Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! – forderte der Philosoph Immanuel Kant vor mehr als 200 Jahren. Er hatte etwas viel von uns verlangt, aber ein wenig sollten wir ihm schon entgegenkommen. Jeder auf seine Weise. Hier die meine.
Achse des Guten 03.06.2017 / 06:15 / Foto: Rudy Dubou
Schwarmintelligenz und Schwarmdummheit
Von Gerald Wolf.
Nicht nur wir Menschen lieben die Geselligkeit, sämtlichen Primaten und vielen anderen Säugetieren geht es genauso. Auch manchen Arten von Vögeln, Fischen und Insekten. Welch Schauspiel, wenn sich die Stare im Herbst zu Tausenden und Abertausenden auf ihrem Weg in den Süden versammeln und ihre Schwärme ständig wechselnde Muster in den Abendhimmel weben! Immer aufs Neue abrupte Richtungswechsel, ein einzelner zunächst, viele folgen, andere nicht. Der Schwarm teilt sich. Wieder vereinigt, kommt es zu neuen Ausbrüchen. Niemand führt bei dem Reigen Regie, auch nicht, wenn es dann hinunter zu den Schlafbäumen geht. Ein paar Vögel fangen damit an – und fliegen wieder auf, weil die Anderen nicht folgen. Bald versuchen es die nächsten, bis schließlich die gesamte Vogelschar unter lautem Gezwitscher und Gekreisch dicht an dicht im Gezweig der Bäume hockt. Auch hier wieder gibt es keinen Anführer, der ihnen sagt, welche Bäume dafür zu nutzen sind und welche nicht.
Vergleichbares gibt es auch bei uns Menschen. Zwar verwendet jeder von uns den eigenen Verstand, solange es um persönliche Belange geht, in der Masse aber, in der Großgruppe, in der anonymen Schar, neigen wir dazu, uns an den anderen zu orientieren. Schwarmverhalten eben. Der Begriff wurde, wennschon augenzwinkernd, aus der Verhaltensbiologie der Tiere übernommen. Mode-Erscheinungen lassen sich damit erklären, die Akzeptanz von Gesundheitspflege- und Ernährungs-Tipps, Börsenstimmungen, das Wahlverhalten gegenüber politischen Parteien und überhaupt alles Mögliche, was den eigenen Kenntnisstand übersteigt und dennoch zu einer bestimmten Haltung herausfordert. Devise: Was die meisten denken und tun, kann so falsch nicht sein, zumindest nicht völlig falsch.
Stimmt auch, meistens. Man spricht von „kollektiver Intelligenz“ oder von „Schwarmintelligenz“. Die Fortschritte in der Technik, in der Wissenschaft und Medizin sind heute mehr denn je als Leistungen von jeweils Vielen zu werten. Die Kumulation von Wissen und Erfahrungen, von Können und Ideen führt zu Ergebnissen, zu denen ein Einzelner heutzutage nur in Ausnahmefällen fähig ist. Die Überlegenheit der kollektiven Intelligenz lässt sich mit speziellen Tests belegen. Aber auch das Gegenteil: Bei allgemeiner Unsicherheit wird von der Mehrheit gern auf Meinungen jener gehört, die sich als Bescheid- und Besserwisser hervortun, selbst wenn es dafür kaum sachliche Gründe gibt. Im praktischen Leben können aus solcher Leichtfertigkeit Fehlentscheidungen riesigen Ausmaßes folgen. Ein jeder weiß darum, und wir, Wesen mit hierarchisch organisierter Sozialstruktur, lechzen geradezu nach verlässlichen Führungsfiguren.
