****       Sapere aude!        ****        
                 
Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! – forderte der Philosoph Immanuel Kant vor mehr als 200 Jahren. Er hatte etwas viel von uns verlangt, aber ein wenig sollten wir ihm schon entgegenkommen. Jeder auf seine Weise. Hier die meine.
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Ungleich triumphiert

Ungleichheit ist die Voraussetzung für jegliche Selektion, ohne die keine Entwicklung möglich wäre.
Eine Behauptung, die so gar nicht zu dem Gedanken passen will, den einst der britische Schriftsteller und Philosoph Aldous Huxley verfochten hatte. In seinem Roman „Schöne neue Welt“ (1932) entstehen die Menschen durch Klonen einzelner Eizellen. Mithin sind sie jeweils identisch. Alle diese Menschen leben sehr zufrieden in Kasten. Zwischen ihnen gibt es Kontakt nur über die Obrigkeit. Krasser noch in Georg Orwells „Farm der Tiere“. Da heißt es sogar: „Alle Tiere sind gleich“. Nachfolgend allerdings (und schon deshalb wohl ist das Buch berühmt geworden): „… aber manche sind gleicher als die anderen“ (All animals are equal, but some are more equal than others). Huxley wie Orwell nahmen in ihren Fabeln das kommunistische Gleichheitsideal aufs Korn, das bis zum heutigen Tag freudige Zustimmung unter allen jenen findet, die bei der gleichmäßigen Verteilung der Güter mehr zu gewinnen als zu verlieren trachten. Ein dankbares Betätigungsfeld für Demagogen. Alle solche Versuche schlugen fehl, oft genug endeten sie in Diktaturen. Und genau das passiert in den beiden weltberühmt gewordenen Büchern.

Zwischen Sein und Sollen
Zu DDR-Zeiten konnte man an diese Bücher nur „hintenherum“ herankommen. So der Autor dieser Zeilen. Er hatte sich die „Farm der Tiere“ von einem Freund ausgeliehen, das Buch über Nacht im institutseigenen Fotolabor kopiert und die Fotokopie dann an weitere Freunde und Kollegen verliehen. Schätzungsweise einhundertzwanzig sind es gewesen. Entsprechend zerlesen waren die Kopien.
Unser Grundgesetz ist da ganz ande

rs. Jeder darf es lesen, ja, jeder sollte es gelesen haben. Dort, im Artikel 3, heißt es; „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“. Natürlich nur vor dem Gesetz, nicht etwa gemeint ist biologisch gleich. In demselben Artikel heißt es: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“
Allerdings gibt es in puncto freie Meinungsäußerung ein Problem bei Vergehen durch Meinungsäußerungen „unterhalb der Strafbarkeitsgrenze“. Wo ist da die Grenze? Überhaupt hat man mitunter den Eindruck, sobald die Politik beziehungsweise die jeweiligen politischen Farben hereinspielen, werden unsere Richter unsicher. Wer die Medien zu deuten weiß und das, was sie berichten und was sie nicht berichten und wer die verschiedenen Echokammern klingen hört, wird da ein gewisses Gefühl entwickeln.
Ungleich vom Prinzip her
Nicht nur die Arten der Tiere und Pflanzen sind ungleich, ja die welcher Lebewesen auch immer, selbst die Individuen innerhalb einer biologischen Art sind es. Da gibt es keine zwei Gänseblümchen und keine zwei Labormäuse, die einander völlig gleichen. Es sei denn, sie wären im Labor eigens auf Gleichheit hin gezüchtet worden. Und eineiige Zwillinge, solche von uns Menschen? Zwar mögen sie genetisch identisch sein, weitestgehend, dennoch unterscheiden sie sich je nach Entwicklungsbedingungen, individueller Umwelt und Selbstverständnis. Sie alle sind grundverschiedene Ichs.

Ungleichheit, wohin man schaut!

