Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! – forderte der Philosoph Immanuel Kant vor mehr als 200 Jahren. Er hatte etwas viel von uns verlangt, aber ein wenig sollten wir ihm schon entgegenkommen. Jeder auf seine Weise. Hier die meine.
Wenn Sie sich dieses Fleckchen genauer ansehen, sehen Sie weit mehr, als unser Geist erfassen kann. Tiere zum Beispiel. Die meisten von ihnen sind so gut wie unbekannt. Deutschlands Fauna wartet mit 40.000 bis 50.000 (!) Arten auf, meistenteils Insekten. Darunter 11.000 Hautflügler, 9.000 Fliegen und Mücken, 8.000 Käfer. Dazu harren fast 4.000 Arten an Höheren Pflanzen Ihrer Bekanntschaft, 100 Farn-, 1.000 Moos- und 2.000 Flechtenarten sowie 4.000 bis 5.000 Arten Höherer Pilze. Nicht zu vergessen die "niederen" Organismen - Tiere, Pilze und Pflanzen, die nur aus einer einzigen Zelle bestehen oder aus nur wenigen. Noch bunter sieht die Welt der Bakterien aus. Von der womöglich in die Millionen gehende Artenanzahl kennt die Wissenschaft bisher nur einen Bruchteil.
Zur Vielfalt dieser Lebewesen kommt die der Landschaftsformen hinzu, die der Boden- und der Gewässertypen und auch die der Klimate. Das Meso-Klima in einem Wald zum Beispiel und das im Uferbereich eines Sees oder das Mikro-Klima unter einem Blatt oder in einem Ameisenhaufen. All das ist Um-Welt, ebenso wie es die unvorstellbar komplexen Wechselbeziehungen der Organismen untereinander sind. Unterschiedliche Pflanzengesellschaften und Faunen ergeben sich daraus und unbegrenzte Beobachtungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten für den - wie altväterlich das klingt! - "Naturfreund".
Der inneren Natur der Lebewesen wird der Naturfreund kaum jemals Aufmerksamkeit schenken. Der Zugang ist zu schwer, spezielle und zum Teil sehr teure Techniken werden dafür gebraucht und all die besonderen Kenntnisse und Fertigkeiten, die ein entsprechendes Hochschulstudium erfordern. Was sich dann dem Betrachter zeigt, ist zumindest ebenso fesselnd. Die meisten Organismen bauen sich aus Hunderten, Millionen oder gar Billionen von Zellen auf. Jede dieser Zellen ist bis zu einem gewissen Grad ein eigenständiges Lebewesen. Ein Mensch z. B. besteht aus etwa 200 Billionen systemhaft zusammenwirkender Zellen, die 200 bis 300 verschiedenen Zelltypen zuzuordnen sind. Jede einzelne dieser Zellen synthetisiert in ihrem Stoffwechsel Tausende und Abertausende Molekülsorten, die jeweils ganz spezielle Zwecke erfüllen. Diese Moleküle stehen untereinander in mannigfaltigen Wechselbeziehungen, die heutzutage als sog. Metabolom nur (aber immerhin) ansatzweise verstanden sind. Die im Erbgut (Genom) molekular verschlüsselten Informationen spielen dabei eine entscheidende - wenn auch nicht die alles entscheidende - Rolle. Bei der Strukturgebung der Zellen, Gewebe und Organe und deren Funktionsmechanismen gibt das Erbgut ebenfalls den Ton an, und es diktiert, ob und wie aus einer Fortpflanzungszelle ein Buschwindröschen oder ein Mensch wird. Störungen der molekularen und zellulären Naturgegebenheiten bedeuten im Regelfall Krankheit, deren Wiederherstellung Heilung.
Ein wahrhaft umfassendes Verständnis dessen, was "Natur" ist - die Natur in allen ihren Feinheiten also und der Filz von Wechselbeziehungen im Kleinen und im Großen -, würde das menschliche Vorstellungsvermögen hoffnungslos überfordern. Trotz gigantischer Detailkenntnis sind wir noch immer fern davon, die Gesamtheit des Chemismus auch nur einer einzelnen Zelle zu verstehen, geschweige denn die des Zusammenwirkens ihrer Verbände innerhalb eines Organismus [siehe "Was ist der Mensch?" (Erkenntnisgrenzen) in Hirngeschnetzeltes]. Schon wenn wir das Gehirn einer Mücke in allen seinen funktionsbeladenen Details und deren schier unendliche Kombinatorik begreifen wollten, würden wir an Erkenntnisgrenzen der grundsätzlichen Art stoßen. Erst recht gilt das für die Erkundung unseres eigenen Gehirns mit seinen 100 Milliarden Nervenzellen, den etwa ebenso vielen kooperierenden Gliazellen und ihrer "überastronomisch" hohen Anzahl von Verschaltungsmöglichkeiten. Aus ihnen ergibt sich das, was wir nach außen hin als das Verhalten eines Tieres, als das eines Menschen wahrnehmen. Als seine Persönlichkeit, seinen Charakter, sein Temperament. Bei der Innenschau entpuppt sich der Modus operandi unseres Nervensystems als Seele, als Geist, und mit ihm dank der ihm eigenen Intelligenz die Kulturfähigkeit (siehe "Neurophilosophy" in Hirngeschnetzeltes). Sie ist es, die uns in der Erkenntnis und der Gestaltung der Welt wie auch der von uns selbst und unserer Gesellschaft allen anderen Lebewesen überlegen macht. Himmelhoch überlegen. Daher auch verdienen wir ein hohes Maß an Selbstrespekt, mithin den Namen, den wir uns selber zugedacht haben:
Homo sapiens
Indes, unsere Kulturfähigkeit hat eine Kehrseite: Mit den stetig wachsenden technischen und gesellschaftlichen Möglichkeiten entfernen wir uns immer weiter von unseren natürlichen Voraussetzungen. All die Wirkungen, die auf Wohlstandsmehrung abzielen, haben Nebenwirkungen. Im Kleinen wie im Großen ergeben sich daraus bedenkliche Wirkungsgeflechte, deren Folgen immer weniger zu überschauen sind. Apokalyptische Ausmaße werden beschworen. Die Weltpolitik ist hilflos und konzentriert ihre Propagandamaschine stellvertretend auf den "Klimakiller CO2" - mit bezweifelbaren Belegen. Von zweifellos größter Brisanz hingegen ist das weltweite Bevölkerungswachstum. Die ursprüngliche Natur existiert nur noch in Resten, und was ihr abgerungen wurde, leidet weltweit unter Übernutzung. Die Folge ist bei anhaltendem Wachstum und sich ständig erhöhenden Lebensansprüchen eine die gesamte Menschheit bedrohende wechselseitige Konkurrenz. Zusammen mit den eskalierenden technischen Möglichkeiten und der praktisch ungehinderten Verbreitung hocheffektiver Waffen entwickelt sich ein immer schwerer zu beherrschendes Selbstvernichtungspotenzial. Es wächst und wächst, weil unsere Weisheit nicht mitwächst. Trotz des "sapiens" im Artnamen.
Schade um uns, schade um unsere Welt!
Verdammt schade!