****       Sapere aude!        ****        
                 
Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! – forderte der Philosoph Immanuel Kant vor mehr als 200 Jahren. Er hatte etwas viel von uns verlangt, aber ein wenig sollten wir ihm schon entgegenkommen. Jeder auf seine Weise. Hier die meine.
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Gerald Wolf, Gastautor/ 12.11.2023 / 15:00 / Foto; G. Wolf

Zum Beispiel die Börde


Mit seinen Wäldern mache das Land einen schaurigen, mit seinen Sümpfen einen widerwärtigen Eindruck, sagte Tacitus in seiner Schrift „Germania“. Was würde der Geschichtsschreiber der Römer über unsere Börden schreiben, wenn man ihn heute danach fragte?
Speziell über die Magdeburger Börde. Flach ist sie und verkahlt. Mais-, Raps- und Getreidefelder reichen bis zum Horizont, grüne Inseln findet man gerade mal dort, wo sich Dörfer breitgemacht haben. Dazwischen kaum ein Baum, kaum ein Strauch. Bestenfalls Baumreihen, wo Straßen die Landschaft durchziehen. Hier und da gibt es Feldwege. Betoniert sind sie oder asphaltiert, allemal aber breit genug, um riesige Traktoren mit noch riesigeren Landmaschinen entlangfahren zu lassen.
Gut, die Zukunft eben, müsste sich dieser Tacitus sagen. Und sich zugleich fragen: wozu diese Verschandelung der Landschaft? Für die Menschen natürlich, denn die haben das ja so gemacht. Für die Menschen? Aber Menschen sind kaum zu sehen. Für deren Tiere? Auch sind kaum Tiere zu sehen. Und selbst wenn man sie dem Tacitus zeigte, die Menschen in den großen Städten, die Tiere in den Stallungen, so viel an Nahrung können weder die einen noch die anderen brauchen.
Wir Menschen von heute, wir wissen sehr viel mehr, als der Tacitus je wissen konnte. Aber auch wir wissen längst nicht alles, was man wissen könnte oder wissen sollte. Zum Beispiel, dass der größte Teil dieser riesigen Felder für den Anbau von „Energiepflanzen“ verbucht wird. Neuerdings gehören auch Sonnenblumen dazu. Prachtvoll, wenn sie blühen, zur Erntezeit aber schwarzbraune Pflanzenleichen, hässlicher geht es nicht. Und all das für die Energiegewinnung, zur Produktion von Bio-Gas? Ist es wirklich vertretbar, deswegen die Landschaft derart zu verschandeln? In anderen Ländern macht man das doch auch nicht.
Etwas anderes würde dem Tacitus auffallen, wenn man ihn von damals auf heute verpflanzte. Allzumal in die Börde südlich Magdeburgs. So weit man blickt, Landwirtschaft, aber niemand ist auf den Feldern zu sehen. Ab und an vielleicht mal einer dieser riesigen Traktoren, die riesenhafte Maschinen über das Land gleiten lassen, aber gerade mal ein einzelner Mensch, der das Ganze steuert. Tacitus käme nicht umhin, diese Technik zu bewundern. Sie macht die klassische Feldarbeit entbehrlich. Früher gab es nur wenige Menschen, die sich um die Feldarbeit drücken konnten, noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren, so sagt die Statistik, 38 Prozent der Deutschen in der Landwirtschaft beschäftigt. Heute sind es etwa 2 Prozent. Konsequenz: Die Dörfer veröden, viele Häuser stehen leer und verfallen, kaum noch Läden, fast keine Kneipen mehr und erst recht keine Tanzsäle, wie sie früher auf den Dörfern gang und gäbe waren. Wer will da hin? Auch die nach Deutschland Geflüchteten fühlen sich kaum jemals zu unseren Dörfern hingezogen, etwa um in der Landwirtschaft zu arbeiten. Warum eigentlich nicht? Viele von ihnen kommen aus kargen Steppenlandschaften, unsere Böden sind viel, viel ergiebiger − und trotzdem.


