****       Sapere aude!        ****        
                 
Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! – forderte der Philosoph Immanuel Kant vor mehr als 200 Jahren. Er hatte etwas viel von uns verlangt, aber ein wenig sollten wir ihm schon entgegenkommen. Jeder auf seine Weise. Hier die meine.
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Gerald Wolf, Gastautor / 19.07.2025 / 14:00 / Foto: Pixabay/18 /

Wenn du denkst, du denkst
Unser Gehirn ist für seine ungeheure Größe viel zu klein, um sich jemals selbst verstehen zu können. 

Als Knabe einst, sechs- oder siebenjährig, hatte ich zum ersten Mal von „Transmission“ gehört, genauer: von „Transmissions-Riemen“. In meinem Heimatort Limbach war das, einer vorerzgebirgischen Industrie-Gegend. Tief beeindruckt bin ich von der Konstruktion aus Stangen und Eisenrädern gewesen, die sich, angetrieben von einer Dampfmaschine, oben an der Decke ständig drehten. Riemen, „Transmissions-Riemen“ genannt, übertrugen die Drehbewegung auf Maschinen, an denen eifrig gearbeitet wurde. Zehn Stunden pro Tag und den halben Sonnabend. Dann und wann aber war mit der Arbeit Schluss, und wenn nicht die gesamte Anlage zum Stehen gebracht werden sollte, mussten die Transmissionsriemen mit einer langen Stange von einem jeweiligen der großen Antriebsräder heruntergestoßen werden. Dann hieß es: „Endlich Ruhe im Karton!“
Was dort niemand wusste und ich als Pimpf schon gar nicht: Vom Prinzip der Transmission war auch in ganz anderen Branchen die Rede: bei der Übertragung von Erb-Rechten, bei der von Krankheitserregern, von Gefühlen und Gefühlsstörungen oder, in der Physik, beim Übertragen von Schall- oder elektromagnetischen Wellen durch ein Material hindurch. Nach und nach kam der Begriff „Transmission“ auch in der sich entwickelnden Neurophysiologie auf, nämlich wenn es um die Übertragung von nervalen Impulsen ging. So gelang 1921 dem deutsch-österreichisch-amerikanischen Forscher Otto Loewi (Nobelpreis 1936) an einem Froschherzen erstmalig der Nachweis dafür, dass ein chemischer Stoff in der Lage war, Nervenimpulse auf die Herzmuskulatur zu übertragen. Später wurde bekannt, dass es sich um das Acetylcholin handelt, ein chemischer Transmitter, auch Neuro-Transmitter genannt. Acetylcholin, so stellte sich heraus, ist einer der wichtigsten Transmitter in unserem Nervensystem, im peripheren wie auch im zentralen.
Viele weitere chemische Transmitter wurden entdeckt. Allein beim Menschen rechnet man mit fünfzig oder siebzig, ja mit hundert verschiedenen Transmitter-Arten. Manche sind noch nicht genügend erforscht, bei anderen ist die Wirksamkeit strittig. Sogar gasförmige Verbindungen gehören zu den chemischen Transmittern. Zum Beispiel das Stickoxid, die denkbar einfachste chemische Verbindung überhaupt. Von Nervenendigungen freigesetzt, bewirkt Stickoxid die Erweiterung von Blutgefäßen, so im Herzen und auch im Penis. Den lässt es anschwellen.

Dopamin ist nicht gleich Glück
Einen anderen Transmitter herausgegriffen, das Dopamin. Es wird in zwei Stoffwechselschritten aus der Aminosäure Tyrosin erzeugt, macht uns glücklich oder – je nachdem – eher unglücklich und hat mit der Entwicklung von Süchten zu tun. Hochkomplexe Empfindungsstörungen sind das. Aber auch viel einfacher geht es zu. Wird im Gehirn von dem Dopamin zu wenig produziert, kommt es zur Parkinson-Krankheit: Die Muskulatur wird müde, wird steifer, und immer müder und steifer. Schüttellähmung tritt ein. Verabreicht man solchen Menschen eine Stoffwechselvorstufe des Dopamins, das L-Dopa, bessert sich der Zustand. Und was ist dann mit der Sucht, die ja auch mit dem Dopamin zusammenhängt, angeblich mit einem Übermaß an Dopamin? Dann sollte die Verabreichung des Anti-Parkinsonmittels, die der Dopaminvorstufe L-Dopa, zugleich auch glücklich machen. Überglücklich sogar. Ist aber nicht der Fall. Warum?
Tja, warum wohl? Weil mit Bezug auf das Gehirn und seine Wirkmechanismen nichts wirklich einfach ist. Bei der Parkinson-Krankheit allerdings handelt es sich so ziemlich ausnahmsweise um eine 1-Faktor-Störung, nämlich um einen Mangel an dem Transmitter Dopamin. Und dieser ergibt sich allein aus dem Absterben von Dopamin-produzierenden Nervenzellen in einem bestimmten Gebiet des Hirnstammes, Substantia nigra genannt. Bei jedem von uns sterben dort mit der Zeit solche Nervenzellen ab, bei den Kranken aber besonders ausgiebig. Warum, weiß niemand. Die Folge ist ein Mangel an Dopamin in dem Hirnteil, zu dem die Dopamin-produzierenden Nervenzellen über Zellfortsätze ihren Transmitter senden.
Zum Glück kann dem Mangel durch Verabreichung einer Dopamin-Vorstufe abgeholfen werden. Und wenn so, wo bleibt dann der durch das Glücks-„Hormon“ Dopamin vermittelte Glücksrausch? Er tritt nicht ein. Warum? Weil das Dopamin nur einer von vielen Faktoren ist, die für den Glückszustand von Bedeutung sind. So eben kann hin und wieder und auf Dauer das Dopamin in den Hirngebieten, die für das Glücksgefühl zuständig sind, auch einen glücksmindernden Effekt verursachen, ja sogar einen gegenteiligen.
Die Verschaltung all der für das Glücksempfinden zuständigen Nervenzellen ist extrem komplex. Diese wiederum sind mit unbestimmbar vielen anderen zu unüberschaubaren Wirkungsgeflechten verbunden. Nie (nie, nie, nie!) sind diese hinreichend analysierbar. Und immer wieder dasselbe Motto: Unser Gehirn ist für seine ungeheure Größe viel zu klein, um sich jemals selbst verstehen zu können. Es verfügt über etwa hundert Milliarden Nervenzellen. Und diese werden in mehrere hundert verschiedene Typen untergliedert. Manche Neurowissenschaftler schätzen die Anzahl auf ein glattes Tausend, zumal wenn man die Nervenzellen nach ihrer Gestalt und ihren funktionellen und molekularen Eigenschaften sowie deren Kombinationsformen unterteilt.

