Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! – forderte der Philosoph Immanuel Kant vor mehr als 200 Jahren. Er hatte etwas viel von uns verlangt, aber ein wenig sollten wir ihm schon entgegenkommen. Jeder auf seine Weise. Hier die meine.
Geisteswissenschaften, Moral, Religion und Bildung – bald nur noch „Neuro-“? Zum Verhältnis von Geistes- und Neurowissenschaften
Gerald Wolf
(Online-Veröffentlichung in "Gehirn&Geist", Juli/August 2007)
Die Neurowissenschaften 1 boomen und mischen überall mit. Sie machen selbst vor dem nicht halt, was wir Geist oder Seele nennen. Zu Recht eigentlich, denn Geist und Seele sind Produkt des Gehirns, und was Wunder, wenn sich die Hirnforscher auch und ausdrücklich für die höchsten Etagen der Hirnleistung zuständig fühlen. In der Vergangenheit allerdings hatten sie nicht allzu viel zu bieten, um diesen Anspruch zu rechtfertigen. Und so waren es die Geisteswissenschaftler, die die Phänomene des Geistes, nomen est omen, zu ihrer Domäne erklärten und über lange Zeit fast unangefochten besetzten. Das wenige, was die Hirnforschung zum Verständnis von Geist und Seele bisher beitrug, wurde von Seiten der Geisteswissenschaften, weil vermeintlich irrelevant, oft nicht einmal zur Kenntnis genommen.
Das hat sich gründlich geändert. Heute, auf ihrem Siegeszug, drohen die Neurowissenschaften, den Geisteswissenschaften angestammte Plätze streitig zu machen. Mit immer diffizileren Techniken und dank weltweit großzügiger finanzieller Unterstützung schicken sich die Hirnforscher an, in Erfahrung zu bringen, welche Strukturen und Mechanismen es denn sind, die im Gehirn die spezifischen Eigenheiten von Geist und Seele produzieren. Dabei eröffnen sich ganz neuartige Einblicke und mit ihnen Erklärungs- und Deutungsmöglichkeiten, die den konventionellen Geisteswissenschaften versagt bleiben, weil ihnen das dafür notwendige methodentechnische Rüstzeug fehlt und, außerdem, ihre Herangehensweise an unsere mentale Beschaffenheit eine prinzipiell andere ist. Dank der „Einmischung“ der Neurowissenschaften hat unser Selbstbild eine bisher so kaum für möglich gehaltene Präzisierung erfahren. Mit ihren Erfolgen wächst bei den Geisteswissenschaftlern das Gefühl einer Bedrohung, die Befürchtung, auf eigenem Terrain mehr und mehr an Bedeutung zu verlieren. Manche wähnen, eine ernsthafte Krise heraufziehen zu sehen. Wie begründet aber ist diese Furcht? Denn schon mehren sich die Stimmen, die mit guten Argumenten davor warnen, die Interpretationshoheit der Neurowissenschaften zu überschätzen. Und tatsächlich, nicht immer handelt es sich um Wissenschaft, wenn sich die Vertreter dieser Zunft zu Wort melden. Wenn es um die breitere Öffentlichkeit geht, greifen sie gern auch einmal zum Zylinderhut und dem Stöckchen und zaubern dann, eines staunenden Publikums gewiss, eine Melange aus Fakten, Vermutungen, Plausibilitäten und Metaphern.
Entsubjektivierung: Nicht ich habe gemordet, nein, mein Gehirn war’s!
Einige Neurowissenschaftler hatten in den Medien für großen feuilletonistischen Trubel gesorgt, und manche rühren noch heute nach Kräften in Gazetten und Talk-Runden, indem sie mit einer Art von Sendungsbewusstsein behaupten, dass es keinen freien Willen gäbe. Man könne nicht anders wollen, sagen sie, als es das Gehirn mit seinen angeborenen Eigenschaften und den im Wechselspiel mit der Umwelt erworbenen vorgibt. Das berühmt gewordene Experiment von B. Libet (1), untermauert durch Folge-Experimente, wird in den Kronzeugenstand gerufen. Tatsächlich kann man damit beweisen, dass der Moment des subjektiv empfundenen Wollens durch unbewusst ablaufende Hirnprozesse vorentschieden wird. Innerhalb eines Sekundenbereiches passiert das, erkennbar an einer speziellen hirnelektrischen Aktivität, dem sogenannten motorischen Bereitschaftspotential. Gewiss, ein sehr bemerkenswertes, nachdenklich stimmendes Phänomen. Dass aber der Willensempfindung vermutlich ebenfalls eine Latenzphase vorangeht, sie im Stillen also mit dem motorischen Bereitschaftspotential zusammen generiert wird, womöglich gar im selben Hirnareal, findet man auffällig wenig diskutiert. Wäre ja auch nicht sonderlich spektakulär. Für weit mehr Rampenlicht sorgt da die Feststellung, nicht man selber, sondern das Gehirn entscheide, und der freie Wille sei schiere Illusion. Illusion - ein Begriff, der genauso gut auf den Erlkönig oder auf die Vorstellung von einer permanent friedlichen Welt passt.