Wald, der war einmal
Wer in der Börde lebt oder hier mit dem Auto unterwegs ist, kann sich nicht vorstellen, dass das einst alles Wald war, Wald ohne Anfang und Ende. Die Germanen priesen den Wald, weil er ihnen half, die Römer aufzuhalten und am Ende ganz zu vertreiben. Und wirklich, die Natur war sich selbst überlassen und gedieh prächtig.
Wald gibt es in der Börde schon längst keinen mehr. Viel zu kostbar ist der Boden, um da einfach Wald wachsen zu lassen. In den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts erhielt der Boden der Gemeinde Eickendorf (heute Bördeland) die Bodenwertzahl 100 und galt somit als der fruchtbarste Boden von ganz Deutschland. Nur an den Rändern der Börde gibt es auch heute noch Wälder. Gegenden sind das, auf die die Landwirtschaft nicht sonderlich erpicht ist. Aber auch dann darf der Wald nicht wachsen, wie er will, sondern nur so, wie der Mensch will. Und der will schnell und gerade wachsende Bäume, aus denen sich mit großem Gewinn Bretter machen lassen. Fichten- und Kiefernforste also müssen es sein, eintönig zwar, aber wirtschaftlich.
Eine Ausnahme gibt es: die Kreuzhorst − ein Auwald im Süden Magdeburgs, charakterisiert durch Ulmen und Eschen und durchzogen von einem Alt-Arm der Elbe. Die Kreuzhorst ist ein seit dem Mittelalter behütetes Wald-Relikt. Lange Zeit hielt das Kloster „Unser lieben Frauen“ die Hand über dieses kostbare Fleckchen Natur. Heute wacht der Naturschutz darüber.


Die jüngere Zeit
Als der Autor Ende der siebziger Jahre mit seiner Familie von Leipzig nach Magdeburg gezogen war, gab es auch damals keine beachtenswerten Wälder, die Kreuzhorst ausgenommen. Dafür Wiesen und Flure, in denen es wuchs, wie es wollte. Pflanzen seltenerer Arten gab es, die man heute lange suchen muss. Und Insekten, oft massenhaft. Die Blüten des Bärenklaus bogen sich, so schwer wogen die Krabbeltierchen, die sich an ihnen labten. Heute sitzt da mal eine Blaue Schmeißfliege, dort eine Grüne Goldfliege, woanders ein, zwei Wegwespen oder ein Schmetterling. Der Kleine Fuchs zum Beispiel. Dafür haben die benachbarten Blüten gar keinen Besuch.
Gewiss, den Bärenklau findet man auch heute noch, aber eher vereinzelt. Denn er gehört nicht zu dem Wiesentyp, wie er von der industriellen Landwirtschaft gebraucht und gepflegt wird. Um damit das Vieh zu füttern. Und die Biogas-Anlagen. Selbst das Gras der Wegränder muss für die Gasgewinnung herhalten. Zum Ausgleich schenkt uns die moderne Landwirtschaft Raps- und Maisfelder, die sich bis zum Horizont erstrecken. Und ebenso riesige Getreidefelder. Der größte Teil davon dient wiederum als nachwachsender Rohstoff für die Gas-Gewinnung. Weder Auge noch Ohr werden durch Auffälligkeiten in der Natur abgelenkt. Das Auge auch nicht durch die vielen Windräder, denn daran hat es sich längst gewöhnt.
Früher tirilierten Feldlerchen hoch oben am Himmel, Kiebitze flogen in Scharen auf, wenn man in den Elbauen wanderte; den Wiedehopf und sogar den Großen Brachvogel konnte man dort sehen. Der Brachvogel brütete im hohen Gras, wo die Autobahnbrücke hinüber nach Hohenwarthe reicht. Die Hecken waren voller Vögel, an sonnenbeschienen Hängen harrten Eidechsen, es gab noch Bäche und Tümpel und mit ihnen Frösche und Kröten unterschiedlicher Art. Und wer sich für Insekten interessiert, ahnte spätestens beim zweiten oder dritten Blick in die Krautschicht, wie riesig deren Artenfülle war. Nicht nur die Menge der Pflanzenarten ist zurückgegangen, mit ihnen auch die Vielfalt der Insekten. Zusätzlich werden enorme Mengen an Insektiziden versprüht, um den landwirtschaftlichen Betrieben den Gewinn zu sichern.


