Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! – forderte der Philosoph Immanuel Kant vor mehr als 200 Jahren. Er hatte etwas viel von uns verlangt, aber ein wenig sollten wir ihm schon entgegenkommen. Jeder auf seine Weise. Hier die meine.
Gerald Wolf, Gastautor / 12.07.2018 / Foto: Tim Maxeiner
Vom Segen eines Misserfolgs
Das ewige Lied: Wir, die wir früher viel jünger gewesen sind als heute, wir waren anders. Und wir sind anders. Anders als die Jungen von heute. Die von heute sind unbekümmert. Uns geht’s doch gut, sagen sie, was soll das ganze Gejammere von wegen Zukunft. Die kommt sowieso. Ob nun ohne Stickoxide und Feinstaub oder mit, mit Flüchtlinge und Islamisierung oder ohne, mit EU und dem Euro oder ohne, mit Gendersternchen oder ... dem Grunde nach alles egal. Hauptsache Spaß. Gar chinesisch lernen? So schlimm wird’s schon nicht kommen. Jedenfalls nicht so bald. Dazu die Alten:
„Die Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte. Die jungen Leute stehen nicht mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widersprechen ihren Eltern, schwadronieren in der Gesellschaft, verschlingen bei Tisch die Süßspeisen, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.“
Nicht von irgendeinem alten Griesgram stammt das, einem, der sich über’m Gartenzaun hinweg über die heutige Jugend auslässt. Auch ist mit „heutzutage“ nicht das Heute von heute gemeint, sondern das von vor zweieinhalb tausend Jahren. Und kein Irgendwer hat das gesagt, nein, Sokrates war das. Auch ist Sokrates kein Griesgram gewesen, gebeugt vom Alter, der den Jugendlichen ihre Jugend missgönnt. Im Gegenteil, immer zu einem guten Gespräch bereit, lebte Sokrates mit und von seinen Schülern, erklärte ihnen, wie er als Philosoph das Leben versteht, wurde von ihnen geachtet, ja hoch verehrt. Dennoch dieser Pessimismus! Tatsächlich ging es mit dem Athen der Antike langsam bergab, und genau das wohl hatte Sokrates beim Studium der seinerzeitigen Jugend geahnt.
Jeder neuen Generation folgt eine neue Auflage dieses uralten Kräftespiels, dem zwischen Alt und Jung, zwischen konservativ und progressiv. Die einen wollen bewahren, was sie für erprobt und bewahrenswert halten, die anderen sind des Alten (und der Alten) überdrüssig und suchen nach neuen Wegen und Ufern. Wenn mit Erfolg, dann mag damit Fortschritt verbunden sein. Gesellschaften, denen solches Fortschrittspotenzial abhanden kommt, werden bald abgehängt sein. Gesetzmäßig. Das zeigt die Geschichte der Menschheit, das sagt die Gegenwart, und auch in aller Zukunft wird das so sein. Es ist ein Entwicklungsprinzip. In der Wirtschaft und der Politik lässt es sich beobachten, in der Wissenschaft, Technik und Kunst, im Spiel, im Sport. Selbst im Krieg.
Blind endende Zweige im Stammbaum
So ist der Weg vom Griffel über die Gänsefeder und die mechanische Schreibmaschine bis zum heimischen PC und Drucker gewesen, von der Quacksalberei hin zur Molekularmedizin, von der Nachbarschaftshilfe zur Sozialgesetzgebung. Und: Die Evolution macht es uns vor. Das Auswägen von konservativen und progressiven Kräfte führte von den ersten Lebensformen hin zu archaischen Bakterien und von diesen über die mannigfaltigsten Verzweigungen zur Rotbuche und zum Gänseblümchen, zum Wasserfloh und zur Stubenfliege oder eben zum Schimpansen und zu uns Menschen.
So weit, so gut. Aber nicht unbedingt gut. Denn das Bisherige ist das jeweils Bewährte, das Neue mag in der einen Hinsicht besser sein, nicht aber in einer anderen. Gefahren können sich mit dem Neuen ergeben. Davon zeugen alle die Millionen und Abermillionen blind endender Zweige im Stammbaum der Lebewesen. Oder denken wir an das Pro und Contra der Kernspaltung oder an die Früchte frühsozialistischen Gedankenguts und deren Korrumpierung durch kommunistische Diktaturen und Linksradikalität.
