Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! – forderte der Philosoph Immanuel Kant vor mehr als 200 Jahren. Er hatte etwas viel von uns verlangt, aber ein wenig sollten wir ihm schon entgegenkommen. Jeder auf seine Weise. Hier die meine.
Die Rätsel des alternden Gehirns
Magdeburger Hirnforscher Gerald Wolf über Fortschritte und Rückschläge in der Demenz-Forschung
Volksstimme 16. Januar 2021
„Hirn-Geschnetzeltes“ nennt der Magdeburger Neurobiologe und Publizist Professor Gerald Wolf seine Sammlung populärwissenschaftlicher Essays. Sein Vortrag am 21. Januar im Magdeburger Naturkundemuseum fällt wegen der Pandemie leider aus. Uwe Seidenfaden sprach mit ihm.
Herr Prof. Wolf: Viele Jahrzehnte Ihres beruflichen Lebens haben Sie sich mit den Veränderungen im Stoffwechsel von Hirnzellen befasst. Altert unser Gehirn anders als der Rest unserer Organe?
Jedes unserer Organe und alle die in ihm enthaltenen Zelltypen entwickeln sich nach einem eigenen, in unserem Erbgut verankerten Programm. Das gilt auch für die Alterung. Die Haut altert anders als unsere Muskeln, und die wieder anders als unser Gehirn. Hinzu kommen individuelle Unterschiede. Der eine ergraut früher als der andere, oder seine Sehkraft lässt nach, während das Gehör top fit bleibt, beim nächsten mag es umgekehrt sein. Die Gehirnmasse beginnt schon relativ früh zu schrumpfen, seine Funktionen aber sind davon unterschiedlich betroffen. Doch generell nehmen die Informations-Verarbeitungsgeschwindigkeit und die Problemlösefähigkeiten mit dem Alter ab. Und das – wie Test ergeben – bereits mit dem 30. Lebensjahr. Einige wenige von uns weisen schon früh Anzeichen von Demenz auf, die meisten erst jenseits der Siebzig oder Achtzig. Und manche bleiben davon bis ins hohe Alter verschont.
Ist das Schicksal oder kann man dagegen etwas tun?
Demenz, also das Nachlassen geistiger Fähigkeiten im Alter, ist Schicksal. Dennoch sind wir ihm nicht hilflos ausgeliefert. Untersuchungen an Zwillingen beweisen das. Schwedische Wissenschaftler verglichen eine große Anzahl älterer ein- und zweieiiger Zwillinge, Menschen also, die zum einen als genetisch identisch zu gelten haben, und solche, die miteinander zwar hochgradig verwandt, aber dennoch zu etwa 50 Prozent voneinander verschieden sind. Es ging um Altersunterschiede bei der Entwicklung der häufigsten Form der Demenz, der Alzheimerschen Krankheit. Bei den eineiigen Zwillingen betrug er zwischen 3,5 und vier Jahre, bei den zweieiigen Zwillingen etwas über acht Jahre. Die genetische Last ist damit ganz offenkundig, zugleich aber zeigt sich Luft für Gegenmaßnahmen. Zu den wichtigsten gehört, was gemeinhin als „gesunder Lebensstil“ gilt, also der Verzicht auf Rauchen und andere Suchtmittel, der Genuss von Alkohol in Maßen (nicht: in Massen!) und eine ausgewogene Ernährungsweise. Auch geistige und körperliche Regsamkeit, Geselligkeit und die Kultivierung von Lebensfreude erweisen sich als günstig, fast alle der sogenannten Nahrungsergänzungsmittel aber als nutzlos.
Leider gibt es gegen die Demenz, darunter die vom Alzheimer-Typ, kein ursächlich wirkendes Medikament, geschweige denn eine vorbeugende Impfung. Im vergangenen Jahr wurden die Hoffnungen auf eine neue medikamentöse Therapie mit monoklonalen Antikörpern erneut enttäuscht. Stimmen die Vorstellungen über die Biologie der Alzheimer-Demenz nicht?
Trotz jahrzehntelanger, weltweit intensiver Forschung fehlen der Medizin bis zum heutigen Tag durchschlagende Behandlungserfolge. Für die Gehirne von Menschen, die an der Alzheimerschen Krankheit leiden, sind Ablagerungen von Beta-Amyloid im Hirngewebe typisch, wenn auch nicht gesetzmäßig. Seit Jahrzehnten ist die Alzheimer-Forschung auf dieses Eiweiß gerichtet. Da nun alle die Versuche, dagegen anzugehen, enttäuscht haben, wächst die Skepsis. Man fragt sich nun, ob das sich im Gehirn von Dementen ansammelnde Beta-Amyloid tatsächlich die Ursache der Erkrankung ist oder vielleicht eher deren Folge.
Gibt es keine alternativen Hypothesen?
Ja, alternativ richten Forscher ihre Aufmerksamkeit auf das Tau-Protein. Es ist Bestandteil der winzigen Röhrchen, der Mikrotubuli, die in nahezu allen unseren Zellen vorkommen. Mit zunehmendem Alter, allzumal in den Nervenzellen, behängt sich dieses Tau-Protein mit immer mehr Phosphatgruppen. Dadurch verflechten sich die Mikrotubuli zopfartig miteinander, „Tangles“ entstehen, auch Alzheimer-Fibrillen genannt. Und das gehäuft in absterbenden Nervenzellen. Aber auch hierbei ist nicht klar, ob diese Erscheinung für die Erkrankung als ursächlich anzusehen ist. Eher noch taugt sie für die Risiko-Vorhersage. Aber wer schon will das genau wissen, solange die Therapie auf sich warten lässt?
