Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! – forderte der Philosoph Immanuel Kant vor mehr als 200 Jahren. Er hatte etwas viel von uns verlangt, aber ein wenig sollten wir ihm schon entgegenkommen. Jeder auf seine Weise. Hier die meine.
Die Tatra und der Weg dorthin, das war der Klassiker für fernsüchtige DDR-Bürger. Karawanen von Trabis und Wartburgs zogen über Polen oder die Tschechoslowakei in dieses "kleinste Hochgebirge der Welt". Die Tatra war für uns Eingemauerte eine Art ein Alpen-Ersatz. Überall wurde gesächselt und berlinert. Heute hingegen ist hier "ausländisch" die Ausnahme. Anders in den Städten Breslau und Krakau oder Brünn und Prag. Fremdenfreundlichkeit wird großgeschrieben, denn alle diejenigen, die da in Scharen angereist kommen, bringen Geld mit und fahren auch wieder nach Hause.
Der Weg über Tschechien sollte an Prag nicht vorbeiführen. Und dann ein Muss: die Karlsbrücke. Gleich ob Tag oder Nacht, hier trifft sich die Welt.
Heutzutage eher unterbesucht: das Café Slavia gegenüber vom Nationaltheater. Attraktion ist das Jugendstilgemälde "Der Absinthtrinker" von Viktor Oliva. Eine grün phosphoreszierende Frau hält den Gast in ihren Bann. Ist es das Thujon im Wermut oder schlicht der Alkohol, der diese wunderschöne Halluzination bewirkt?
200 km weiter in Richtung Tatra liegt Brünn, die Hauptstadt Mährens.
a Blick vom Spiegelberg (Špilberk) auf die Kathedrale Sankt Paul und Peter.
b Garten des Augustinerklosters, im Rücken die Statue Gregor Mendels. In der Mitte des 19. Jahrhunderts führten Mendel, den späteren Abt des Klosters, systematische Kreuzungsexperimente zur Entdeckung der Vererbungsregeln. Das machte ihn zum Begründer der Genetik.
Verkehrstechnisch weit angenehmer ist die Route über Polen:
a Breslau/Wroclaw, Europäische Kulturhauptstadt 2016. Die Nationalsozialisten klammerten sich an die hohe Symbolik der „Festung Breslau“, bis sie in Schutt und Asche lag. Welche Mühe muss es gekostet haben, die Stadt in ursprünglicher Schönheit wiederauferstehen zu lassen! Die Breslauer Universität mit ihrer barocken Aula Leopoldina.
b Von Breslau 270 Autobahnkilometer entfernt liegt Krakau, die "heimliche Hauptstadt" Polens. Die Stadt ist voller Gotik, Renaissance und Barock, so auch der Wawel mit dem Schloss und der Kathedrale. Hier, in der Kathedrale, wurden die polnischen Monarchen gekrönt und - für sie weniger vergnüglich - bestattet.
Dann, endlich, winkt die Tatra. Hier die Hohe Tatra von der Niederen aus gesehen. Gerade einmal 27 km lang ist sie und bis über 2600 m hoch. Die Baumgrenze liegt bei 1500 m.
a Die Lomnitzer Spitze (links im Bild). Mit 2632 m nicht der höchste Gipfel, dank Seilbahn aber der wohl populärste.
b Oder ist der Krivan (2494 m) ganz im Westen der Hohen Tatra vielleicht doch noch populärer? Deshalb, weil er sich recht einfach erklimmen lässt? Allerdings so "einfach" nun doch wieder nicht, denn bis zum Gipfel ist es eine schweißzapfende Tour.
Mit schönen Eindrücken wird man bereits ganz unten belohnt.
a Der Punktierte Enzian (Gentiana punctata). Zwar sind seine Blüten gelb, dennoch ist es nicht der Gelbe Enzian (Gentiana lutea), also nicht der, der für den Schnaps gebraucht wird.
b Ebenfalls gelbblühend, der Großblütige Fingerhut (Digitalis grandiflora). Den sollte man besser nicht für den Schnaps verwenden, denn er ist wie alle anderen Fingerhut-Arten wegen des Gehaltes an Digitalis-Glycosiden giftig. Bedingt giftig, da solcherart Glycoside, richtig dosiert, als herzstärkende Medikamente dienen.
c Die Berg-Hauswurz. Wie auch ihr wissenschaftlicher Name Sempervivum montanum verrät, bevorzugt die Pflanze Gebirge (Alpen, Karpaten).
d Die Blütenstruktur verrät es: eine Orchidee, hier das Gefleckte Knabenkraut (Dactylorrhiza maculata).
Abschreckend. 2004 wurde das gesamte Gebiet (Hohe, Weiße und Niedere Tatra) durch einen Wirbelsturm verwüstet. Die umgebrochenen Bäume waren ein Leckerli für Borkenkäfer, die hernach auch noch die bis dahin standhaften Bäume befielen. Es bedarf weiterer Menschengenerationen, bis die Tatra wieder ansehnlich bewaldet ist.
In Schluchten spürt man nichts oder nur wenig von der Katastrophe. Wo es feucht genug ist, wächst rasenbildend das Zarte Thuja-Moos (Thuidium delicatalum).
Ein lepidopterologisches Juwel: der Große Eisvogel (Limenitis populi). Zumeist fliegt er im Kronenbereich der Bäume und ist daher nur selten zu beobachten. Vormittags aber kommen die Tiere herunter, um an feuchten Stellen zu saugen oder sich, wie hier, in der Sonne zu wärmen.
Die Niedere Tatra ist durch eine sanftere Hügellandschaft ausgezeichnet. Wer lange keine blumigen Wiesen gesehen hat, muss hierher kommen. Oft kann man sich an der Dachziegeligen Siegwurz (Gladiolus imbricatus) erfreuen. Und darf sie auch pflücken. Denn bald kommt der Bauer und mäht, was den Kopf zu weit herausreckt.
a Blau, blau, blau blüht nicht nur der Enzian, sondern auch die Himmels- oder Jacobsleiter (Polemonium caeruleum).
b Wahre Massen an Insekten erfreuen sich der Blütenpracht. So wie bei uns vor Jahren noch, bevor die Landwirtschaft zur Industrie wurde und unsere Landschaften einer grünroten Politik folgend zu Produktionsflächen für "erneuerbare" Energien degenerierten.
c Hier finden wir das Thymian-Widderchen (Zygaena purpuralis). Die Raupe lebt vom Feld-Thymian (Thymus serpyllum), der in den Bergwiesen sehr häufig ist.
d Wo Insekten, da auch Spinnen. Zum Beispiel die Vierfleck-Kreuzspinne (Araneus quadratus). Sie musste aus ihrem kuppelförmig versponnenen Schlupfwinkel herausgeholt werden, um ihre Schönheit zu präsentieren.
Der kalkreiche Boden der Niederen Tatra gestattet auch das Wachstum von Pflanzen, die wenig attraktiv sind.
a Ein Fransen-Enzian (Gattung Gentianella). Die Artbestimmung ist im Nachhinein kaum möglich.
b Dasselbe gilt für diese Species des Wintergrüns (Gattung Pyrola).
c Ganz klar hingegen die Artzugehörigkeit von einer anderen mickrigen Pflanze: die Gewöhnliche Simsenlilie (Tofieldia calyculata).
Und das gibt's eben auch noch: Leptovska Teplicka, ein Dorf in der Niederen Tatra, das sich um seine Geschichte sehr bemüht.