Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! – forderte der Philosoph Immanuel Kant vor mehr als 200 Jahren. Er hatte etwas viel von uns verlangt, aber ein wenig sollten wir ihm schon entgegenkommen. Jeder auf seine Weise. Hier die meine.
Achse des Guten. achgut.com. 09.09.2016
Achse des Guten. achgut.com. 09.09.2016
Die Angst des Blockwarts vorm Elfmeter
Von Gerald Wolf.
Am Morgen schon, bald nach dem Erwachen, fängt es mit der Angst an und all den Ängsten und Phobien. Früher waren solch ausufernde Gemütsbewegungen eher Sache der Psychiatrie und der Hirnforschung, heute, so ist zu hören und zu lesen, gehören sie zum Grundbestand der Menschen. Eine Art Volkskrankheit also.
Zwar wären die Ängste und Befürchtungen, ob nun dumpf oder schneidend klar, dem Wesen nach unbegründet, sagen derzeit beispielsweise die etablierten Parteien und die ihnen gewogenen Medien, dennoch müssten sie ernstgenommen werden. Mittlerweile sogar die Fremdenfurcht, die Xenophobie. Andernfalls könnten Wahlen oder Leser und Zuschauer verloren werden. Diejenigen, die sagen, man müsse keine Angst haben, haben also auch Angst - nur aus anderen Gründen.
Da aber solche Zustände ja im Eigentlichen grundlos sind, lieferen sie einerseits Zeichen über Zeichen, dass die Bevölkerung angstgestört und eher Patient als vollwertiger Teil des Souveräns ist, dem es laut Grundgesetz zufällt, Träger der Staatsgewalt zu sein. Klar, dass unter solchen Umständen Volksentscheide illusionär, ja gefährlich sind.
Zumal nicht nur die Gefühlsebene der Menschen von den Störungen betroffen ist, offenbar auch das Denken. Weit mehr Menschen sind es, als bisher angenommen, die da anders als die Anderen denken. Schlimmer noch: Die Andersdenkenden denken nicht nur anders, sie sind auch anders! Sonst würden sie ja so denken wie die vom sogenannten „Mainstream“, selbst wenn der Hauptstrom möglicherweise nur ein Nebenstrom ist, von dem alle denken es sei der Hauptstrom. Man kennt das Phänomen von Geisterfahrern, die der festen Überzeugung sind, alle kämen Ihnen auf der falschen Spur entgegen.
Erst mit acht Monaten ist das Gehirn so weit, dass mit Angst reagiert werden kann
Seit einiger Zeit werden nun auch die auf der vorgeblich richtigen Spur von Ängsten und Phobien heimgesucht. Selbst deren Beschützer haben Angst. Überhaupt alle, die da beschützen und beschirmen. Demgegenüber wirkt der Normalbürger wie ein furchtloser Held. Er trägt sein dünnes Sommerhemdchen über der nackten Haut, und das muss genügen!
Eigentlich sind Angst und Furcht etwas ganz Natürliches. Für deren Entstehung kommt ein Gebiet in der Tiefe des Gehirns in Betracht, das wegen seiner Form Mandelkern (Amygdala) genannt wird. Das Neugeborene kennt noch keine Angst. Erst mit etwa acht Monaten ist sein Gehirn nach genetischem Diktat so weit ausgereift, dass Ungewöhnliches erkannt und darauf mit Angstgefühl reagiert werden kann. Ohne jemals zuvor mit dem Ungewöhnlichen, mit dem Fremden, schlechte Erfahrungen gemacht zu haben. Die Fähigkeit, Angst zu empfinden, verlässt uns das gesamte Leben nicht mehr, sie gehört wie all die anderen Gefühlsqualitäten zur Grundausstattung der menschlichen Seele. Ebenso zum elementaren Verhaltensinventar der meisten Tiere, allemal der höheren. Bei Gefahr reagieren sie mit angstgeleiteten Verhaltensmustern: Flucht oder Verteidigung oder Erstarren.
Dass Angst lebensrettend sein kann, zumindest vor Schäden bewahren mag, liegt auf der Hand. Daher auch ist das Angstverhalten so weit verbreitet. Bei Erkennen der Harmlosigkeit von bislang Ungewohntem schleift sich die Angst ab, Vertrauen stellt sich ein, womöglich Zutraulichkeit. Dem Menschenkind helfen Mama und Papa, Vertrauen zu entwickeln. „Nun guck doch mal, Paula, die süße Miezekatze“, heißt es dann. „Ganz, ganz lieb ist sie!" Und zur Bestätigung wird das Katzentier gestreichelt. Bis auch Paulinchen mitmacht und das ursprünglich furchtauslösende Objekt zum Knuddeltier wird. Ebenso lernt das Kind, seine Furcht vor dem fremden Onkel zu verlieren, vorm Dunkel, vor der Maus, der Spinne, der Schule. Aber wir Menschen lernen auch die Umkehrung, denn da erweist sich die beste Freundin als eine falsche Schlange, und Timo von nebenan als ein falscher Freund, ebenso der Unbekannte da mit dem freundlichen Getue. Mensch ist nicht gleich Mensch, es gibt unterschiedliche Persönlichkeitstypen. Manche sind vertrauensselig und lernen es nie so recht, das als Blöße zu erkennen. Andere lernen es nie, tieferes Vertrauen zu entwickeln, gleich ob Freunden, Bekannten oder Kollegen gegenüber. Oder Politikern und ihren Medien.
Wie auch immer, die politisch Verantwortlichen versichern uns, wir brauchten keine Angst zu haben, alles sei gut und bedacht. Sollte es trotz größter Anstrengungen dennoch mit dem Vertrauen hapern, keine Angst! Angst, Ängste und Phobien können durch Psychotherapie und Autosuggestion gedämpft werden, hochzuverlässig mit Anxiolytika. Gemeint ist damit eine ganze Palette von Beruhigungsmitteln, zu denen die Benzodiazepine gehören, verschiedene Antidepressiva, niederpotente Neuroleptika und auch sehr spezielle Medikamente, zum Beispiel das Buspiron und das Opipramol. Einen gewissen Schutz bieten womöglich schon rein pflanzliche Präparate: Baldrian, Passionsblume und Hopfen.
Professor Gerald Wolf ist Hirnforscher und emeritierter Institutsdirektor. Er widmet sich in seinen Vorträgen und Publikationen und regelmäßig im Fernsehen (MDR um 11, Sendung „GeistReich“) dem Gehirn und dem, was es aus uns macht. Neben zahlreichen Fachpublikationen und Fach- und Sachbüchern hat er auch drei Wissenschaftsromane veröffentlicht.