Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! – forderte der Philosoph Immanuel Kant vor mehr als 200 Jahren. Er hatte etwas viel von uns verlangt, aber ein wenig sollten wir ihm schon entgegenkommen. Jeder auf seine Weise. Hier die meine.
Volksstimme, 21. Mai 2016
Mit Gotteshelm zum Tunnelblick?
Ein Magdeburger Neurobiologe über Erfahrungen in Nähe des Todes und andere Außergewöhnlichkeiten
Wie real sind Nahtod-Erlebnisse und wie entstehen sie? Kann man solche Erfahrungen künstlich herbeiführen? Das sind Fragen mit denen sich der Magdeburger Neurobiologe Prof. Gerald Wolf in einem Urania-Vortrag befassen wird. Vorab sprach Uwe Seidenfaden mit ihm.
us: Herr Professor Wolf. Haben Sie persönlich jemals außergewöhnliche Erfahrungen gemacht, gar in Nähe des Todes?
gw: Zum Glück nicht. So besehen, rede ich wie ein Gehörloser über Beethovensche Sinfonien. Zwar kenne ich mich im Gehirn einigermaßen aus, das ja derlei Erfahrungen produziert, aber kein Hirnforscher weiß genug, um diese wirklich zu verstehen. Es gibt Millionen von Menschen, die nach einem Unfall, einem Herzstillstand, nach einer Vergiftung dem Tod gerade noch entkommen sind, und viele von ihnen wissen Aufregendes zu berichten. Auch lange Zeit danach noch empfinden sie ihre Erfahrungen als extrem ungewöhnlich, ja nicht selten als „viel wirklicher als die Wirklichkeit“. Die Erlebnisse seien nicht zu vergleichen mit Träumen, auch nicht mit Halluzinationen, wie sie manche von ihnen ebenfalls kennen.
us: Was im Einzelnen berichten Menschen über ihre Nahtod-Erfahrungen?
gw: Gleichsam Standard ist der Tunnelblick: Im Dunkel erstrahlt ein wärmendes Licht, von dem die Betreffenden wähnen, sich am Ende eines Tunnels zu befinden. Mitunter werden in diesem Licht Gestalten gesehen. Manche glauben, Jesus zu erkennen, Jesus am Kreuz, für andere ist es das Strahlen, das von Buddha ausgeht. Begleitet werden solche Visionen von starken Gefühlen – einem tief innerlich empfundenen Frieden, Freude in der erhabensten Form, Glückseligkeit. Manche sehen in Todesnähe längst verstorbene Verwandte und Freunde wieder. Diese sprechen zu ihnen, winken ihnen zu. Ins Leben zurückgekehrt, wirken derartige Erlebnisse häufig fort. Viele haben dann die Angst vor dem Tod verloren, weil sie meinen, in den letzten Momenten ihres Daseins wird sich Ähnliches wiederholen. Doch gibt es auch Menschen, die in solchen Momenten Schreckliches erlebt haben, die Hölle hätte sich vor ihnen aufgetan, von grässlichen Fratzen wären sie bedroht worden. Sehr oft auch wird von außerkörperlichen Erfahrungen berichtet.
us: Außerkörperliche Erfahrungen? Das ist dann also so, wie sich selbst in einem Spiegel / Film zu sehen?
gw: Nicht nur, dass man sich von außen sieht, vielmehr dünkt es dem Betreffenden, außerhalb von sich selbst zu sein. Er schwebt über dem Unfallort und sieht, wie sich der Notfalldienst um ihn bemüht. Oder er schaut über dem OP-Tisch segelnd dem Chirurgenteam zu, wie es sich an ihm zu schaffen macht. Auch wenn der Patient sich hernach sagt, dass dies objektiv besehen völlig unmöglich ist, mag er dennoch davon überzeugt bleiben, dass es eben doch „irgendwie“ geschehen ist und daher auch möglich sein muss. Manche von ihnen glauben, in solchen außerkörperlichen Erfahrungen einen Beleg dafür zu erkennen, dass das Bewusstsein nicht an den Körper gebunden ist, dass es sich verselbständigen kann. Auch, dass das Höchste, worüber wir verfügen, die Seele, nach dem Tode in dieser Form fortexistiere. Unterstützt werden solche Deutungen durch – allerdings sehr seltene – Beobachtungen, wonach derlei Erfahrungen geschehen, wenn im Gehirn keinerlei elektrische Aktivität mehr nachweisbar ist, wenn das Elektroenzephalogramm (EEG) also eine Null-Linie zeichnet. Angeblich seien das, so die Patienten, Phasen schärfsten Denkens gewesen.
us: Gibt es wissenschaftliche Experimente, mit denen sich derartige Erlebnisformen belegen lassen? Oder, was spricht Seitens der Wissenschaften dagegen?