Auch wer Zeit seines Lebens viel Wissen erworben und soziale Kontakte gepflegt hat, ist nicht vor der Demenz geschützt, wie u.a. das Schicksal des Literaturprofessors Walter Jens zeigt. Welche Empfehlungen geben Sie Ihren Angehörigen und Freunden, um möglichst lang geistig auf der Höhe der Zeit zu bleiben?
Niemand kann sagen, ob Walter Jens bei geistiger Bequemlichkeit nicht schon viel früher dement geworden wäre. Gleiches gilt für Menschen, die sich „gesund“ (was immer das eigentlich ist) ernähren und auch sonst auf jedes mögliche Risiko verzichten. Studien an Hundertjährigen haben ergeben, dass unter ihnen kaum jemals Gesundheitsfanatiker zu finden sind. Möglicherweise ist der Stress, wie er bei allzu großer Sorgfalt im Umgang mit sich selbst verbunden ist, eher schädlich. Solchen Menschen sei mehr Lässigkeit anzuraten, etwa in dem Sinne, ab und an ein Glas Bier oder Wein wird schon nicht gleich schaden.
Die Miesepeter und Bedenkenträger sind in erster Linie sich selbst zur Last, nicht wahr ?
Tatsächlich, das ständige Grübeln, inwiefern man vielleicht das und dies hätte besser vermeiden oder berücksichtigen sollen und der Umgang mit griesgrämigen, miesepetrigen Bedenkenträgern, kann mehr schaden als ab und an ein feuchtfröhliches Auf-den-Putz-hauen in geselliger Runde. Das entspricht in etwa auch meiner persönlichen Einstellung und dem Rat, den ich den mir Nahestehenden gebe. So auch verzichte ich auf sogenannte Nahrungsergänzungsmittel und ignoriere die Siegel „Bio“ oder „gentechnikfrei“.
Im Volksmund heißt es, man ist so jung wie man sich fühlt. Doch das eigene Empfinden spiegelt nicht immer den biologisch-körperlichen Zustand wider. Wieviel Wahrheit liegt darin?
Vor den Pandemie-Einschränkungen gab es Gaststätten, in denen es hoch her ging. Da wurde gefeiert, da wurde gesungen und schmetternd gelacht. Oftmals waren es die älteren Leute, die für Stimmung sorgen. Die jüngeren saßen stumm da, auf ihren Smartphones herumtippend und mit Gesichtern, als wäre gerade jemand aus ihrer Mitte gestorben. Man möchte meinen, sie selbst seien schon halb tot.
Was wünschen Sie den Jugendlichen als einer der über 70jährigen?
Ich wünsche ihnen, sich rechtzeitig umzuorientieren, damit sie in den Lebensjahren, in denen es nebenan hochhergeht, nicht wirklich schon dem Ende nahe sind. Man ist halt so jung, wie man sich fühlt!
In Corona-Zeiten wird es vielen Menschen erschwert, neue soziale Kontakte zu knüpfen und alte zu pflegen. Wie bewerten sie die soziale Isolation im Alter aus neurowissenschaftlicher Sicht?
Uns Menschen hatte Aristoteles schon vor mehr als zweieinhalbtausend Jahren das Etikett „Zoon politikon“ verpasst. Wir sind soziale Wesen und können nur gemeinsam überleben. Zwar brauchen wir hin und wieder das Alleinsein, aber dann haben wir davon genug und wollen wieder unter unsresgleichen. Nicht von ungefähr gehört die Einzelhaft zu den schlimmsten Strafen überhaupt. Über unsere gesamte Stammesgeschichte hinweg wuchsen die Kinder zusammen auf - in Großfamilien. In den Industrie-Kulturen von heute jedoch oft als Einzelkind. Es ist fast ein Wunder, möchte man meinen, wenn das nicht zu Verhaltensstörungen führt. Auf der Strecke bleiben auch die alten Menschen, die ihr Lebensende im Alleinsein fristen – starrsinnig geworden, verkracht mit den Nachbarn und Freunden und obendrein, den Regelungen in Corona-Zeiten geschuldet, nur noch ausnahmsweise von den Angehörigen besucht. Viele Alte, hoch verdienstvoll, wünschen sich dann den Tod herbei. Es gibt Kulturen, in denen mit den Alten anders umgegangen wird, besser.
Als Ersatz für fehlende persönliche Kontakte nutzen immer mehr Menschen ihr Smartphon. Überhaupt dringt die Technik immer tiefer in unser Leben ein, in unser geistiges wie in unser körperliches. Ist Homo sapiens irgendwann als rein biologisches Wesen überholt, am Ende sogar das Sterbenmüssen?
Der Ersatz biologischer Strukturen und Funktionen ist längst gang und gäbe. Denken wir an Rollstühle, an Injektionsautomaten für Diabetiker, an die Implantation künstlicher Zähne und Gelenke, an Dialyse-Geräte und Herzschrittmacher. Ohne die letzteren wären viele Menschen nicht mehr am Leben. Inzwischen gibt es sogar Hirn“schrittmacher“, elektronische Apparate, die Menschen aus tiefster Depression herausholen. Selbst an eine künstliche Verlängerung des Lebens, ja sogar an dessen Unbegrenztheit ist zu denken, theoretisch. Denn eine biologische Programmierung in unserem Erbgut ist es, die unsere Zellen, mithin uns selbst, altern und schließlich sterben lässt. Man brauchte sie „bloß“ abzuschalten. Die Grenze des Sinnvollen ist dann erreicht, wenn man mit solcherlei Technik das Ich-Verständnis von Menschen ersetzen wollte, ihr Bewusstsein, ihren Geist, ihre Seele, und am Ende die gesamte Gesellschaft.