Auch und überhaupt sei das „Ich“ eine Illusion! Das Ich-Bewusstsein, so wird bedeutungsschwer formuliert, ist eine Selbst-Reflexion des Gehirns, ist sein Selbstmodell. Und da nun mal Wissenschaft objektiv zu sein hat, werden die Geisteswissenschaften (die sich im Englischsprachigen selbstbescheiden als Humanities geben) zu ihrer Szientifizierung aufgerufen, indem sie ihren Gegenstand, den menschlichen Geist, tunlichst zu entsubjektivieren hätten. Eine „somatische“ Wende benötigten sie, eine neurobiologische, und zwar dringend. Die Kühnsten unter den Postulanten wähnen schon heute, in den Geisteswissenschaften ein Spezialgebiet der Hirnforschung sehen zu dürfen.Fachbezeichnungen, wie Neuro-Psychologie, Neuro-Philosophie, Neuro-Ethik oder Neuro-Linguistik, lassen einen solchen Trend erkennen, und so mancher Pädagoge oder Didaktiker versteht sich derzeit weit lieber als Neuro-Pädagoge oder Neuro-Didaktiker. Auch von einer Neuro-Ökonomie ist seit einiger Zeit die Rede, ja sogar von der Neuro-Theologie. Und weitere Neuro-Bindestrich-Fächer, wenn nicht ohnehin schon geboren, warten auf den Tag, an dem sie das Licht der akademischen Welt erblicken.
Jedoch greift die Erkenntnis Platz, auch unter Neurowissenschaftlern, dass es sich bei all den Entsubjektivierungs-Bestrebungen womöglich nur um einenhohlen linguistischen Trick handelt: Für Ich wird das Zauberwort Gehirn eingesetzt. Nicht ich will, sondern mein Gehirn, nicht ich liebe oder hasse, sondern mein Gehirn liebt oder hasst, nicht ich habe davon die Nase voll, sondern mein Gehirn hat! Dabei ist, nota bene, das „Ich“ nichts anderes als die noch immer oder gar prinzipiell unerklärliche Erfahrung eigener Hirnaktivitäten. Also das, was man mit einem anderen Wort, aber ebenfalls ohne wirklichen Begriff, „Erleben“ nennt - das Erleben von Aktivitäten, die das Gehirn auf sich selbst bezieht, auf das dem Individuum Eigene. Und umgekehrt bezeichnen wir das, was bei dieser Hirnleistung herauskommt, mit dem Kurzwort „Ich“. Sich selbst als ein Ich empfinden zu können, ist die vielleicht größte Leistung der Evolution. Beliebig austauschbar sind Ich und - im Selbst-Bezug - mein Gehirn. Schon die Verwendung von mein, dem Possessivpronomen zu ich, verrät, wie inkonsequent die Entsubjektivierer mit ihren eigenen Entsubjektivierung umgehen. Im Grunde sagen sie nicht mehr, als dass wir ein Gehirn haben, das unseren Geist, unsere Seele, unser Ich-Bewusstsein generiert. Nichts Neues also.
Und dass wir das Produkt aus unseren genetischen Anlagen und unserer Umwelt sind, also gar nicht anders wollen können, als wir wollen und können, ist ebenfalls nichts umstürzlerisch Neues. Niemand kann über seinen Schatten springen, heißt es im Volksmund. Der Autor dieses Artikels ist – nein, ich bekenne: Ich (!) bin - nicht so frei, jemandem für eine Unverschämtheit den Schädel einzuschlagen oder mein gesamtes Geld den Armen dieser Welt zu schenken oder barfuß über glühende Kohlen zu rennen. Theoretisch, bei einem explizit als frei verstandenem Willen, könnte ich das. Andere tun’s und haben damit ihre Freiheiten und ihre Probleme. Ich tu’s nicht und habe die meinen. – Jeder hat seinen naturgesetzlich wie auch individuellen, genetisch und peristatisch determinierten Verfügungsrahmen (klingt großartig, nicht wahr?), oder einfacher: seinen eigenen Schatten. Die Anteile von Erbe und Umwelt in unserem Verhalten und Fühlen und Wollen sind seit mehr als hundert Jahren auf dem Prüftisch und werden dort noch lange bleiben.