gw: Gegen eine Unabhängigkeit der Seele von unserem Körper, von unserem Gehirn, spricht zum Beispiel, dass Veränderungen von Hirnzuständen sich ganz unmittelbar auf Bewusstseinszustände auszuwirken vermögen. Sie können auf chemischem Wege verursacht werden, z. B. durch Medikamente oder Gifte, mechanisch durch Verletzungen oder elektrisch über feine Elektroden, die in das Gehirn verpflanzt werden, ebenso durch Magnetfelder. Praktisch ausnahmslos sprechen die experimentellen und klinischen Erfahrungen für die Auffassung, dass das Gehirn der alleinige Verursacher des Bewusstseins ist, der „Sitz“ der Seele also. Sämtliche Versuche, anderes zu beweisen, sind bisher fehlgeschlagen. So hat man in OP-Räumen und in Krankenzimmern über den Köpfen der Patienten Bilder oder Zahlenkombinationen ausgelegt, über die nach einem außerkörperlichen Schweben hätte berichtet werden können. Nichts dergleichen ist passiert. Immerhin aber konnte man außerkörperliche Erfahrungen experimentell imitieren. Die Wissenschaftler Henryk Ehrson vom Karolinska-Institut in Stockholm und Olaf Blanke von der ETH Laussanne haben Versuchspersonen mit einer Videobrille ausgestattet, die mit einer hinter ihnen stehenden Videokamera verbunden ist. Über entsprechende 3D-Bilder konnten sich die Probanden dann von hinten betrachten. Schon nach Minuten berichteten sie von eigenartigen Wahrnehmungen ihrer selbst: Ihnen schien, als stünden sie hinter sich. Der Eindruck wurde enorm verstärkt, wenn der Versuchsleiter mit der einen Hand die Vorderseite der Person berührte, ohne das die Person es sieht, und er zeitgleich mit der anderen Hand die Vorderseite des virtuellen Bildes, das die Person per Videobrille wahrnimmt.
us: In ihren Romanen berichten sie, wie es bei magnetischer Reizung des Gehirns zu Nahtoderscheinungen kommt. Gibt es das tatsächlich?
gw: Der kanadische Neuropsychologe Michael Persinger hatte in den 1980er und 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts mit elektrisch induzierten Magnetfeldern experimentiert, um das Gehirn zu religiösen Erfahrungen anzuregen. Angeblich sollten bis zu 80 Prozent seiner etwa 1000 Versuchspersonen dank des von ihm erfundenen „Gotteshelms“ so etwas wie eine „ozeanische Entgrenzung“ erfahren haben, oft auch die unmittelbare Nähe Gottes. Erfahrungen also, wie sie durchaus auch bei Nahtoderlebnissen vorkommen können. Die Versuche wurden andernorts unter Kontrollbedingungen wiederholt. Dabei stellte sich heraus, dass es sich bei den Probanden von Persinger offenbar um Placebo-Effekte handelte. Wie bei homöopathischen Mitteln war es allein die Erwartungshaltung, dass da etwas in der versprochenen Art passiere. Und es passierte eben auch bei abgeschaltetem Strom! Dennoch hatten diese Experimente die Diskussion um die Hirnverursachung religiöser Gefühle sehr beflügelt, ein neuer Forschungszweig war entstanden: die Neurotheologie. Mich selbst faszinierte das Thema, und so hatte ich um die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen eine Story gebaut mit dem Ziel, die Leser auf eine Reise in die spannendsten Gefilde von Hirnforschung und Philosophie zu entführen.
us: Da drängt sich die Frage auf, wie weit wir den Erfahrungsmöglichkeiten des Gehirns trauen dürfen. Konkret gefragt: Was ist Wirklichkeit?
gw: Gute Frage! Im schizophrenen Wahn sind die Betroffenen felsenfest von dem überzeugt, was ihnen ihr Hirn vorgaukelt. Die anderen sind’s, die sich irren, wenn sie bestreiten, dass das Fernsehen heimliche Botschaften über sie sendet, dass Madonna oder dass Thomas Gottschalk wahnsinnig in sie verliebt sind, dass sie von der Mafia verfolgt werden und in ihren Zähnen ein Sender eingebaut ist, über den andere erfahren, was sie gerade denken. Ähnlich verändert sich die Realitätswahrnehmung unter dem Einfluss mancher Drogen.
us: Auch meine Träume erscheinen mir nach dem Erwachen absurd – aber ein normaler Realitätsverlust oder?
gw: Darin sind wir eins! Ich frage mich beim Aufwachen, wie ich so verblendet sein konnte, die abstrusesten Trauminhalte für die Wirklichkeit zu halten. Und tatsächlich, gewöhnlich sind wir während des Träumens von der Echtheit dieser Traumwelten überzeugt, einem Wahnkranken nicht unähnlich. Nur eben verfliegt diese Überzeugung mit dem Aufwachen, und wir befinden uns wieder auf dem Boden der Wirklichkeit. Wie kann das sein, und warum verharren die Wahnkranken in der Realitätsflucht? Die Nahtoderlebnisse, wiewohl wirklichkeitsfern, werden ebenfalls für wahr gehalten, oftmals ein ganzes Leben lang. Diese Zustände verwehen auch nicht in der Weise, wie wir es von den Träumen kennen. Was sind das für Schalter in unserem Gehirn, die beim Normalen einfach umgelegt werden, so dass er wieder im Hier und im Jetzt landet?
Us: Werden Sie im Vortrag darauf eine Antwort geben?
Gw: Wer weiß (Niemand kennt sie.)
Infokasten mit Vortraghinweis
Nicht alle Hirnforscher können über die Vorgänge im Kopf des Menschen so spannend und geistreich berichten wie der Magdeburger Neurobiologe Professor Gerald Wolf. Während drei Jahrzehnten Lehr- und Forschungsarbeit an der Otto-von-Guericke-Universität begleitete er tausende Studenten auf ihrem Weg in die Medizin, in die Neurowissenschaften und in die Psychologie. Wolf hat u.a. zwei Wissenschaftsromane geschrieben, in denen Nahtod-Erfahrungen eine besondere Rolle spielen. Darin wird auch über Versuche berichtet, die Erlebnisse experimentell hervorzurufen. Die Erkenntnisse über die Hirnprozesse in unmittelbarer Todesnähe wird Gerald Wolf in einem Urania-Vortrag am 30 Mai 2016 vorstellen.