****       Sapere aude!        ****        
                 
Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! – forderte der Philosoph Immanuel Kant vor mehr als 200 Jahren. Er hatte etwas viel von uns verlangt, aber ein wenig sollten wir ihm schon entgegenkommen. Jeder auf seine Weise. Hier die meine.
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Gerald Wolf, Gastautor / 22.07.2019 / 14:00 / Foto: Ragge Strand/National Archives of Norway  

Passt Idealismus noch in unsere Zeit?

Doch, er passt schon noch, auch wenn er, der Idealismus, nicht mehr ganz so typisch sein sollte. Dazu das Beispiel Johanna. Mit 72 ist sie eine „alte weiße Frau“. Sie hatte in der Nachkriegszeit kennengelernt, was Not bedeutet, musste sich ordentlich rappeln, um gegen Hunger, Wohnungsknappheit und welche Nöte sonst noch anzukämpfen. In einer Fabrik dann, dort arbeitete sie 48 Stunden pro Woche, trug sie, wie Millionen Andere, dazu bei, dass Deutschland wieder lebenswert wurde. Heute bekommt Johanna eine Rente. Ein Zehntel etwa von dem Unterhalt, den die Politiker bekommen, die (unter anderem) über ihre Rentenhöhe zu befinden haben. Ob nun zu recht oder auch nicht, Johanna empfindet Dank, Dank dafür, dass es ihr heute recht gut geht. Die verschweinigelte Grünanlage, auf die sie von ihrem Fenster aus blickt, bietet ihr eine Gelegenheit, Dank zu sagen. Wem und wofür eigentlich? Ganz egal – allen und für alles!

Natürlich müsste sich die Stadt um die Anlage kümmern. Dafür gibt es Mittel aus dem Steuersäckel, und daraus erhalten die städtischen Sauberfrauen und Saubermänner ihren Lohn. Tatsächlich kommen auch manchmal welche von ihnen, um Hand anzulegen. Allerdings ziemlich lustlos, und der Rest vom Dreck bleibt dann eben liegen. Die einen stört das, die anderen eher nicht. Aber nur Johanna ist es, die zur Harke greift und zum Eimer, bis alles wieder paletti ist. Selbst die Hundescheiße ist hernach wie weggezaubert.

Heimlich Gutes tun

Nicht, dass Johanna für ihr Tun der Stolz überkommt, von wegen wie toll, wie großartig. Im Gegenteil, fast ist es ihr ein bisschen peinlich, in den Augen anderer so fürchterlich positiv dazustehen. Deswegen nutzt sie ja auch am liebsten den frühen Morgen von Sonntagen oder späte Abendstunden. Belohnt fühlt sich Johanna, wenn sich auch andere Menschen der gepflegten Anlage erfreuen, selbst solche, die nicht einmal im Traum daran dächten, es ihr gleichzutun. Viel eher werden sie sich sagen: Ich und kostenlos? Einfach so? Also nee, schön blöd!

Noch einmal gefragt, passt so viel Idealismus wie der von Johanna, von Ausnahmen abgesehen, eigentlich noch in unsere Zeit? Eine Zeit, in der es doch heißt, Geld regiere die Welt. Wo alles seinen Preis hat, wo es um Löhne und Renten geht, um Stück- und Werbekosten, um Gewinne und geldwerte Vorteile, um Mieten und Fördergelder, um Geldstrafen und Strafzölle. Finanzriesen jedweder Couleur, Banken und Schattenbanken sorgen für Renditedruck und lassen in aller Welt Staatsmänner und Parteien nach ihrer Pfeife tanzen. Öffentlich oder auf geheime Weise. Selbst in den menschlich edelsten Bereichen, so der Verdacht, geht es am Ende nicht so sehr um Ideale, sondern um Geld – in der Medizin, Sozialfürsorge und Bildung, bei der Pflege hilfebedürftiger Kinder und hilfloser Alten, im Rettungswesen, bei der Integration von Einwanderern und dem Schutz unserer Umwelt. Geld als Äquivalent für Wohltaten. Ohne Geld gibt es sie nicht, alle diese Wohltaten oder fast alle, auch wenn dafür nur allzu gern Idealismus als Motiv deklariert wird.