Natur beobachten, wozu und wer überhaupt?
Für Ablenkung ist heutzutage gesorgt, überall auf der Welt und natürlich auch für die Bewohner der Börde. Wohin man schaut, gibt man sich von den Handys gefangen. Außerdem wartet zuhause der Fernseher, um uns mit Neuigkeiten zu versorgen. Mit Fußball und mit tatsächlich Wissenswertem. So eben auch mit Sendungen über die Natur. So, wie man die Natur hier vorgeführt bekommt, ist sie in der eigenen Wirklichkeit praktisch nie zu sehen. Wozu dann noch Natur auf die eigene Faust? Und tatsächlich, während früher Spaziergänge mit den Eltern üblich waren, sieht man heutzutage Menschen „draußen in der Natur“ fast nur noch zum Joggen oder um den Hund auszuführen. Spaziergänge mit den Eltern oder Exkursionen mit Lehrern in Wald und Wiese, das gibt es praktisch nirgendwo.
Der Autor machte da zusammen mit Mitarbeitern eine Ausnahme. An einem der Wochenenden im Frühjahr boten sie ihren Studenten (Medizin-Studenten) Exkursionen in die Natur an. Fakultativ waren die, und die Studenten kamen trotzdem. Eines oder zweier Busse bedurfte es, um die jungen Leute vor die Tore der Stadt zu chauffieren. Nicht nur um Heil- und Giftpflanzen ging es, auch was da kreuchte und fleuchte, wurde in Augenschein genommen. Die Frage an die Studenten nach deren Biologielehrern, ob diese denn nicht Ähnliches angeboten haben, wurde regelmäßig mit einem Feixen quittiert. Natürlich nicht, hieß es, die hätten wohl Angst gehabt, gefragt zu werden, was das da für eine Blume sei, wie der Vogel heiße, der da so munter zwitschere, und wie der Käfer.
Früher hatte unsereiner geglaubt, die Grünen wären die Partei, der vor allen anderen unsere Natur am Herzen läge, deren Kenntnis und Schutz. Nun sind die Grünen überall an der Macht, und was hat ihre Macht aus unserer Natur gemacht! Kaum wohl die Natur ist ihr oberstes Anliegen, nein, der „Klimaschutz“. Wie einst die Kirchen den Glauben an Gott zum Dogma machte, so heute die Politiker und Journalisten den Glauben an die Verheerung des Klimas durch das (menschgemachte!) Kohlenstoffdioxid, das CO2.
Einmal hatte sich der Autor unter die Demonstranten von „Fridays for Future“ eingereiht. Um den Jugendlichen mal auf den Zahn zu fühlen, von wegen, welche Mechanismen es denn seien, die das Klima beeinflussen, und wieso das CO2 ein „Killergas“ sei. Nach anfänglichem Bemühen um Antworten ging den Demonstranten recht schnell die Luft aus. Der Hinweis, die CO2-Konzentration wäre 2020 trotz weltweiten Lockdowns stetig weiter angestiegen, machte die einen ratlos, die anderen schienen all seine Fragen und Einwände nicht zu kümmern.

Egal! Egal auch scheint den meisten Menschen der jammervolle Zustand unserer Natur zu sein. Nicht nur den Grünen, sogar den Menschen der Börde.