Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! – forderte der Philosoph Immanuel Kant vor mehr als 200 Jahren. Er hatte etwas viel von uns verlangt, aber ein wenig sollten wir ihm schon entgegenkommen. Jeder auf seine Weise. Hier die meine.
Gerald Wolf, Gastautor / 01.06.2021/ Foto: Raimond Spekking/
Wissenschaftler sind nicht Glaubenschaftler
Was glauben und was nicht? Nehmen wir mal den Glauben an den Elefantengott Ganesha oder an den menschgemachten Klimawandel. Da so viele Andere ebenfalls daran glauben, kann das nicht völlig falsch sein. Es soll Menschen geben, die an nichts glauben, noch nicht einmal an sich selbst. Notorische Skeptiker sind das. Ganz sicher zählen sie nicht zu den Glücklichsten, womöglich noch nicht einmal zu den Glücklichen. Wie glücklich hingegen Kinder schauen, die soeben vom Weihnachtsmann beschenkt worden sind, oder Schüler, wenn sie für ihren Deutsch-Aufsatz ganz unverhofft eine Eins bekommen haben.
Jedermann und jedefrau schauen glücklich drein, wenn sie sich von Anderen bestätigt wähnen oder – was ist mehr? – geliebt. Wie gut das Geliebtwerden tut. Auch dem, der die Gutgläubigkeit des Anderen gar nicht verdient. Menschen, die, im Rampenlicht stehend, gewohnt sind, dass man an sie und ihre Fähigkeiten glaubt, geben sich mitunter recht bescheiden, wenn sie bejubelt werden. Sie stehen Modell für die vielen da unten, die liebend gern mit ihnen tauschten. Mitunter führt das geradewegs in die Glaubensraserei.
So sympathisch das mit dem Glauben und der Glaubensfähigkeit ist oder scheinen mag, es gibt eine Kehrseite. Allzu viele haben an den Sozialismus geglaubt, an den nationalen der Marke Stalin oder Mao oder Hitler. Oder an den von Ulbricht und Honecker. Andere setzen stattdessen auf den Glauben an den einen alleinigen Gott. Wohl wissend, dass er, wenn er es denn tatsächlich sein sollte, Kinder verstümmelt zur Welt kommen lässt oder noch bevor sie eine Sünde begehen können, zu Kranken macht, ja, sie sterben lässt. Unverzagt wird dennoch weitergeglaubt, von so vielen. Auch an irgendwelche Chefs oder Politiker, die das wahrlich nicht verdienen.
Doch gibt es zum Glauben immer eine Alternative: das Wissen. Und wenn das Wissen nicht zur Verfügung steht oder nicht ausreicht, dann ist es das Wissen um das Nicht-Wissen. Dieses in Wissen zu verwandeln, verlangt Anstrengung. Sofern es sich um ein persönliches Defizit handelt, dann durch Nachschlagen in Büchern und Zeitschriften, durch Befragen von Personen, die über das entsprechende Wissen verfügen, oder, heutzutage recht einfach, durch Klicken im Internet. Sind die Wissenslücken grundsätzlicher Art, ist es Sache von Wissenschaftlern, diese zu schließen. Sie beginnen dann mit einer Annahme, dass etwas so oder so sei, mit einer Hypothese also, aber mit dem Ziel, die Hypothese schnell durch Wissen zu bestätigen. Oder, auch das, die Hypothese abzulehnen.
Neue Erkenntnisse werden selten unwidersprochen akzeptiert
Die Anzahl von Wissenschaftlern geht heutzutage in die Millionen und Abermillionen. Ob das, was sie herausfinden, korrekt ist, wird in der Praxis entschieden oder, so in der Grundlagenforschung, über den Diskurs in der Fachöffentlichkeit. Und der zieht sich oft lange hin. Kaum jemals werden neuere Erkenntnisse unwidersprochen akzeptiert. Und immer gibt es dafür ausreichend Gründe, denn was schon ist so eindeutig wie das Ohmsche oder das Hebelgesetz. Oder die Erkenntnis, dass die Erbinformation durch Nukleinsäuremoleküle verschlüsselt wird. Doch sei gewarnt: Regelmäßig kommt es in der Wissenschaft zu Entgleisungen der pseudowissenschaftlichen Art.
Zum Beispiel wird bis zum heutigen Tag von vielen Neurowissenschaftlern glauben gemacht, irgendwann einmal durch ihre Methoden herausfinden zu können, wie unser Gehirn denkt, fühlt und glaubt – ein Gestrüpp aus hundert Milliarden Nervenzellen und dem Tausendfachen an synaptischen Verbindungen. Ich selbst habe das lange Zeit auch geglaubt. Wie ich heute weiß, ist in Anbetracht der astronomisch, ja „überastronomisch“ hohen Zahl von informationellen Kombinationsmöglichkeiten die Hoffnung auf eine solche Analyse geradezu absurd.
Machen wir uns nichts vor, wie in der Politik oder in der Wirtschaft ist es auch in der Wissenschaft gang und gäbe, irgendwelche Behauptungen auf Sockel zu heben, um daraus Dogmen zu machen, Doktrinen zu stricken. Alternative Befunde werden dann kurzerhand verworfen, vertuscht oder als „umstritten“ gebrandmarkt. Bedenklich, wenn dies mit politischem Rückenwind geschieht. Dann werden widersprechende Resultate oder Auffassungen in aller Öffentlichkeit verleumdet und deren Urheber verächtlich gemacht oder zum Schweigen gebracht. Im Regelfall genügt die Androhung von beruflichen Nachteilen.