Und Geld, wieso soll das das Ein und Alles sein? Man kann es nicht essen, überhaupt kann man damit nichts anfangen, außer man kauft sich davon etwas, nämlich das, was man braucht, zumindest gerne haben möchte. Die Möglichkeiten gehen ins Unendliche. Sie reichen von Brot und Butter über Feuerzeuge, Messer und Handys bis hin zu Auto, Haus, Kleidung, Schönheits-Operationen, Urlaubsreisen und Bildung. Ja bis dahin, mit hinreichend großen Scheinen einen Menschen als Partner heranzuwinken, der sonst lieber in der Ferne bliebe. Indes – Gott oder wem auch immer sei Dank – das ist nicht alles: Man kann Geld auch benutzen, um Gutes zu tun. Die Mitfreude lohnt den Einsatz. Sich reinen Herzens mit Anderen zu freuen und dafür Ursache sein zu wollen, gehört zum Edelsten, wozu Menschen fähig sind. Statt Eigennutz Uneigennutz also, statt Egoismus Altruismus.

Der Durst nach Großem

Es gibt aber auch ganz andere Formen des Idealismus: die Hingabe an eine Idee, an etwas Großes. Da sind Leute, die reisen in die Welt, um in Museen Bilder zu bewundern, andere, um Altertümer zu besichtigen oder ihre vierte oder fünfte Sonnenfinsternis zu erleben. Zu denken ist auch an Leute, die von früh bis spät in einem Labor hocken, nur um einem bestimmten Molekül ein weiteres kleines Rätsel zu entlocken, einer Winzigkeit, für die sich in der Welt nur eine Hand voll Leute interessiert. Die nächsten wälzen alte Folianten, um den Gedankengängen eines großen Geistes nachzuspüren, der vor Jahrhunderten irgendwo sein Leben mit Nachdenken verbracht hat. Währenddessen riskieren andere ihr Leben, um schroffe Berge zu besteigen. Die nächsten zimmern Nistkästen, um sie an verstecktem Platze im Wald aufzuhängen. Verwandte Geister schießen ihr 128.346. Foto von Vögeln oder von Insekten, die kaum jemand kennt, und andere wiederum komponieren Musikstücke, schreiben Gedichte, Geschichten oder Theaterstücke, die aller Wahrscheinlichkeit nach kaum jemals jemand zur Kenntnis nehmen wird. Das alles, ohne damit Geld zu machen. Im Gegenteil, es kostet welches.

Idealismus ist das, Anstrengung, die den Betreffenden nichts anderes als eine seltsame Befriedigung einbringt, eine, die zumeist nur sie selbst verstehen. Oder einer der eher seltenen Verwandten im Geiste. Doch was wäre die Menschheit ohne diese idealistischen Geister, ohne deren Streben nach dem Großen, nach Vollkommenheit, nach dem „Ideal“ eben? Selbst wenn es sich dabei nur um einen engen Bereich der Wirklichkeit oder des eigenen Denkens handelt. Denn mitunter entspringt daraus ein Funken, aus dem sich ein Brand entwickelt, der am Ende die halbe Welt verändert, im Guten wie im Schlechten: Sokrates, Plato, Epikur, Descartes, Shakespeare, Bach, Kant, Linné, Goethe, Napoleon, Beethoven, Daguerre, Darwin, Marx, Bismarck, Nobel, Robert Koch, Lilienthal, van Gogh, Planck, Einstein, de Coubertin, Lenin, von Bering, Fleming, Otto Hahn, Picasso, Hitler, Mao, Piaf, Adenauer …

Wie im Gedöns der Medien herausragen?

