****       Sapere aude!        ****        
                 
Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! – forderte der Philosoph Immanuel Kant vor mehr als 200 Jahren. Er hatte etwas viel von uns verlangt, aber ein wenig sollten wir ihm schon entgegenkommen. Jeder auf seine Weise. Hier die meine.
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Gerald Wolf, Gastautor / 31.08.2025 / 14:00 / Foto: Pixabay/5 /

Naseweisheiten


Wohin gehen, wenn man nicht weiß, wo lang? „Immer der Nase nach!“ – ein gut gemeinter Rat, der uns manchmal direkt ins nächste Hindernis führt. Unsere Nase aber kann viel mehr als nur Wege weisen oder Düfte wahrnehmen
Ich ging so für mich hin, auf einmal kreuzten sich die Wege, und ich wusste nicht, wo lang. Da kam ein Wanderer des Wegs und riet mir: „Immer schön der Nase nach!“
Das ging nicht gut. Oft aber ist das ein guter Rat. Vorausgesetzt, man hält den Kopf straff nach vorn, dann weist die Nase immer schön geradeaus. Liegen Hindernisse im Weg, dann müssen sie eben umgangen werden. Allerdings ist auf der politischen Laufbahn das Immer-schön-Geradeaus kein guter Rat.
Da braucht man, um nach vorn zu kommen, einen speziellen Riecher, von dem der Autor nichts weiß und auch gar nichts wissen will. Schwierig genug wird es, per Nase einem besonderen Duft zu folgen. Womöglich dem von einem Stück Schwein, das gerade irgendwo an einem Spieß gebraten wird. Wie lieblich das riecht! Allemal, wenn man hungrig ist. Auch das Parfüm einer Dame mag lieblich riechen, sofern es gut gewählt und vorsichtig dosiert wurde.

„Mir stinkt es“

Unser Riechorgan vermeldet aber auch Gerüche, die wir ganz und gar nicht mögen, im schlimmsten Fall Gestank. Stark riechender Käse führt uns in den Grenzbereich des Noch-Hinnehmbaren. So auch findet sich in unserer Gewürzsammlung Bitteres und brennend Scharfes, um – wie paradox! – den Genuss zu steigern. Gleichermaßen akzeptieren wir Misstöne, allzumal in der modernen Musik. Oder denken wir an die Verhässlichung von Personen in Karikaturen, wie lustig! Sogar Schmerz mögen wir, soweit er als „schön“ empfunden werden kann. Der seelische Schmerz in Tragödien zum Beispiel.
Gestank aber wird in keinem Fall genossen. Und genau deshalb spielt er als Kampfwort eine große Rolle. „Mir stinkt es“, heißt es und derber noch: „Du stinkst mich an!“ Gar zum Himmel mag es stinken. Besonders häufig findet sich die Klage, dass da etwas stinke, in der Politik. Hier wird sie für die Gegner benutzt. Oder vom Volk gegen die Politiker und deren Politik. Laut tönend in freien Gesellschaften. In weniger freien nur, wenn es gegen die Opposition geht. Leise getuschelt wird dann, die Politik der Regierung stinke einen an. Oder es wird dergleichen nur noch gedacht. Man möchte ja nicht frühmorgens von vermummten Polizisten aus dem Schlaf geklingelt werden.
Für das Riechen sind in unserem Nasendach 20 bis 30 Millionen Sinneszellen zuständig. Auf feinsten, haarartig anmutenden Fortsätzen, den Zilien, beherbergen sie sogenannte Rezeptormoleküle, die jeweils spezielle Geruchsstoffmoleküle binden. Das führt zu einer Aktivierung der jeweiligen Sinneszelle in Form von membranelektrischen Strömen, die über Zellfortsätze an das Gehirn weitergeleitet werden.
Begrenzter Mangel an sprachlichen Ausdrücken für Gerüche

Aber was passiert da im Einzelnen?

