Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! – forderte der Philosoph Immanuel Kant vor mehr als 200 Jahren. Er hatte etwas viel von uns verlangt, aber ein wenig sollten wir ihm schon entgegenkommen. Jeder auf seine Weise. Hier die meine.
Achse des Guten. achgut.com. 11.11.2016
Das ICH: Diktator, Parlament oder Illusion?
Von Gerald Wolf.
Immanuel Kant hatte seine „Kritik der praktischen Vernunft“ mit einer berühmt gewordenen Sentenz beschlossen, mit der er über den Himmel und das moralische Gesetz des Universums grübelte. Er hätte genauso gut über sein eigenes Ich nachdenken können, das da grübelt. Denn bis heute weiß niemand so recht, was das Ich eigentlich ist. Das Ich? Wieso? Jeder kennt sein Ich besser als sonstwas auf der Welt, möchte man meinen. Ich bin es, der entscheidet, ob ich diesen Text hier weiter lese oder lieber zum Fenster rausgucke. Gleich, was ich tue oder lasse, das entscheide ich, wer sonst? Das ICH, der große Diktator!
Dabei geht es da oben unter unserer Schädeldecke eher demokratisch zu. Wie in einem Parlament. Noch ein Glas vom Roten, verlangt es dort. Besser nicht, tönt es in der Fraktion daneben, ein Glas Wasser wäre gesünder. Und zur selben Zeit gebietet eine andere Stimme, dem Abteilungschef Friedhelm Neubauer noch heute mal so richtig die Meinung zu geigen. Nein, ruft es ängstlich von einem anderen Sitz her, lieber noch ein bisschen warten. Besser überhaupt nicht!, donnert eine Bass-Stimme von gegenüber.
Dauernd wetteifern in unserem Gehirn die unterschiedlichsten Regungen um Gehör, sowohl untereinander als auch im Chor mit den Erwägungen des Verstandes. Die Entscheidung aber, gleich ob klug oder dumm oder gut oder falsch, ist Sache des Ichs. Wessen sonst? Dumme Frage!
Die Hirnforschung belebt einen alten Streit
Allerdings ganz so dumm kann die Frage nicht sein, denn über die Antwort wird seit langem gestritten. Ein Streit, der im Zuge der Hirnforschung erneut aufgeflammt und bis heute nicht beigelegt ist. „Ich denke, also bin ich.“ Zu diesem Schluss war einst René Descartes gekommen. Alles müsse bezweifelt werden, so sein Dictum, nur, dass ich es bin, der da zweifelt, könne nicht bezweifelt werden. Das Ich sei das einzige Unbezweifelbare. Descartes‘ Ansichten über das Ich und die Welt waren revolutionär, er gilt als Begründer der neuzeitlichen Philosophie.
Sogar wenn wir träumen, sagte er, wenn unser Ich phantasiert oder wenn ein Dämon es verwirrt, könne man an der Existenz von diesem Ich nicht zweifeln. Eher noch an der Existenz der Welt, hieß es in der Folge von anderen Philosophen. Denn alles, was wir als Welt erleben, mag sich am Ende als Einbildung dieses Ichs erweisen. Vielleicht behaupten das einige Philosophen noch immer. Doch fragt man heutzutage eher umgekehrt, nämlich ob das Ich überhaupt existiert. Und wenn, ob diese Ich-Instanz in ihrem Willen so frei ist, wie wir bereitwillig annehmen. Denn die Freiheit des Willens ist der Maßstab aller Entscheidungen, auch dafür, inwieweit jemand für eine Tat haftbar und am Ende auch strafbar ist.
Zugegeben, das alles wirkt intellektuell überzogen. Was soll es da zu bezweifeln geben, dass ich es bin, wenn ich einen Passanten freundlich grüße oder ihn krankenhausreif prügele? Beides hätte ich auch lassen können. In der Psychologie spricht man vom Ich-Bewusstsein oder dem Selbstkonzept, und über das verfügt jeder von uns seit der frühen Kindheit. Ununterbrochen ist es das selbe Ich, obwohl die Stoffe, die den Körper aufbauen, durch den Zellstoffwechsel ständig ausgetauscht werden. Auch die Substanzen, aus denen das Gehirn besteht. Wie eigentlich kann das sein? Immerhin verliert man, sobald der Schlaf einsetzt, dieses bewusste Sein, erlangt es aber mit dem Erwachen prompt wieder. Auch nach einer Narkose ist das so, wenngleich nicht ganz so schnell. Ebenso nach einer schwereren Kopfverletzung. Tragisch, wenn das Bewusstsein nicht wiederkommt. Oder es taucht wieder auf, ist aber lückenhaft. Es gibt Fälle, in denen die Erinnerung an das frühere Sein für immer vollständig erloschen ist.