Fast immer sind es junge Gehirne, die das Neue ausbrüten, und fast immer sind es ältere, die dem Neuen skeptisch gegenüberstehen. Daraus ergibt sich eine gewisse Funktionsteiligkeit. Jugendliche Progressivität sorgt für Dynamik, die Konservativität der Gereifteren für Stabilität. Das zeigt sich unter anderem in der Hirnleistung. Entsprechende Tests ergeben, dass die Intelligenz der Jugendlichen „fluider“ ist. Beim Problemlösen wird das deutlich, im abstrakten Denken und bei der Erkennung von Mustern. Ältere Hirne hingegen verfügen über mehr „kristalline Intelligenz“ und setzen diese gegenüber jüngeren mit Vorteil ein, wenn es um Wissen und Erfahrung geht. Allerdings eben lässt fast immer die Motivationsstärke mit dem Alter nach. Wie vieles andere leider auch.
Eine pathologische Langeweile
Was, wenn es der Gesellschaft so gut geht, dass die Jungen gar keinen Veränderungsdruck spüren, was, wenn sich anstelle eines vernünftigen Verlangens nach Mehr und Besser Überdruss breitmacht? Was, wenn man als Kind und Jugendlicher alles Feine und Gute schon probiert hat, über das neueste Smartphone verfügt und mit den Eltern schon alle Kontinente bereist hat? Was, wenn man als 13-jähriger den ersten Sex hatte, was, wenn vom Elternhaus immer genug Geld kommt und auch kommen wird, um sich alles halbwegs Begehrenswerte leisten zu können? Ohne eigene Arbeit. Die der Eltern genügt. Auch später noch, dafür sorgt deren Testament.
Ja dann? Dann kann schon mal ordentlich Langeweile aufkommen, eine juvenile chronische, eine pathologische Langeweile, eine, mit der man sich Tag für Tag herumzuschlagen hat. Wie mit dem Geschwätz der Anderen, die sich genauso langweilen. Einigermaßen raus verhilft der Kick. Und wenn es nur das Beschmieren von Wänden ist. Mit Botschaften, die genauso geistlos sind, wie man selber ist. Für noch mehr Laune sorgt das Schreddern von Parkbänken und das Klirren von Glasscheiben. Oder das gemeinsame Johlen und Kreischen beim Fußball. Und auf dem Weg hin und dem zurück. Überhaupt macht das Zuschauen Laune, wenn sich andere Leute für unsereinen anstrengen, zum Beispiel eben die da unten auf dem Rasen.
Bei so vielen Möglichkeiten tut man sich mit Alternativen schwer. Diese mögen heißen: Nicht nur an der Oberfläche herumplätschern, sondern auch mal die Tiefe erkunden. Nach Sinn und Ziel des eigenen Lebens suchen, dessen Chancen und Grenzen auskundschaften. Immer gibt es unter den Jugendlichen einen gewissen Prozentsatz, der das von sich aus so macht, auch heute. Menschen also, die dank ihrer Natur „gritty“ sind. Die anderen brauchen regelmäßig einen – nennen wir es: Rippenstoß.
Wenn schon nicht durch die Eltern, die Schule, dann doch vielleicht durch die Gründung einer Familie. Vielleicht auch durch die Rückkehr der Wehrpflicht. Noch wirksamer wohl: durch ein nachhaltig bohrendes Misserfolgserlebnis. Welch glücklicher Zufall, wenn sich rechtzeitig ein guter Guide bietet, jemand, der weiß, worum es im Leben geht, und das auch zu lehren weiß. Denn solche Menschen gibt es – immer noch und hoffentlich in aller Zukunft. Es sind Junge und Alte, Frauen wie Männer, Menschen, denen der Tag zu kurz ist, um alles das zu schaffen, was sie zu schaffen wünschten. Ihnen fehlt es ganz einfach an Zeit, auch ohne jede Twitterei.