Entsetzlich, wie man in der Sowjetunion zu Stalins Zeiten die Wissenschaft verbog. Hier wurde eine Irrlehre des Agarwissenschaftlers Trofim Denissowitsch Lyssenko, die der Vererbung erworbener Eigenschaften, zur Staatsdoktrin erhoben, um mit ihr zum Sturm gegen die „faschistische“ Genetik zu blasen. Auf so manche Genetiker warteten Konzentrationslager, die Gulags, wo ihnen der Tod drohte. In der DDR wurde der Kampf mit minderer Gewalt geführt, da das Land mit hochangesehenen, mutigen Genetikern aufwartete, die das Schlimmste verhüteten.
Dennoch sind auch hier erbliche Einflüsse auf die geistige Entwicklung des Menschen rundweg geleugnet worden, Erziehung und Umwelt seien die einzigen Faktoren, auf die es ankäme. Lyssenkos Theorie der Vererbung erworbener Eigenschaften folgend, wollte man den „neuen sozialistischen Menschentyp“ kreieren. Und auch hier fanden sich nicht zu knapp Menschen, die diese Ansichten unterstützten und für die Verbreitung des Dogmas sorgten. Den meisten der anderen fehlte der Mumm zum Widerstand. Vom Bildungsweg her waren sie Wissenschaftler, doch verdienten sie diese Bezeichnung nicht.
Glaube, Wissenschaft und Pseudowissenschaft
Das Wort „Glauben“ verbinden wir klischeehaft mit Religion. Dabei ist die Glaubensfähigkeit eine der Voraussetzungen, um überleben zu können. Andernfalls würden wir uns kaum aus der Wohnung und kaum aus dem Haus getrauen, oder in eine Einkaufspassage, geschweige denn auf ein Fahrrad oder in ein Auto, weil uns ja überall etwas Schlimmes passieren könnte. Dabei sind wir geradezu erpicht darauf, die Risiken, die das Leben nun mal bereithält, zu minimieren. Da heißt es, den Organismus mit genügend Vitaminen, Calcium, Magnesium, Eisen und Spurenelementen zu beliefern und zugleich ein Übermaß zu vermeiden. Auf den Lebensmittelangebot sollte „Bio“ stehen, „gentechnikfrei“ und nach Möglichkeit „vegan“, „laktose-“ sowie „glutenfrei“. Für ausreichend Bewegung ist zu sorgen, körperlich wie geistig. Am besten Sport, aber nicht zu intensiv. Wir glauben das einfach, ja, bilden uns ein, als ob wir das alles genau wüssten.
Indem die Corona-Ängste langsam zurückgefahren werden, nehmen zeitgleich die Sorgen um den Klimaschutz wieder den obersten Rang ein. Die CO2-Konzentration in der Atmosphäre wächst ständig, da der Mensch, heißt es, fossile Energieträger in Unmassen verbrenne. Würde das 2-Grad-Ziel verfehlt, käme es zu einer weltumfassenden Umweltkatastrophe, die die Natur und mit ihr die Menschheit nicht übersteht. Schon jetzt breiteten sich überall die Wüsten aus, heißt es, und die Versteppung nähme zu.
Anderen will das nicht gefallen. Im Gegenteil, sagen sie, CO2 sei ein wichtiger Pflanzendünger, und tatsächlich würde die Erde dank der höheren CO2-Konzentration immer grüner, immer üppiger. Der Zugewinn an vergrünter Landmasse wäre mittlerweile doppelt so groß wie die Landfläche der USA. Offenkundig soll damit Verwirrung gestiftet werden, warum sonst suchen immer mehr Menschen aus anderen Ländern bei uns Zuflucht, allzumal Umweltflüchtlinge? Denn, so weiß man, wir sind ein reiches Land und können es uns leisten, allen diesen Menschen Schutz zu gewähren. Oder auch das harte Eignungsprinzip zugunsten von bislang unterdrückten Bevölkerungsschichten einzuschränken oder auch ganz aufzugeben.
Diese und viele, viele weitere Feststellungen, wird uns gesagt, beruhen auf wissenschaftlicher Basis. Und daran muss man glauben, was sonst? Völlig undenkbar wäre es, alle die jeweiligen Belege aus eigener Kraft beizubringen.
Selbstredend finden sich, wie überall im Leben, auch in der Wissenschaft Querulanten, Leute, die mit pseudowissenschaftlichen Behauptungen versuchen, gegen den Strom zu schwimmen, um andere Menschen zu verunsichern. Doch wie soll man die einen von den anderen unterscheiden?
Ein Großteil der Bevölkerung verfügt nicht, so heißt es hinter vorgehaltener Hand, über die Urteilsfähigkeit, unwahr von wahr und falsch von richtig zu unterscheiden. Umso wichtiger sei es, dass Wissenschaftler ihnen das abnehmen. Ansonsten droht Gefahr. Mein Tipp: Glauben Sie, woran und solange Sie können und dürfen, oder besser noch: Üben Sie sich in Skepsis.