So weit, so akademisch. Aber dem Gehirn moralische Verantwortung zuzuschreiben und nicht, wie zumindest unterschwellig nahegelegt, „sich selbst“, sprengt die Grenzen des rein Akademischen. Das Missverständnis bietet sich geradezu an, dass das Gehirn, obzwar Moralinstanz, auch nur eines unter vielen anderen Organen sei, wie die Leber oder der Magen zum Beispiel, - ein Missverständnis, das vor allem dann gefragt sein dürfte, wenn es gilt, sich der Verantwortung zu entziehen. 2 Den Menschen unter Berufung auf eine unzureichend verstandene Wissenschaft von den Regeln des Miteinanders meinen entbinden zu können, ist nicht nur bedenklich, sondern schlichtweg unverantwortlich. „Gehirnversteher“, die sich für so etwas hergeben, müssen sich dann bitte auch gefallen lassen, wenn sie als gemeingefährlich eingestuft werden, abgesehen davon, dass sie dem Ruf der neurowissenschaftlichen Zunft schaden, wenn sie ihre unfertigen, aber lebenspraktisch weitgreifenden und offenkundig ungerechtfertigten Auffassungen selbstgefällig mit medialen Girlanden versehen.
Der Hirn-Gott: Neurotheologie
Für ähnliche Aufregung wie die Debatte um den freien Willen und die Berechtigung des Subjektiven hat die Behauptung gesorgt, mittels Hirnforschung belegen oder wenigstens nahelegen zu können, dass Gott nicht existiere, sondern ein bloßes Hirngespinst sei. Was in diesem Zusammenhang neurowissenschaftlich als einigermaßen belegt gelten kann, ist die Beobachtung, dass sich Momente tiefster Versenkung in den Glauben - durch Meditation oder im Gebet - durch besondere Aktivitäten im Gehirn auszeichnen. Gleichviel ob es sich um ein Faktum handelt oder um eine Fiktion, die Inhalte sind immer virtuell. So trivial die Feststellung auch erscheinen mag: Unsere Innenwelt ist imaginär, nicht „echt“. Wir handeln beim Nachdenken nur mit „Bildern“ in einem Vorstellungsraum und natürlich nicht mit den jeweilig realen Gegenständen in einem wirklichen Raum. Nicht der Duft eines Misthaufens ist in unserem Gehirn, sondern die Information darüber, egal ob die Hinterlassenschaften von Schweinen und Rindern tatsächlich unsere Nase kitzeln, oder wir sie uns nur vorstellen. Dabei sind die zugrunde liegenden nervalen Prozesse immer wirklich, so wirklich wie es die Informationsverarbeitungsprozesse in einem Computer sind. Ein Wirklichkeitskriterium für deren Inhalte aber fehlt ihm, und so ist auch das digitale Bild nur virtueller Art, das der Computer auf den Monitor zaubert. Ob es die Wirklichkeit repräsentiert oder eine Fantasie, kann das System aus sich selbst heraus nicht entscheiden. Ähnlich unterscheiden sich die molekularen und zellulären Mechanismen, die mir die Vorstellung vom Urlaubsort des Vorjahres liefern, nicht zwingend von denen, die es ermöglichen, mir Schneewittchen und die sieben Zwerge oder ein UFO vorzustellen. Und so ist die Vorstellung von Gott ebenfalls nicht zwingend an dessen reale Existenz gebunden, auch wenn sie uns, wird er nicht personal, sondern philosophisch-intellektuell gedacht, an die Grenze des überhaupt Denkbaren führt.
Interessanterweise lässt sich die Gottesvorstellung durch Maßnahmen induzieren, die primär mit Gott selbst nichts zu tun haben, durch Rauschdrogen, wie LSD oder Psilocybin zum Beispiel, durch transkranielle Magnetstimulation, im Nahtod-Erleben mitunter oder auch im Zusammenhang mit einem epileptischen Anfallsgeschehen. Sind wir trotz all der logischen Absurditäten, die den Religionen mit den derzeit etwa 500 000 Göttern oder den ungezählten Formen des Aberglaubens innewohnen, auf Glauben und Glaubensgewissheiten hin programmiert?, lautet die logische Frage. Wie es scheint, ist es so, wenn auch in individuell unterschiedlichem Maße. Dieser Überzeugung gemäß nannten der US-amerikanische Neurologe Andrew Newberg und seine Mitautoren ihr viel beachtetes Buch zur (Neuro-)Biologie des Glaubens: „Why God Won’t Go Away“ (wörtlich: Warum Gott nicht verschwinden wird) (3). Ob aber Gott tatsächlich existiert und unser Gehirn im Schöpfungsprozess so eingerichtet hat, dass wir ihn in den von ihm gewollten Grenzen erkennen können, oder ob Glaubensfähigkeit und spirituelle Begabung ein Ergebnis der (vorwiegend sozio-)biologischen Evolution ist, kann aus Hirndaten heraus nicht abgelesen werden. Grundsätzlich nicht (4)!
