Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! – forderte der Philosoph Immanuel Kant vor mehr als 200 Jahren. Er hatte etwas viel von uns verlangt, aber ein wenig sollten wir ihm schon entgegenkommen. Jeder auf seine Weise. Hier die meine.
Gerald Wolf, Gastautor / 04.08.2019
Das Tier als Mensch
Ich mag Hunde. Zwar habe ich keinen und auch nie einen gehabt, aber wenn, dann wäre ich ihm ausgeliefert. So wie all die anderen Hundebesitzer, die ich kenne. Ersatzweise versuche ich mit fremden Hunden anzubandeln. Die meisten Herrchen und Frauchen zeigen dafür Verständnis, viele freuen sich sogar über diese Art der Wertschätzung ihres Lieblings. Dann, nach ein bisschen Streicheln und Kraulen, mein Standardtest, hunderte Male schon probiert: „Ihr Hund gefällt mir, sehr sogar“, sage ich. „Am liebsten würde ich Ihnen das Tier abkaufen.“ Kurzes Erstaunen, sodann die übliche Reaktion: „Wwas, wie? Meinen Hund?“ Und nach einem verklärten Blick hin zu Bello oder Maxi: „Nein, niemals!“ Darauf gebe ich zu bedenken, ich wolle auch gut bezahlen, tausend Euro, dreitausend Euro, und grinsend dann eine Million! Doch immer bleibt es beim Nie-und-nimmer. Eher noch könnte man sich vorstellen, den menschlichen Partner zu veräußern, die Scheidungsrate legt das nahe.
Das Beste am Menschen ist sein Hund – hat mal irgendwer gesagt. Tatsächlich, wer schon kann mit einem wohlerzogenen Hund mithalten, einem grenzenlos treuen Freund, der immerzu zu uns aufschaut, um in unseren Augen jede Stimmung abzulesen und jeden Wunsch. Ohne jemals an eine Trennung zu denken, und das ein Leben lang! Mit einem Wedeln seines Schwanzes kann das Tier mehr Gefühl ausdrücken, als ein Mensch mit einem riesigen Blumenstrauß oder stundenlangem Gerede. Zudem scheinen die Gefühle, die ein Hund zeigt, immer echt zu sein. Falsche Hunde findet man allem Anschein nach nur bei uns Menschen. Dabei muss man sich fragen, wie sich denn unsereiner im Kopf des Hundes abbildet. Womöglich als quasi-göttliches Wesen, allwissend und allmächtig, wenn auch nicht unbedingt als allgütig.
Wie überhaupt sieht es mit Gefühlen bei Tieren aus? Strenggenommen können wir zum Ob und Wie nur über uns selbst eine Aussage machen, beim Mit-Menschen nicht und noch viel weniger beim Tier. Denn Gefühle sind absolut private Erlebnisqualitäten, sogenannte Qualia. Allein das Ausdrucksverhalten sagt uns, gleich ob sprachlicher, mimischer oder gestischer Art, das Gegenüber empfinde Schmerz oder Angst, Freude, Stolz oder Zorn. Auf solche Weise versuchen wir, uns in Andere hineinzufühlen. So eben auch in den Hund. Und dieser sich in uns.
Was überhaupt ist ein Tier?
Bei uns Säugetieren ist für die Emotionalität ein besonderer Strukturkomplex in der Tiefe des Gehirns zuständig, das sich gürtelförmig um den Hirnstamm herumwindende Limbische System. Diese Gemeinsamkeit allein kann natürlich nicht heißen, dass Hund, Schimpanse, Rind, Feldmaus und Schweinswal alle auf die gleiche Weise empfinden, nämlich so wie wir. Andererseits können wir uns Gefühle nun mal nicht anders vorstellen als die, die wir aus eigener Erfahrung kennen. Völlig außen vor sind dann die inneren Erlebensqualitäten von Sperlingen, Zauneidechsen und Karpfen, und erst recht die der Schmeißfliege, des Wasserflohs und des Pantoffeltierchens. Klar, die einen sind Tiere, und wir, wir sind eben Menschen – wirklich klar?
Was überhaupt ist ein Tier? Die Antwort wirkt sehr abstrakt: Alles, was über Zellen mit Zellkern verfügt, aber weder Pflanze noch Pilz ist. Ohne Wenn und Aber gehören wir Menschen dazu. Unsere nächsten Verwandten sind die Menschenaffen. Deren Erbgut, die DNA, ist mit dem unsrigen zu fast 100 Prozent identisch. Dabei sind die Schimpansen mit uns sogar näher verwandt als mit den anderen Menschenaffen, den Orangs also und den Gorillas. Diese unsere nächsten Verwandten so einfach als „Tiere“ abzutun, fällt ausgesprochen schwer. Ihnen aber in Analogie zu den Menschenrechten Tierrechte zubilligen?