Sie ist die Voraussetzung für die Selektion, für die Auswahl nach dem Eignungsprinzip, und ohne eine solche Selektion gibt es keine Evolution. Ja, gar nicht denkbar wäre sie! Trivial zwar, aber ganz offensichtlich wird das Selektionsprinzip beim Leistungssport. Wären die Teilnehmer alle gleich und blieben auch so, verlöre der Leistungssport seinen Sinn. Es gäbe keine Anstrengung mehr, keinen Kampf um den Sieg, keine Rangplätze. Ebenso notwendig ist die Leistungsbewertung an den Schulen und das Gerangel in den Künsten und in den Wissenschaften. Nicht minder in der Wirtschaft und in der Politik. Wohin man blickt: die Leistung zählt, ihre Bewertung, ihre Belohnung. Wird das Prinzip der leistungsbezogenen Ungleichheit vernachlässigt, dominieren Andere – bei militärischen Auseinandersetzungen mit verheerenden Folgen.

Vom Wolf zum Dackel
Wären die Nachkommen von Wölfen alle gleich, total gleich, hätte es per Zucht niemals zum Hund kommen können, und schon gar nicht zu den so überaus unterschiedlichen Rassen. Wie das? In den Würfen wurde über Jahre und Jahrhunderte hin nach Gestalt, Größe, Fellfarbe und charakterlichen Eigenschaften ausgewählt. Und das seit zehn- oder gar zwanzigtausend Jahren. Noch heute entstehen auf diese Weise und über entsprechend viele Vermehrungsphasen hin neue Hunderassen. Die Federation Cynolique Internationale (FCI) erkennt rund 360 Hunderassen an. Hier fragt man sich, was ein Deutscher Schäferhund mit einem Dackel überhaupt noch zu tun hat? Oder mit einem Pekinesen – Sehr viel: nämlich die gemeinsame Abstammung vom Wolf. So ungleich die Hunde auch wirken mögen, genetisch ist der Schäferhund dem Dackel viel ähnlicher als dem Goldschakal, dem er rein äußerlich weitaus stärker gleicht.
Dauerhaft in Menschenhand und dennoch ständig der natürlichen Auslese anheimgestellt ist die Honigbiene. Bei ihr gehören Draufgängertum zum einen und vorsichtige Zurückhaltung zum anderen zu den individuellen Persönlichkeitseigenschaften. So sind Erkundungsflüge nach neuen Trachten bei schlechtem Wetter nicht „jedermanns“ Sache. Und tatsächlich, die einen Bienen fliegen offenbar unbekümmert drauflos, während die anderen im selben Stock lieber ausharren, bis die Mutigen mit ihrer Nachricht zurückkommen. Auch wenn es nur noch einzelne sind, dann ist für diejenigen, die ausgeharrt haben, womöglich immer noch Zeit. Wären aber alle Individuen vom Draufgängertyp, könnte eine Schlechtwetterperiode zum Aussterben des ganzen Bienenvolkes führen. Umgekehrt gäbe es bei ihnen nur Feiglinge, drohe die Gefahr, dass ab irgendwann die Angehörigen allesamt mangels Alternative Hungers stürben.

Und zurück bis zur Ursuppe
Die Auslese gehört als Evolutionsprinzip auch zum Ur-Anfang des Lebens. Durch Laborversuche wurde nachgewiesen, dass in der sogenannten „Ursuppe“ neben vielen anderen Molekülsorten durch Zufall auch erste Nukleinsäuremoleküle entstehen. Sie unterscheiden sich in der Schnelligkeit, mit der sie molekulare Bausteine für die Selbstvermehrung binden. Die weniger Erfolgreichen verschwinden nach und nach – vom Anbeginn des Anbeginns also das Prinzip der Selektion. Per Zufall ergeben sich weitere Varianten, die im Verein mit anderen in der Ursuppe ebenfalls zufällig entstandenen Molekülarten neue Bestandsstrategien ermöglichen. Geradezu zwingend werden sich Verzweigungen in diesen molekularen Stammbäumen ergeben haben, die ihrerseits zu ganz unterschiedlichen molekularen Verbänden führten. Unterschiedliche Urformen des Lebens also und mit ihnen die ersten Glieder des Stammbaumes der heutigen Organismen. Je höher entwickelt, umso deutlicher der Unterschied zwischen den Individuen, gleich ob eines dieser weit mehr als hundert Bakterienarten, die in unserem Darm leben, ob Pantoffeltierchen, Fliegenpilz, Apfelbaum, Regenwurm oder, bitte schön, Mensch. Das gilt für einen jeden von uns, auch für Sie, verehrte Leserin, verehrter Leser, und für mich, den Autor.

Welch Triumph der Ungleichheit!