Interessante Spiegel-Experimente
Menschen, die ihr biografisches Gedächtnis verloren haben, empfinden sich gewissermaßen als geschichtslos. Sie fragen sich zu Recht: „Wer bin ich?" Kinder scheinen noch bis zum Ende des zweiten Lebensjahres nicht zu einem Selbstkonzept in der Lage zu sein. Obwohl sie bereits die ersten Worte sprechen, das „Ich“ und das „Mein“ tauchen erst jetzt auf oder noch später. Interessant auch die Spiegel-Versuche, mit denen man Tiere auf ein Ich-Bewusstsein hin prüfen kann. Schimpansen, die zum ersten Male in ihrem Leben vor einen Spiegel stehen, geraten darüber in helle Aufregung. Ständig beäugen sie ihr Spiegelbild, schneiden Fratzen und drehen dem Spiegel gar ihr Hinterteil zu, um in dessen Öffnung zu bohren. Etwas, was sie bisher an sich selbst so nie beobachten konnten. Ein Farbfleck, den Tieren heimlich ins Gesicht platziert, lässt sie erschrecken, und dann versuchen sie, den Fleck durch Wischen – nicht am Spiegel, sondern in ihrem Gesicht (!) – wieder loszuwerden. Einige andere Tierarten erkennen sich offenbar ebenfalls als ein Ich im Spiegel, darunter Delfine und Graupapageien. Nicht aber der Hund, nicht die Katze.
Die Frage nun, wo ist das Ich zuhause? Ganz sicher nicht im Herzen oder sonstwo im Körper. Die peripheren Organe können durch eine Transplantation ausgetauscht werden, ohne dass das Ich mitverpflanzt würde. Nein, nur das Gehirn kommt als Sitz des Ich-Bewusstseins in Frage. Aber wo genau hat es seinen Sitz? So sehr man bisher auch suchte, nichts von der Art eines Ich-Zentrums wurde gefunden, geschweige denn so etwas wie eine präsidiale Instanz oder gar eine einzelne Nervenzelle, die für das Ich-Bewusstsein zuständig sind. Sigmund Freud, der österreichische Neurologe, Tiefenpsychologe, Kulturtheoretiker und Religionskritiker, ging von drei verschiedenen Ich-Formen aus: dem Über-Ich, das sich vom Ideal, vom Gewissen, leiten lässt; dem Es, das aus dem Unbewussten, aus der Triebsphäre heraus wirkt; und dem eigentlichen Ich, das als die bewusst erfahrende und handelnde Instanz von den zuvor genannten Ich-Sphären gesteuert wird.
Die Sache mit dem Ich ist seit den Experimenten des US-amerikanischen Hirnphysiologen Benjamin Libet noch verrücker geworden. Sie scheinen das Bewusstsein eines Ichs als bloße Illusion nahezulegen. Libets Versuchspersonen hatten den Auftrag, in einem Zeitraum von 10 Sekunden einen bestimmten Finger zu heben. Wann genau, war ihnen überlassen. Nur mussten sie sich anhand eines schnell umlaufenden Zeigers merken, zu welchem Zeitpunkt sie den Finger heben wollten. Über Elektroden, die auf der Kopfhaut angebracht waren, wurde ein sogenanntes EEG (Elektroenzephalogramm) aufgezeichnet. Damit ließen sich die Signale registrieren, die von der für die Fingerbewegung zuständigen Hirnregion ausgesendet werden. Erwartungsgemäß gingen diese Signale der Fingerbewegung um etwa eine fünftel Sekunde voraus. Sie sollten, so die anfängliche Vermutung, mit der Entscheidung „Jetzt will ich!" zusammenfallen. Das aber erwies sich als falsch!
Die Freiheit des Willens als Illusion
Jeweils etwa eine drittel Sekunde vor dem „Ich will!" gingen, von der Versuchsperson gänzlich unbemerkt, von einer vorgelagerten Hirnregion sogenannte Bereitschaftspotenziale aus. Der Wille zur Handlung scheint demnach durch unbewusst bleibende Hirnaktionen vorgezeichnet zu sein. Das aber hieße, die Freiheit des Willens ist eine Illusion. Nicht ich entscheide, was ich und wann ich etwas will, sondern eine Hirnregion, von der ich nichts weiß! Von anderen Forschern wurden die Libetschen Experimente nachgestellt, zum Teil auch verändert. Zum Beispiel derart, dass die Versuchsperson aufgefordert wird, sich in dem genannten Zeitraum zu entscheiden, ob sie eine Taste auf der linken oder auf der rechten Körperseite drückt. Herauskommt im Wesentlichen immer wieder eine Bestätigung der bisherigen Befunde.