Verständlich und gut gemeint, aber wo die Grenze ziehen? Warum solche Rechte dann nicht allen Affenarten einräumen, warum nicht allen Säugetieren, warum nicht auch für den Laubfrosch und den Flussbarsch, für die Kreiselwespe und den Süßwasserpolypen? Tatsächlich gibt es politisch-moralisch überaus gut verkäufliche Überlegungen, wonach allen Tieren ein Lebensrecht zusteht. Dann aber müssten wir jeder Mücke, wenn sie uns sticht, ihre Blutmahlzeit gönnen, ja selbst der Anopheles-Mücke, der berüchtigten Malaria-Überträgerin. Noch krasser sind Forderungen, wonach sämtlichen Lebewesen ein Lebensrecht zuzubilligen sei, also auch Pflanzen und Pilzen. Immerhin, so ließe sich argumentieren, teilen wir mit der Backhefe etwa 50 Prozent unsere Gene! Wie das?
Der größte Teil der Gene wird für ganz grundlegende Aufgaben benötigt: für den Bau der Zellen und die tausenden und abertausenden Enzyme, die den äußerst komplexen Stoffwechsel bewerkstelligen. Demgegenüber erscheinen die Erbinformationen, die für den Bau der Gewebe, Organe und selbst den des Gehirns nötig sind, eher nachrangig. Somit auch die für die Artunterschiede von Mikroben, Pilzen, Pflanzen und Tieren. Für alle diese Lebewesen ethische Verpflichtungen zu hegen, ist grober Unfug oder eben wiederum rein politisch motiviert. Wovon sollten wir dann leben? Von gentechnisch hergestellten Materialien? Dann aber hätten wir die Gentechnik im Boot, und das darf ja wohl aus der Sicht solcher Agitatoren ebenfalls nicht sein.
„Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“
Der Mensch sei ein soziales Wesen, ein zoon politikon, meinte Aritoteles schon vor mehr als zweitausend Jahren. Sämtliche Affenarten, auch die eher entfernt verwandten, leben sozial und verfügen über entsprechende Verhaltensmuster. Alle die auf die Gemeinschaft gerichteten Gefühle sind Ergebnis der sozialbiologischen Evolution, sind der Kitt, ohne den die Sozietät auseinanderflöge. Auch unsere Gesellschaft. Ja, die Menschheit wäre gar nicht erst entstanden. Sozialität als Evolutionsvorteil haben auch ganz andere Tiergruppen genutzt, Huftiere, Vögel, Fische und, in extremer Form, die Staatenbildenden Insekten. Indes, je weiter von uns entfernt, umso weniger lässt sich etwas über Gefühle mutmaßen. Das Problem brachte der US-amerikanische Philosoph Thomas Nagel mit seiner Frage auf den Punkt: „Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“ (What is it like to be a bat?). Da machen uns Hunde die Antwort viel leichter.
Vor mehr als 10 000, womöglich schon vor 100 000 Jahren begannen Menschen, Wölfe an ein Zusammenleben mit uns anzupassen. Herausgekommen ist das, was heute unter „Haushund“ verstanden wird. Vom Stammvater her hochgradig sozial begabt, wurde diese Eigenschaft durch Züchtung mit Zielrichtung Herrchen und Frauchen über die verschiedensten Rassen hin noch ausgebaut. Wer Krach mit dem Partner oder mit dem Nachbarn hat oder mit dem eigenen Kind, wer sich von seinem Chef gedemütigt oder von unseren Politikern kaltherzig manipuliert fühlt, dem helfen die treuherzig musternden Augen von Bello oder Maxi. Schwieriger hingegen ist es, aus dem Blick einer Katze, einer Kuh oder dem eines Huhns Sympathien herauszulesen.
Tierwohl und Menschenwohl
Gleichviel, wenn ein Tier unser Mitgefühl anrührt, möchten wir, dass es ihm gutgeht. Zumindest darf es durch uns Menschen nicht leiden. Weltweit gibt es dazu unter den Schlagworten Tierwohl, Tiergerechtigkeit, Tier-Rechte und animal welfare Überlegungen. Zunehmend auch gesetzliche Vorschriften. Insbesondere dann, wenn es darum geht, Tiere für menschliche Zwecke zu halten, etwa um sie später zu töten und aufzuessen. Ähnlich berühren Versuchstiere das menschliche Gewissen. Allerdings unterscheidet sich unser Sympathie-Empfinden von Tierart zu Tierart. Je kuscheliger, umso sympathischer. Allein deshalb steht das Eichhörnchen weit höher auf der Rangliste als eine Ratte. Hätten Ratten anstelle des nackten Schwanzes einen wunderhübsch buschigen wie die Eichhörnchen und zudem eine stumpfere Schnauze, zählten auch sie zu unseren Lieblingen. Und das, obwohl Ratten ausgesprochen sozial lebende Tiere sind, daher auch leicht handzahm werden, während Eichhörnchen als Einzelgänger leben, als zänkische Individualisten.
Wir Menschen sind von Natur aus keine Einzelgänger, wir brauchen herzenstiefe soziale Bindungen. Je mehr sie uns durch den Verlust traditioneller Familienbeziehungen abhandenkommen, desto größer wird das Sehnen nach einer Partnerschaft, in die wir unser Herz investieren können. So geeignet ein Hund auch sein mag, um in ihm das zu entdecken, das uns so fehlt, das Menschliche, – es gibt bessere Alternativen, menschlichere.