Welche Berechtigung hat dann überhaupt die Bezeichnung Neurotheologie? Zumindest doch wohl die, dass, wie in so vielen anderen Fällen auch, die neurowissenschaftliche Herangehensweise gegenüber den Möglichkeiten sensibilisiert, geistige Prozesse (hier solche von theologischer Relevanz) in Form von objektiven Korrelaten zu erfassen. Veränderungen von Hirnaktivitäten im Zustand mystischer Erfahrungen sind neuropsychologisch objektivierbar, ein Grund, der auch den Dalai Lama bewegen wird, wenn er sich an den Ergebnissen der modernen Hirnforschung interessiert zeigt. Auf dem Jahres-Treffen der Neurowissenschaftler in Washington (2005) war er einer der Hauptredner. Jeder Christ sollte sich sagen, wenn Gott sich uns schon nicht direkt, sondern über seine Werke offenbart, dass das Gehirn eines seiner größten Werke ist, von denen wir Kenntnis haben. Es nicht studieren zu wollen, hieße, sein Offenbarungs-Angebot auszuschlagen.
Hänschens Gehirn
Wie profitiert die Bildung des Menschen von der Hirnforschung? Wesentlich für den Bildungsprozess ist die Aufnahme, Speicherung und Abrufbarkeit von Bildungsinhalten aus der natürlichen und sozialen Umwelt, inklusive Kultur und Wissenschaft. Dies setzt Fähigkeiten voraus, die in der Natur des Menschen angelegt sind. Ein Regenwurm, ein Karpfen und selbst der nächste tierische Verwandte des Menschen, der Schimpanse, sind nicht oder (Schimpanse) doch nur sehr beschränkt bildungsfähig, eben weil ihnen dafür die genetischen Voraussetzungen fehlen. Anders gewendet: Der Mensch ist als Lernwesen par excellence von Natur aus hochgradig bildungsfähig und in dieser Hinsicht jedem beliebigen Tier himmelweit überlegen. Affen, Hunde, Katzen oder Papageien können, selbst wenn sie in menschlichen Familien aufwachsen und dort intensiv betreut und unterrichtet werden, menschliche Bildung bestenfalls in einer einfachen, oft nur karikaturhaften Form erwerben. Die Grenzen des Umwelteinflusseswerden damit offenkundig.
Konsequenterweise haben Menschen, bei denen die entsprechenden Erbanlagen durch eine genetische Störung beeinträchtigt sind, eine schicksalhaft verminderte Bildungsfähigkeit hinzunehmen, und dies leider trotz größter Anstrengungen seitens der Eltern und des weiteren sozialen Umfeldes. Mehr noch: Auch beim „normalen“ Menschen variieren die genetischen Anlagen von Individuum zu Individuum, woraus sich naturgemäß Unterschiede in der Bildungsfähigkeit ergeben – Begabungen und Begabungsmängel. Bildungsstrategien, die die natürlicherweise unterschiedlichen Bildungsvoraussetzungen des Menschen ignorieren, werden, wennschon von den besten Absichten getragen, kaum jemals ein Optimum erzielen. Die Verkennung von anlagebedingten Vor- und Nachteilen hat, da realitätsfern, zwangsläufig Unter- bzw. Überforderungen zur Folge, regelmäßig gepaart mit suboptimaler Entwicklung und Resignation. Ziel der Erziehung muss daher die individuell anlagegemäße Stimulation und Steuerung des Bildungsprozesses sein. - Was können die Neurowissenschaften im Konkreten beitragen?