Was da so alles in unserem Gehirn passiert!
Dem Grunde nach wird alles, was in unserem Gehirn geschieht, was uns fühlen, denken und uns bewegen lässt, durch Transmissionsvorgänge verursacht. Gleichviel ob durch die Chemie oder durch Membranen im Inneren der Nervenzellen, an den Zellmembranen nach außen hin oder bei deren Kontakt mit Nachbarzellen. Und das unterscheidet sich von Individuum zu Individuum und bei ein und demselben von Zeit zu Zeit. Höchst erstaunlich, was da so alles in unserem Gehirn passiert. Durchschnittlich wiegt es mit seinen hundert Milliarden Nervenzellen und etwa ebenso vielen Glia- und Gefäßzellen knapp anderthalb Kilogramm.
Jede dieser Nervenzellen verfügt im Mittel über tausende Kontaktpunkte zu anderen Nervenzellen, Synapsen genannt. Über Synapsen erhalten sie Nachrichten und übertragen diese nach Integration mit anderen Nachrichten synaptisch auf weitere Nervenzellen, zumeist in Form chemischer Neurotransmitter. Abhängig vom Transmittertyp und von der Position der Synapsen auf der Zelloberfläche entsteht von Sekunde zu Sekunde ein zelleigenes Erregungs- oder ein Hemm-Muster, das sich in Form von membranelektrischen Impulsen über die gesamte Zelle ausbreitet.
Und auch hier wieder der Regelfall: Alle diese Impulse integrieren sich zu einem Gesamtmuster, das zu jeweils anderen Nervenzellen ausgesendet wird. Hunderte oder tausende mögen das sein, in manchen Fällen auch hunderttausende oder Millionen gar. Dazu wandert das zelluläre Impulsmuster über einen bestimmten Zellfortsatz, den Axon, zu anderen Nervenzellen. Und das über viele Verzweigungen hinweg, um an den Zielorten, an den nachgeordneten Nervenzellen also, per chemischer Transmission Wirkungen zu entfalten. In speziellen Fällen auch direkt über elektrische Synapsen. Netzwerke ergeben sich so mit unübersehbar vielen Kombinationsmöglichkeiten.
„Jenseits des astronomisch Vorstellbaren“
Das Erstaunlichste dabei: Es funktioniert! Ohne je von einer wie auch immer gearteten Intelligenz konstruiert worden zu sein. Alles dank Selbstoptimierung, alles dank Evolution. Und Fixierung in den Genen. Unvorstellbar! Im Regelfall sind ja, wie wir von der Quantenphysik her wissen, sogar die kleinsten Kleinigkeiten unserer Materie in ihrer Beschaffenheit und Wirkung nicht vorstellbar. Und trotzdem gegeben. Alles in allem in einer Vielfalt von überastronomischer Dimension.

Überastronomisch, was soll das heißen?
Interessant, was dazu mein Handy zu sagen weiß, und zwar der KI Chatbot ChatGPT. Der Begriff bedeute „mehr als astronomisch“ oder „jenseits des astronomisch Vorstellbaren“. Und nach den Verknüpfungsmöglichkeiten im menschlichen Gehirn befragt, antwortet ChatGPT, sie seien „überwältigend groß“ und überstiegen jede heutige Rechenkapazität. Ausgegangen wird dabei von ca. 86 Milliarden Neuronen (Nervenzellen) und jeweils 1.000 bis 10.000 Synapsen. In einem einzigen menschlichen Gehirn insgesamt also 100 Billionen bis 1 Billiarde (10 hoch14 bis 10 hoch 15). Vergleichen wir diese Zahl mit den etwa 10 hoch 80 Atomen in dem uns zugänglichen Universum. Zugleich wird das Beispiel von (legal) möglichen Schachpartien mit 10 hoch 120 Möglichkeiten genannt. Am Ende schlägt ChatGBT vor, die Zustandsmöglichkeiten in einem einzigen menschlichen Gehirn betrügen 10 hoch 1.000.000. Wie schade um jedes Gehirn, wenn sein Träger stirbt!