders ist das mit den Gehirnen von Versuchstieren, z. B. dem von Mäusen mit „nur“ 100 Millionen Nervenzellen. Allerdings gedeiht das Verständnis von Funktionsprinzipien so, dass nervale Störungen besser als früher verstanden werden und damit auch wirksamere Abhilfe möglich wird.