Modellhaft lässt sich das Phänomen des Lernens und der Gedächtnisbildung auf molekularer wie auch auf zellulärer Ebene zunehmend besser erklären. Bis heute aber ist es nicht möglich zu sagen, was bei einem komplexen Lerngeschehen im Gehirn tatsächlich passiert, selbst und gerade dem der alltäglichsten Art: Wenn man lernt, Kaffee zu kochen oder Fahrrad zu fahren oder so glaubhaft wie möglich zu lügen, wenn man sich ein Gesicht merkt oder Jahreszahlen bimst. Anstelle präziser Antworten müssen wir uns auf Prinziplösungen beschränken, mehr können die Neurowissenschaften derzeit nicht leisten. Regelmäßig aber hapert es auch damit, wobei dann die Neurowissenschaftler gern mit Plausibilitätserklärungen aufwarten, und das aus ihrer jeweiligen Fachsicht heraus und vom Laien oft unverdient bewundert. Auch die schönen und faszinierenden bunten Bilder, die man durch Hirn-Scan-Verfahren am lebenden Menschen erhalten kann, helfen der Bildungspraxis nicht wirklich weiter. Die Verortung von Hirnaktivitätsspitzen hat zwar so manche Erkenntnis über die raumzeitliche Verteilung von Hirnleistungen im Zusammenhang mit Lern- und Gedächtnisprozessen gebracht, sie kann aber bis heute nicht - zumindest nicht hinlänglich - auf die molekulare und zelluläre Basisebene bezogen werden. Im Besonderen ist die Aufklärung dessen, was sich auf der Einzelzellebene im Verbund mit anderen Zellen des Gehirns konkret abspielt, gerade einmal ansatzweise möglich. Die bestmögliche Auflösung für die funktionelle Kernspin-Tomo-graphie, dem räumlich feinsten der Hirn-Scan-Verfahren, liegt aus methodentechnischen Gründen bei einigen Kubikmillimetern, in denen jeweils mehrere hunderttausend Nervenzellen teils unterschiedlichster Funktion enthalten sind.
Keine Wunder, aber immerhin!
Die Ergebnisse der Hirnforschung mögen heute schon helfen, wenn es darum geht, bisherige Erfahrungen psychologischer, pädagogischer und didaktischer Art von den Grundlagen her zu untermauern beziehungsweise sie in ihrem Ansatz zu korrigieren. Dafür einige Beispiele:
• Eines der bestätigenden Art ist die Beobachtung einer starken Mitbedingung von Emotionen beim Lernen und der Gedächtnisformung, wie sie sich unter anderem mit bildgebenden Verfahren am Gehirn des Lebenden „unblutig“ demonstrieren lässt. Auf der anderen Seite hat die Hirnforschung wesentlich zur Entzerrung eines Selbstbildes beigetragen, das durch eine einseitig milieutheoretische Betrachtungsweise geprägt war. Dieser Auffassung zufolge schien das Verhalten des Menschen unter Vernachlässigung genetischer Faktoren vor allem oder gar einzig ein Produkt seiner – insbesondere sozialen – Umwelt zu sein. Doch waren es auch wieder die Hirnforscher, die milieutheoretische Ansätze unterstützten, indem sie zum Beispiel (tier)experimentell nachwiesen, dass sich in den für das Lernen relevanten Hirnstrukturen etwas Sichtbares tut, wenn die Umwelt abwechslungsreich gestaltet wird. Sie zeigten auf, dass sich die Anzahl der informationellen Kontakte zwischen den Nervenzellen, die der Synapsen also, erhöht und sogar die Anzahl der Nervenzellen selbst.
• Mit der Entdeckung von sogenannten Spiegelneuronen, zunächst bei Makaken, dann auch beim Menschen, wurde die besondere Leistungsfähigkeit des Menschen in Bezug auf soziales Lernen plausibler. Nervenzellen dieser Art zeigen eine erhöhte Aktivität, wenn Handlungen, Absichten oder Gemütszustände eines Anderen lediglich beobachtet oder vorgestellt werden. Spiegelneuronen spielen beim nachahmenden Erlernen von Handlungen offensichtlich eine besondere Rolle, so beim Spracherwerb. Ebenso wichtig mögen sie beim Zustandekommen der emotionalen und intentionalen Resonanz sein, der „Spiegelung“ von Gefühlen und Absichten unserer Nächsten also. Dieses Sich-Hinein-Versetzen-Können in einen Anderen, die Empathie, ist für das Zusammenleben in der menschlichen Gesellschaft, für unsere gesamte Kultur wie auch für das Prinzip des Humanismus von grundlegender Bedeutung, allerdings eben auch für die Ver-Bildung, für die Un-Kultur, wie sie durch schlechte Beispiele vermittelt werden (ungünstiges soziales Umfeld, Gewaltverherrlichung durch Internet, Fernsehen und Computerspiele). Die Entdeckung der Spiegelneuronen – zu verdanken den italienischen Hirnforschern G. Rizzolatti, L. Fogassi und V. Gallese in den achtziger und neunzigerJahren des vorigen Jahrhunderts (5) – als dem organischen Substrat der Empathie ist in ihrer Bedeutung für das Selbstverständnis von uns Menschen kaum zu überschätzen und dürfte vom Rang her der Entdeckung der DNA für die Biologie vielleicht gleichkommen.