Ganz einfach: In der Zellmembran der Zilien wird ein G-Protein aktiviert. Dies bewirkt innerhalb der Riechzelle die Freisetzung einer ganzen Kaskade von chemischen Signalmolekülen, wobei cAMP über Öffnung von CNG-Ionenkanälen dafür sorgt, dass sich der Calciumionen-Spiegel im Cytosol erhöht. Was CNG-Ionenkanäle sind, wissen Sie nicht? Nun, es sind – auf gut Englisch gesagt – cyclic nucleotide-gated ion channels. Sie bestehen als Heterotetramere aus vier Proteinuntereinheiten. Die Öffnung dieser Ionenkanäle führt ihrerseits zur Öffnung von Chlorid-Ionenkanälen und damit zu einem Ausstrom von Chlorid-Ionen, wodurch die Zelle depolarisiert wird und Aktionspotenziale ausgelöst werden. – Alles klar?
Zunächst wird die Erregung an das Riechzentrum weitergeleitet, den Bulbus olfactorius, auch Riechkolben genannt. Bei uns Menschen rechnet man mit rund 300 bis 400 unterschiedlichen Sinneszelltypen (Geruchsrezeptoren), wobei sich pro Sinneszelle zumeist nur ein einziger Typ von Riechstoff-bindenden Molekülen findet. Daraus ergäben sich gerade mal ein paar hundert Geruchsqualitäten.
Jedoch sind derer durch unterschiedliche Kombinationsmöglichkeiten der zellulären Geruchsinformationen viel, viel mehr. Man nimmt an, dass der Mensch auf diese Weise etwa zehntausend Geruchsqualitäten unterscheiden kann. Manche Autoren schätzen die Anzahl unterscheidbarer Mischungen gar auf über 1 Billion! Jedoch begrenze der Mangel an sprachlichen Ausdrücken für Gerüche unser Vermögen, olfaktorische Nuancierungen differenziert mitzuteilen.
„Geschnüffelt“ wird auch im übertragenen Sinne
Während beim Menschen die Fläche der Geruchsrezeptoren etwa 2 × 5 cm² groß ist, trumpfen Hunde mit 2 × 25 cm² auf. In der Nase von Hunden, auch bei Ratten, sind, anders als bei uns Menschen, mehr als 1.000 verschiedene Rezeptortypen ausgebildet. Mit der Nase haben diese Tiere eine „Sicht“ auf die Welt, die sich von der unseren grundlegend unterscheidet. Sie werden als „Makrosmaten“ bezeichnet, während wir selbst uns zusammen mit unseren tierischen Verwandten, den Affen, als „Mikrosmaten“ („Geringriecher“) einstufen.
Auch schwächste Düfte registrieren die Makrosmaten und mit ihnen deren Geschichte, die sich über mehrere Tage erstrecken mag. Gegenüber dem Menschen nimmt ein Schäferhund Gerüche wahr, die etwa 1.000-mal schwächer sind als die, die wir gerade noch wahrnehmen können. Mit der Nase am Boden erschnuppern Hunde das Gestern und Vorgestern, und von uns riechen sie, ob wir Angst haben oder Freude empfinden oder in Kampfeslaune sind. Dabei wird die Luft in kurzen Stößen durch die Nase eingesaugt, um zu

schnuppern und zu schnüffeln
Wir Menschen schnuppern und schnüffeln ebenfalls. „Geschnüffelt“ wird auch im übertragenen Sinne, wenn es darum geht, die politische Gesinnung eines Verdächtigen, eines „Umstrittenen“, zu erfahren und zu denunzieren.
Der Riechkolben ist die erste Station des Gehirns
Um riechen zu können, bedarf es durchaus nicht immer einer aus dem Gesicht herausragenden Nase, eines „Gesichtserkers“. Lachse haben Nasengruben, über die sie, aus dem Meer kommend, den Süßwasserlauf ansteuern, in dem sie einst „geboren“ wurden. Bei Insekten gibt es stattdessen hochspezialisierte Sinneszellstrukturen, Sensillen genannt, die über den ganzen Körper verteilt sein können. Nachtfalter erriechen damit die von ihnen bevorzugten Blüten wie auch die artgemäßen Weibchen. Und die Weibchen der Malariamücken werden dank solcher Sensillen von unserem Hautduft angelockt, um per Blutmahlzeit ihre Nachkommen zu päppeln.
Der Riechkolben ist die erste Station des Gehirns, in der die Signale von den Riechsinneszellen auf andere Nervenzellen übertragen werden. Von hier aus führt der sogenannte Riechstrang tiefer in das Gehirn, wo dann die Informationen von den Riechsinneszellen als Gerüche wahrgenommen werden.
Und das objektiv als Geruch von Zimt, von Himbeere, Achselschweiß oder Fäkalien. Aber bei weitem nicht nur objektiv. Vor allem sind es stammesgeschichtlich alte Hirnregionen, die den Sinnesempfindungen emotionale Momente zuordnen. Solche der Zuwendung und solche der Ablehnung. Zu denken ist an den Duft aus dem Kochtopf oder, je nachdem, aus einer Jauchegrube. In Drogerien erhältlichen Duftstoffen kommt es zu, die Zuwendung zu verstärken. Und Hunde wälzen sich in den Ausscheidungen eines begehrten Partners. Von Menschen ist das (mir jedenfalls, dem Autor) nicht bekannt.

Manche Düfte machen regelrecht süchtig
Eine wichtige Rolle bei der emotionalen Zuordnung von Düften kommt dem bereits erwähntem Limbischen System zu. Hier insbesondere einer recht kleinen Struktur an der Hirnbasis, Tuberculum olfactorium genannt, und deren Zusammenwirken mit dem benachbarten Mandelkern (Amygdala). Von dem Jasmingeruch heißt es, er habe eine intensiv süße und blumige Note, die als verführerisch wahrgenommen werde, Vanille vermittele ein warmes und beruhigendes Gefühl, das an Geborgenheit erinnere, und Safran verstrahle eine exotische, würzige Note, die Luxus und Eleganz bedeute.
Manche Düfte machen regelrecht süchtig. Parfüms zum Beispiel, wenn sie einem heiß geliebten Partner zuzuordnen sind. Schwindet die Bindung, dann verliert sich auch dieser Effekt. Ja, er kann sich ins Gegenteil verkehren, so dass man den einstigen Partner nicht mehr „erriechen“ kann.
Zwar passiert all das „irgendwie“ im Gehirn, doch weiß niemand auch nur einigermaßen befriedigend zu sagen, auf welche Weise wir Empfindungen empfinden. Gut bekannt hingegen ist: Durch Düfte lassen sich Menschen an der Nase herumführen, und so manches Unliebsames wird uns unter die Nase gerieben. Wir sollten uns hin und wieder besser an die eigene Nase fassen und unsere Nase nicht in alles reinstecken. Wenn auch, bitte schön, gern und tief in all das, was uns sonst – unkontrolliert – seitens der Obrigkeit übergeholfen wird.