Eine hirnamputierte Elritze
Der Zoologe Erich von Holst (1908 - 1962) hatte in den 1940er Jahren zum Schwarmverhalten ein Experiment an Elritzen durchgeführt, einem kleinen, lebhaften Karpfenfisch. Durch Konrad Lorenz (1903 – 1989), einem der bedeutendsten Verhaltensbiologen und einem der großen Seher des vorigen Jahrhunderts, ist dieses Experiment geradezu berühmt geworden (in: „Das sogenannte Böse“):
„Er [von Holst] operierte einem einzelnen Fischchen dieser Art das Vorderhirn weg, und in diesem stecken … alle Reaktionen des Schwarmzusammenhaltes. Die vorderhirnlose Elritze sieht, frißt und schwimmt wie eine normale, das einzige Verhaltensmerkmal, durch das sie sich von einer solchen unterscheidet, besteht darin, daß es ihr egal ist, wenn sie aus dem Schwarm herausgerät und ihr keiner der Genossen nachschwimmt. Ihr fehlt daher die zögernde Rücksichtnahme des normalen Fisches, der, auch wenn er noch so intensiv in bestimmter Richtung schwimmen möchte, sich doch schon bei den ersten Bewegungen nach den Schwarmgenossen umsieht und sich davon beeinflussen lässt, ob ihm welche folgen und wieviele. All dies war dem vorderhirnlosen Kameraden völlig egal; wenn er Futter sah, oder aus sonstwelchen Gründen wohin schwimmen wollte, schwamm er entschlossen los und siehe da – der ganze Schwarm folgte ihm. Das operierte Tier war eben durch seinen Defekt eindeutig zum Führer geworden.“
Wie, fragt man sich und das womöglich mit einer Spur von Häme, wie nun sieht es denn mit den Anführern unserer eigenen Spezies aus? Natürlich verdankt keiner von ihnen seinen Erfolg einem groben Hirndefekt. Dennoch mögen dem Einen oder Anderen gewisse psychologische Besonderheiten hilfreich zur Seite stehen. Gemeint sind Tendenzen zur Psychopathie. Nicht nur finden sich solche Menschen als Straftäter in den Gefängnissen, nein, als manipulativ besonders Begabte mitunter auch auf Chefetagen, in der Werbebranche, da und dort auch auf den Bühnen der Unterhaltungsindustrie und wohl ebenso in der Politik.
Die Erfolgreichsten unter ihnen zeichnen sich durch eine hohe Intelligenz aus, durch Charme, Pathos, laxen Umgang mit Fakten, Geschwätzigkeit und: Sie haben keine sonderlichen Probleme mit Gewissensbissen. Ihre Rücksichtslosigkeit sei es, was ihnen im Wettbewerb mit Anderen einen Vorteil verschaffe, meint Robert D. Hare, ein kanadischer Kriminalpsychologe, der als einer der Begründer der moderneren Psychopathie-Forschung gilt. Hare geht davon aus, dieser spezielle Menschentyp verdanke seine Erfolge ganz wesentlich einem Mangel an Empathie.
Neuere Befunde hingegen scheinen zu belegen, dass psychopathisch „Begabte“ durchaus mit Anderen mit-fühlen können, sie daher auch sehr gut zu manipulieren vermögen, ohne aber (und das unterscheidet sie von den normalen Menschen) mit ihnen mit-leiden zu müssen. Untersucht man sie in einem Gehirn-Scanner, währenddessen ein Film demonstriert, wie jemandem in derb schmerzhafter Weise ein Finger umgebogen wird, passiert in dem Hirnareal, das für Mit-Leiden zuständig ist, auffällig wenig. Die Rigorosität psychopathisch Veranlagter wird von Anderen gern als Stärke angesehen, viele zollen ihnen hohen Respekt, ja Verehrung. Einige im Schwarm der Anonymen „schwärmen“ geradezu für solche Art von Führungspersönlichkeiten – Schwarmdummheit eben.
So manches, was die Erfolge von Schwarmführern mit psychopathischem Einschlag ausmacht, wird von Normalbesaiteten gern und oft mit Erfolg übernommen: Charme, Pathos, Geschwätzigkeit, laxer Umgang mit Fakten. Überhaupt Fakten: Gleich ob es sich um Autos, Waschmittel, Nahrungsergänzungsmittel oder um politische Argumente handelt, sie werden in ihrer Wirksamkeit überschätzt. Der Erwerb von Faktenwissen ist mühsam, Geschwätz tut’s auch, oft sogar besser (kürzlich wurde so die 100-Prozent-Marke erreicht).
Professor Gerald Wolf ist Hirnforscher und emeritierter Institutsdirektor. Er widmet sich in seinen Vorträgen und Publikationen und regelmäßig im Fernsehen (MDR um 11, Sendung „GeistReich“) dem Gehirn und dem, was es aus uns macht. Neben zahlreichen Fachpublikationen und Fach- und Sachbüchern hat er auch drei Wissenschaftsromane veröffentlicht.