• Hirnbiologische Untersuchungen an Menschen mit extrem hohen Gedächtnisleistungen, sogenannten Savants, haben ergeben, dass dafür keine zusätzlichen neuronalen Speicher erforderlich sind. Vielmehr zeigt sich, dass für dieses Phänomen ein Defekt bei der Bewertung des Informationseingangs nach Art einer Filterstörung verantwortlich ist. Im Regelfall handelt es sich um inselartige Hochbegabungen bei allgemein niedriger Intelligenzleistung. Vereinzelte Beobachtungen ergaben, dass Verletzungen des Gehirns als Folge eines Unfalls solche Fähigkeiten schlagartig „freilegen“ können. Lerntheorien müssen künftig davon ausgehen, dass jeder Mensch über ähnlich hohe Speicherkapazitäten verfügt, dass diese aber aus vermutbar evolutionsbiologisch-lebenspraktischen Gründen blockiert sind. Tatsächlich lässt sich nachweisen, dass das Vergessen ein aktiver nervaler Akt ist, bei dem sogenannten Endocannabinoiden eine besondere Bedeutung zukommt. Es handelt sich um körpereigene Signalstoffe, die an molekularen Empfängermolekülen ansetzen, die auch für die Wirkung der im Hanf enthaltenen Inhaltsstoffe zuständig sind.
• Mit wachsendem, wennschon noch immer unzureichendem Erfolg werden die neurobiologischen Ursachen von Demenzerscheinungen im Alter erforscht. Immerhin ist in den nächsten Jahren bei zunehmend besserer Kenntnis des molekular-zellulären Bedingungsgefüges ein Durchbruch zu erhoffen, der eine kausal orientierte Therapie ermöglicht. Die zunehmend höhere Lebenserwartung in den Industrieländern lässt die Anzahl der Altersdementen immer weiter ansteigen. Allein
in Deutschland gibt es schätzungsweise über eine Million. Symptome sind Vergesslichkeit, Verlust bisheriger Bildungsinhalte, die Verödung geistiger Fähigkeiten, Lernunfähigkeit, charakterliche Veränderungen, Desorientierung und schließlich Pflegebedürftigkeit. Zurzeit ist die Erkrankung nicht heilbar.
• Die transkranielle (durch den Schädelknochen hindurch erfolgende) Magnetstimulation wie auch bestimmte Pharmaka liefern bereits heute die Möglichkeit, die geistige Leistungsfähigkeit messbar zu erhöhen. Neuro- oder Psychostimulantien (Cognitive Enhancers) haben allerdings einen schlechten Ruf, da manche von ihnen bedenkliche Nebenwirkungen zeigen, unter anderem eine zunehmende Abhängigkeit (Sucht). Jedoch wurden mittlerweile Wirkstoffe ohne eine solche Toleranzentwicklung auf den Markt gebracht. Einige (Neuro-) Ethiker erwägen, die „sauberen“ unter diesen Substanzen mögen freigegeben werden, um damit bei jedem, der das wünscht oder nötig hat, die Hirnleistung zu verbessern. „Brain Doping“ also, allmorgendlich ähnlich dem Zähneputzen und dem Duschen kurz nach dem Aufstehen? Ein ethisches Problem, zumindest erscheint es uns heute als ein solches. Was aber in der ferneren Zukunft? Darf man, wenn Pillen zur intellektuellen Leistungsverbesserung einmal zum Alltag gehören sollten, seinem eigenen Kind ein solches Gehirn-Tuning verwehren, es gewissermaßen im „Urzustand“ belassen, wenn Klassenkameraden dank Turbo-Pillen einen höheren Lernerfolg vorweisen und bessere Examens-Chancen haben?
Flirt und Partnerschaft, und schließlich eine eheähnliche Beziehung
Alles wissenschaftlich Belegbare deutet darauf hin, dass es nur eine Welt gibt, eine Welt der Materie, in der das Geistig/Seelische samt Ideenkosmos und Kultur seinen Urgrund dem Hirnorganischen verdankt. Damit sind die Natur-, namentlich die Neurowissenschaftler legitimiert und aufgerufen, ihren Beitrag zur Analyse des Geistigen
zu leisten. Der Erfolg wird umso größer sein, je besser es ihnen gelingt, mit gleichartig bestrebten Wissenschaftlern anderer Disziplinen zu kooperieren. Fraglos wichtigster Partner sind die Geisteswissenschaftler.
Heutzutage gibt es weltweit viele Einrichtungen, die mit kostenaufwendigen Techniken versuchen, den biologischen Mechanismen von mentalen Prozessen im Gehirn auf die Schliche zu kommen – allen voran die bildgebenden Hirnscanverfahren. Doch ist ihr Erfolg schon lange nicht mehr automatisch mit der Installation der teuren Technik gebucht, sondern hängt wesentlich von der Raffinesse und der Präzision der Fragestellung ab, die damit beantwortet werden soll. Zumeist ist sie geisteswissenschaftlicher Art!