Und heute? Große Geister hat es immer gegeben und wird es auch weiterhin geben, aber wie sie im Gedöns der Medien, zumal der sozialen, ausmachen? Hinzu kommt, dass Forschung und technische Entwicklung heutzutage mit einem zumeist großen, oft sogar riesigen Aufwand einhergehen. Nicht nur an Material, sondern auch an Menschen. Das alles kostet Geld, viel Geld. Der Einzelne läuft Gefahr, dass in dem Team, in das er einverleibt ist, sein Anteil untergeht. Während die Veröffentlichung wissenschaftlicher Arbeiten früher nur einen einzigen Autorennamen trug, ausnahmsweise zwei, sind es heute viel mehr – fünf, zwölf und gar nicht so selten mehr als zwanzig. Wenn da einer unter ihnen in der Begeisterung für die Aufgabe eine 60- oder 70-Stunden-Woche nicht scheut, um mit einer Riesenportion Idealismus Geniehaftes beizutragen, wird das nach außen hin kaum jemals sichtbar. Wer schon kennt die Namen einzelner Personen, wenn es um Computer-, LED- oder Gentechnik geht, um die Entwicklung neuer Pharmaka, um Weltraumtechnik oder um ganz neuartige Energiequellen? 

Einzig in den Geisteswissenschaften spielen Einzelne noch eine Rolle. Aber, so scheint es, fast alles Große ist bereits gedacht beziehungsweise gemacht, nirgends ein neuer Kant oder Shakespeare oder Goethe, ein neuer Bach oder Picasso. Darüber können die zahlreichen öffentlichen Ehrungen, ja Rühmungen von Künstlern oder anderen Geistesgrößen der Gegenwart nicht hinwegtäuschen. Eine kurze Zeit noch, dann werden sie vergessen sein, so ziemlich oder zur Gänze. Wenn auch nicht unbedingt in den Kreisen von Eingeweihten. Das gilt dann aber genauso für die Schöpfernaturen in der Wissenschaft und der technischen Entwicklung. Hier wie da geht es diesen Leuten um die Sache und kaum jemals um Pekuniäres. Idealisten eben. Ganz besonders ihr Holz ist es, aus dem der Fortschritt geschnitzt wird. Früher wie heute.

Wo die alten weißen Männer (und Frauen) keimen

Die Frage nun: Passt Idealismus auch noch in die Zukunft? Schon zu Sokrates‘ Zeiten, vor zweiundeinhalbtausend Jahren also, schien es da Grund zur Skepsis zu geben. Die Jugend liebe den Luxus, soll der große Weise gesagt haben, schlechte Manieren habe sie, verachte die Autorität und diskutiere, wo sie doch arbeiten solle. Umgekehrt würden die Lehrer ihre Schüler fürchten und sie verhätscheln. Tatsächlich, bald darauf ging es mit dem Wohlstand im antiken Athen bergab. Das mag heutzutage anders sein. Oder doch nicht?

Die Jugend zu kritisieren, kommt zu keiner Zeit gut an. Dementsprechend sind auch heute Verlautbarungen über die junge Generation nahezu ausnahmslos von der freundlichen Art. Umso mehr musste es überraschen, als MDR AKTUELL vor Kurzem unter der Überschrift „Arbeit wird immer weniger wichtig“ Studien über 18- bis 37-Jährige verbreitete, die weniger zuversichtlich stimmen. Fazit: Je jünger der Arbeitnehmer, desto weniger Motivation steckt in ihm. Die Freizeit ist ihm das Allerwichtigste. Erforderlichenfalls besorgt er sie sich per Krankschreibung. Dazu im Text der Arbeitsforscher Christian Scholz: Die Alten könnten durchaus von den Jungen lernen. Denn wer dem Chef oder der Chefin „Nein“ sage und am Wochenende keine Überstunden mache, der komme am Montag auch ausgeruht und entspannt auf Arbeit.

Jeder weiß von der heutigen Generation auch weit Positiveres zu berichten, mitunter von echtem Idealismus. Von Jugendlichen nämlich, die für ein selbstgestecktes Ziel brennen und sich viel lieber im Konstruktiven als tüchtig erweisen als im Destruktiven. Dennoch geben die Fälle von schwindendem Idealismus zu denken, vor allem dann, wenn sie zu einer Massenerscheinung werden. Wer den Elan von Jugendlichen in Fernost kennt, muss sich fragen, wie es hier oder dort mal aussehen wird, in zehn, zwanzig oder in fünfzig Jahren. Dann also, wenn es die Jungen von heute sind, die die Generation „der alten weißen Männer“ (und Frauen!) stellen.