Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! – forderte der Philosoph Immanuel Kant vor mehr als 200 Jahren. Er hatte etwas viel von uns verlangt, aber ein wenig sollten wir ihm schon entgegenkommen. Jeder auf seine Weise. Hier die meine.
Gerald Wolf, Gastautor / 24.01.2018 Foto: Jamie McCaffrey
Sind Sie noch normal?
Sind Sie denn noch normal? Wie sollte man auf eine solch anmaßende Frage reagieren? Ignorieren? Dann bleibt die Beleidigungsabsicht auf einem sitzen. Einfach „ja“ sagen? Die Quittung wird eine selbstgefällige Geste des Zweifels sein. Besser vielleicht: „Nein, Verehrteste(r), ganz im Gegensatz zu Ihnen!“ Und der Angreifer wird zum Angegriffenen, von wegen ich und normal, was soll denn das heißen? Stinknormal etwa?
„Normal“ – im Ernst, wer schon möchte das sein, ein durch und durch normaler Mensch? Intelligenz, Kunstsinn, Sportlichkeit, sonstige Persönlichkeitsmerkmale – nichts, aber auch gar nichts Außergewöhnliches an sich haben, alles Durchschnitt? Selbst das Aussehen null-acht-fünfzehn, mit einem Gesicht, als ob es computertechnisch „gemorpht“ wäre? Kaum etwas Persönliches lässt sich in einem solchen Einheitsgesicht entdecken. Möchten Sie, verehrte Leserin, verehrter Leser, so herumlaufen? Wollten Sie völlig durchschnittlich sein, verwechselbar, austauschbar, profil-los?
Das Erbgut von uns Menschen ist zu etwa 99,9 Prozent identisch. Das heißt, bei den sechs Milliarden genetischen Buchstaben, wie sie von unseren beiden Chromosomensätzen repräsentiert werden, unterscheiden sich von Mensch zu Mensch in etwa sechs Millionen solcher molekularen Zeichen (meistenteils als sogenannte SNPs; single nucleotide polymorphisms). Unterschiedliche Häufigkeiten von Genkopien hinzugerechnet, kommen wir beim Buchstabieren individueller genetischer Texte auf gerade einmal 30 Millionen Abweichungen. Das scheint, gemessen am Gesamtumfang, nicht sonderlich viel zu sein, dennoch kann bereits ein einzelner falscher Buchstabe Krankheit bedeuten.
Den völlig durchschnittlichen Menschen gibt es nicht
Einen Eindruck von der Macht genetischer Besonderheiten erhält, wer Personen vergleicht, die ein identisches oder weitestgehend identisches Erbgut haben: eineiige Zwillinge. Doch selbst diese sind noch immer vollständig unterschiedliche Ich-Personen, auch dann, wenn sie unter gleichartigen Umständen aufwachsen. Die Begriffe „normal“ oder „Durchschnitt“ ergeben aus solcher Sicht keinen Sinn. Was sollte das sein, ein völlig durchschnittlicher Mensch? Jeder von uns ist einmalig.
Anders, wenn man anstelle eines spektrallinienartig begrenzten Durchschnittswertes, wie er in der Statistik verwendet wird, einen größeren Bereich absteckt, einen, der dem der Mehrheit der Bevölkerung entspricht. Die meisten von uns werden sich zu dieser Art von Normalität zählen wollen. Bei besonders günstigen Merkmalen allerdings, da möchte man denn doch lieber auf das Prädikat „durchschnittlich“ verzichten.
Im Positiven aus der Masse herauszuragen, macht stolz, und Stolz ist nun mal mit kuscheligen Gefühlen besetzt. Auch dann, wenn wir glauben, uns einer solchen Auszeichnung halber ein bisschen genieren zu müssen. Hingegen möchte man mit Eigenschaften, die belasten beziehungsweise in den Augen der „Normalen“ ein ungünstiges Bild ergeben, gern in der Normalität untertauchen. Allemal Im Falle körperlicher Handicaps. Problematisch wird es bei Abweichungen, die den Geist betreffen, die Seele. Und genau das ist es, was landauf, landab als „nicht normal“ bezeichnet wird.
Ein Beispiel: Das Bild von der Wirklichkeit ist verzerrt. Passiert uns dies des Nachts beim Träumen, gilt das als normal. Auch die Entrückung unseres Denkens tagsüber, wenn es sich von irrealen Hoffnungen oder Befürchtungen treiben lässt, teilen wir mit vielen Anderen. Ebenso Weltanschauungen, Ideologien und religiöse Überzeugungen, mögen sie den Zweiflern noch so absurd erscheinen.
Beim schizophrenen Wahn ist das anders: Der Wahnkranke wähnt, völlig normal zu sein, seine Erlebnisse aber sind für niemanden ableitbar, sie bleiben für die Anderen, die wirklich „Normalen“, absolut unverständlich. Selbst bei gutem Willen finden sie keinen Zugang zur inneren Welt des Kranken. Er wirkt verworren, wenn er behauptet, man hypnotisiere ihn über die Steckdose und über das Internet, sein Denken würde von fremden Mächten entzogen, abgehört und manipuliert.
Ab wann darf Anomalie nicht mehr hingenommen werden?
Ein weites Problemfeld ergibt sich aus dem sexuellen Anderssein. An Masochismus und Sadismus ist da zu denken, an Pädophilie, Nekrophilie und Sodomie, an Triebtäter. Was kann bei den Betroffenen noch als privat gelten, ab wann darf die Anomalie des Einzelnen seitens der „Normalen“ nicht einfach hingenommen werden, ab wann wird sie strafbar?
Das „Sie“ in der Titelfrage lässt sich auch kleinschreiben, nämlich dann, wenn man nach der Normalität ganzer Gruppen von Menschen fragt. An Mörder und Serientäter ist da zu denken, an Fußball-Hooligans, an Extremisten unterschiedlicher politischer Couleur. Auch bei Extremsportlern und Veganern fragen sich das viele, bei der „heutigen Jugend“ und ihren Lehrern, bei Oberfaulen und bienenhaft Fleißigen, bei „krankhaft“ Ehrgeizigen und völlig Ehrgeizlosen.
Die Leute auf den Chefetagen und Langzeit-Politiker werden im Allgemeinen für nicht-normal gehalten, an Narzissten und Zwanghafte ist zu denken und an die von steter Dankesschuld gebeugten Flüchtlinge. Ja, warum nicht auch an Dunkeldeutsche, indem man sie mit Helldeutschen vergleicht, und an Helldeutsche verglichen mit Dunkeldeutschen? Überhaupt an die Deutschen, und das im Lichte anderer Nationen. Anders gewendet: Sind, bitteschön, wir Deutschen noch normal?