Nicht um populistische Metaphern hat es zu gehen, wenn Neuro- und Geisteswissenschaftler zusammenarbeiten, sondern um Präzision und seriöse Interpretation. Die Buntheit und die Schärfe der Hirnscans lassen leicht vergessen, dass es sich um weitgehend artifizielle Darstellungen von Durchblutungs- bzw. Stoffwechselmessungen handelt. Buntheit und Schärfe können nahezu beliebig vorgegeben werden, und schnell sind dann - wie verführerisch! - Funktions“zentren“ ermittelt. Wohlgemerkt: Nicht die regionalen Hirn- aktivitäten werden per Neuro-Imaging erfasst (immer ist das gesamte Gehirn aktiv!), sondern Aktivitäts-Differenzen, und die in Abhängigkeitvon einer jeweils vorgegeben Situation. Stets handelt es sich um ein Mehr oder weniger an Aktivität, denn über eine oder zwei oder drei, machmal auch vier oder fünf synaptische Schaltstellen ist jede Nervenzelle des Gehirns mit jeder anderen gekoppelt und damit an jeder beliebigen Hirnfunktion beteiligt.
Wie tief wir im Verständnis menschlichen Geistes und menschlichen Verhaltens vordringen, hängt wesentlich von der Beachtung ihrer naturgeschichtlichen Dimension ab, und diese und nur diese hat Eingang in unser Erbgut gefunden. Aufgabe der (Neuro-)- Ethologie ist es, mit der Erkundung des Verhaltens der Tiere die naturgeschichtlichen Wurzeln unseres eigenen Verhaltens freizulegen. Die Verhaltens und die Neuro-Genetik liefern weitere wichtige Indizien zur Entschlüsselung unserer geistigen Natur. Auch Untersuchungen an ferneren tierischen Verwandten helfen unserem Selbstverständnis, weil sie den Blick für analoge (funktionsgleiche, wenn auch von einander unabhängig entwickelte) menschliche Verhaltensformen und -tendenzen und deren biologische Sinnhaftigkeit schärfen. Man denke nur an die wunderschönen und zugleich so aufschlussreichen Studien von Konrad Lorenz zum Prägungslernen von Graugansküken, zu den eheähnlichen Beziehungen der Graugans-Eltern oder zum Sozialleben in einer Dohlenkolonie (7).
Wenn auch das Subjekt in der verhaltens- und neurowissenschaftlichen Forschung oft weit in den Hintergrund gedrängt wird, sollten wir uns hüten, das Ich-Bewusstsein als Gespenst abzutun, das das strahlende Licht der Wissenschaft, allzumal das der Hirnforschung, zu scheuen habe. Unter allen Umständen wird das„Ich“ seine Daseinsberechtigung behalten. Es ist das Wertvollste, was wir besitzen, und wir wollen es unseren Nächsten genauso wie uns selbst zuerkennen. Nicht der Ignorierung des „Ichs“ hat sich die Wissenschaft zu verschreiben, nur verständlicher machen sollen sie es.
Wie weit kann die Erkenntnis des menschlichen Gehirnes überhaupt gehen, gibt es generelle Erkenntnisgrenzen? Das menschliche Gehirn ist mit seinen etwa 100 Milliarden Nervenzellen, den 10 oder 100 Billionen Synapsen und einem Netzwerk aus 120 Kilometern von Nervenzellfortsätzen weder durch die Gesamtheit der Wissenschaftler noch gar vom Einzelnen jemals wirklich verstehbar. Bereits 120 miteinander verschaltete Nervenzellen würden bei 10 verschiedenen Zuständen der Einzelzelle (in Wirklichkeit sind es beliebig viele Zustände) ein System bilden, dessen Kombinationsmöglichkeiten die theoretischen Grenzen der Berechenbarkeit erreichen (6). Dieser Tatsache darf sich kein Hirnforscher verschließen, und wenn er es trotzdem tut, dann sollten sich Geisteswissenschaftler durch entsprechende Allwissend-Gebärden nicht verunsichern lassen. Nicht minder bedenklich ist umgekehrt, wenn sich Geisteswissenschaftler wegen „Irrelevanz“ über die Erkenntnisse ihrer Kollegen von der naturwissenschaftlichen Zunft – ungeprüft - hinwegsetzen. Mitunter ist ihr Abstinenzverhalten nur Maskerade, um fehlende Kenntnisse und Bildungsvoraussetzungen zu verbergen.