Die Aufregung ob solcher Erkenntnisse ist groß. Die Debatten führen bis zu der Behauptung, kein Mensch könne für das verantwortlich gemacht werden, was er tut oder lässt. Denn das setze ja die Freiheit des Willens voraus. Diese aber sei durch die Neurophysiologie in Frage gestellt. Ein Grundsatz des Strafrechts ist, dass sich eine Täterin oder ein Täter auch anders hätten verhalten und so die Straftat vermeiden können. Hätte sie, hätte er? Warum, so muss man sich dann fragen, haben sie sich denn nicht anders verhalten? Sie konnten nicht, sagen manche der Wissenschaftler, eben weil es ihr Gehirn nicht anders gewollt hat.
Allerdings, und darauf kommt es an, würde eine solche Entschuldigung unsere gesellschaftliche Ordnung vollständig aushebeln, etwa nach dem Motto: „Nicht ich, nein, mein Gehirn war’s!" Mittlerweile gibt es auch Befunde, die aufgrund von Blutflussveränderungen im Gehirn eine andere Interpretation zulassen: Je stärker sich die Versuchsperson auf das Wann und Ob der Ausführung konzentriert, desto größer ist die zeitliche Kluft zwischen dem Wollen und der Ausführung, und umso mehr rückt der Zeitpunkt der Ausführung an die Entstehung der Bereitschaftspotenziale heran. Am Ende so weit, dass das, was wir als den Willen empfinden, etwas Bestimmtes zu tun, mit der Entstehung der Bereitschaftspotenziale zusammenfällt. Aber auch dann noch ist die Willensbildung ein Hirnprozess, dessen Mechanismus – so wie insgesamt das Leib-Seele/Gehirn-Geist-Problem – uns dorthin führt, wo die Grenze unseres Erkenntnisvermögens verläuft (A. Lavazza, 2016).
Einladung zum Selbstversuch
Ich möchte Sie, verehrte Leserin, verehrter Leser, zu einem Selbstversuch einladen: Setzen Sie sich in einer freien Stunde ganz entspannt in einen Sessel. Nur um Ihr Ich zu beobachten. Nämlich, wenn das Parlament unter Ihrer Schädeldecke anfängt, etwas Anderes zu wollen als Sie, von wegen eben bloß so dazusitzen. Und wirklich, irgendwann wird denen da die Sache zu bunt. Gründe, mit dem Unsinn Schluss zu machen, finden sich viele: Schade um die Zeit, sagen Sie sich, außerdem die Praline da auf dem Tisch, die schon von Anfang an lockte, überhaupt der Tisch, der muss abgeräumt werden, auch die Zeitung wartet im Briefkasten, sie wollten sowieso mal nach dem Wetter schauen, die Freundin anrufen, den Freund, und der Gang zum Supermarkt, der winkt.
Nur eben, alle diese Gründe hatte es schon zu Beginn des Selbstversuchs gegeben. Warum stehen Sie jetzt auf und nicht anderthalb Sekunden später oder früher? Was ist das in Ihnen, dass da sagt „Jetzt!"? Und bei Tieren? Denken wir an eine Fliege, die ruhig an der Fensterscheibe sitzt. Sie tut das nicht bis in alle Ewigkeit. Irgendwann fliegt sie auf, auch ohne dass es dazu eines äußeren Anlasses bedarf. Warum fliegt sie jetzt auf und nicht anderthalb Sekunden später oder früher? Verfügt ein Tier, selbst wenn es von der Art einer Fliege ist, ebenfalls über einen eigenen Willen? Über einen freien Willen gar? Oder noch bizarrer: Verfügt die Fliege über so etwas wie ein Ich?
Und wenn das Ich schon derart fragwürdig ist, wie erst ist das mit dem Wir, dem Wir-Bewusstsein einer Familie, von Freunden, einer Stadt, einer Partei, eines ganzen Volkes? Sind nur wir alleine wir, oder auch zusammen mit einigen von den Anderen? Und wenn ja, mit wem und mit wie vielen von ihnen?