Was zumindest heute noch als nicht überwindbar gelten muss, vielleicht sogar grundsätzlich nicht überwunden werden kann, ist der Hiatus zwischen der subjektiven Empfindung von Hirnaktivitäten und ihren objektiv erkennbaren Korrelaten, mit anderen Worten: das Leib- Seele-Problem, das Gehirn-Geist-Problem. Die Schönheit der Natur oder der Sixtinischen Kapelle kann aus den objektiven Daten über die Natur beziehungsweise der Farbverteilung in Michelangelos Deckengemälde nicht er fahren werden, und auch nicht durch ein Monitoring der molekularen, zellulären und systemischen Hirnmechanismen, die beim Schönheitserleben ausgelöst werden. Das gilt für Qualia jedweder Art, für Erlebnisqualitäten von Emotionen also, wie Liebe, Hass, Scham und Ekel, oder für Sinnesgefühle, wie Süß, Lindgrün, Laut und Kalt. Doch ist zu erwarten, dass die Ränder zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven in dem Maße aufweichen, in dem die hirnorganischen Bedingungen der Selbstreflexion klarer herausgearbeitet werden.
Die Suche nach Wegen zur neurowissenschaftlichen, mithin naturwissenschaftlichen Analyse des Subjektiven ist und bleibt dennoch dringliches Anliegen (8). Weitere Präzisierungen und Plausibilisierungen unseres Selbst- und Weltbildes sind das Ziel, ebenso ein besseres Verständnis von individuellen Abweichungen gegenüber dem Durchschnittlichen, dem „Normalen“, und das bis hinein in den pathologischen Bereich. Die Trennung der Wege in eine geistes- und eine naturwissenschaftliche Arbeits-, Betrachtungs- und Erklärungsweise ist erkenntnishistorisch gewachsen und - heute noch – Unterschieden in der akademischen Provenienz der Forscher geschuldet. Fraglos wird das getrennte Marschieren an Bedeutung verlieren. An vielen geisteswissenschaftlichen Fakultäten zählen die neurowissenschaftlichen Grundlagendisziplinen schon seit längerem zum Fächerkanon. Nicht kassieren wird die Hirnforschung die Denk- und Theoriengebäude der Geisteswissenschaften, sondern unterkellern und bereichern. Bisher haben alle Wissenschaften ihr Fundament nachträglich erhalten, warum sollte das bei den Geisteswissenschaften anders sein? Die Widerstände sterben mit den Widerständlern aus. Wer scharf hinsieht, erkennt weit
hinten am Horizont die ersten Häuser, über deren Eingang geschrieben steht: „Fakultät für Geistes- und Neurowissenschaften“.
1 „Neuro“ klingt zwar wie „neu“, und tatsächlich mag vieles, wo „Neuro-“ drauf steht, auch relativ neu sein, der Wortstamm aber leitet sich vom griechischen neuron ab (Plural - neura): Nerv. Ursprünglich verstand man darunter eher noch Sehne oder Flechse. Heute wird Neuron nur als Synonym für Nervenzelle gebraucht (Plural Neura, in Analogie zu Elektron oder Ion üblicherweise aber Neuronen oder (schlimmer!) Neurone. Diejenigen Wissenschaften also, die etwas mit den neura, den Nervenzellen, zu tun haben oder gern zu tun haben möchten, rechnet man zu den Neurowissenschaften, allen voran
die Hirnforschung selber.
2 Selbst die Juristen wurden durch die „Neuro-Moralisten“ verunsichert. Immerhin mussten sie glauben, sich in ihrer wohletablierten Auffassung von der Verantwortlichkeit des Menschen mit der Meinung „der“ Wissenschaft konfrontiert zu sehen (2).
Lese-Empfehlung:
(1) Libet, B.: Mind Time: The Temporal Factor in Consciousness. Cambridge/Mass.: Harvard University Press, 2004 (dt.: Mind Time: Wie das Gehirn Bewusstsein produziert. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2005.
(2) Burkhardt, B.: Willensfreiheit aus rechtlicher Sicht. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2007.
(3) Newberg, A., D’Aquli, E., Rause, V.: Der gedachte Gott. Wie Glaube im Gehirn entsteht. München/Zürich: Piper, 2004.
(4) Wolf, G.: Der HirnGott. Oschersleben: Dr. Ziethen, 2005. (ein Wissenschaftsroman).
(5) Rizzolatti, G., Fogassi, L., Gallese, V.: Spiegel im Gehirn. Spektrum der Wissenschaft, März 2007, S.49-55, 2007.
(6) Wolf, G.: Our brain: transparency within bounds. European Rev. 12, 35-44, 2004.
(7) Lorenz, K.: Vergleichende Verhaltensforschung. Grundlagen der Ethologie. Wien/New York: Springer, 1978.
(8) Pauen, M.: Was ist der Mensch? Die Entdeckung der Natur des Geistes. DVA, 2007.