****       Sapere aude!        ****        
                 
Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! – forderte der Philosoph Immanuel Kant vor mehr als 200 Jahren. Er hatte etwas viel von uns verlangt, aber ein wenig sollten wir ihm schon entgegenkommen. Jeder auf seine Weise. Hier die meine.
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                    Magdeburg Kompakt, 4. Jg., Nr. 62. 2. Dezemberheft 2015, S. 4-5.

Weihnachten, das Fest der Familie, das Fest des Friedens. „Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden den Menschen auf Erden, die guten Willens sind“, so die Verkündigung im Weihnachts-Evangelium von Lukas. Frieden stiftet sie, die christliche Botschaft, Frieden auf Erden und Frieden in den Herzen. Ist sie wirklich so friedlich, die christliche Lehre? Gewisslich nicht, wenn auch der Islam in puncto Gefährlichkeit dem Christentum mittlerweile den Rang abgelaufen hat. Beide aber nähren sich, zusammen mit dem Judentum, aus denselben Wurzeln. Wurzeln, die auf Mose zurückführen. Die Frage nun:

Kennen Sie Mose?

Gerald Wolf

 

Den kennen Sie, na klar, seine Schöpfungsgeschichte zum Beispiel. Selbst jene wissen davon, die den biblischen Lehren eher ferne stehen. Bestens bekannt auch die Sache mit dem Obstdiebstahl, die mit Adam und Eva und dem Baum der Erkenntnis. Die wenigsten hingegen werden von der Bibelstelle wissen, wo der Herr zu Mose spricht: „Der Mann soll des Todes sterben; die ganze Gemeinde soll ihn steinigen draußen vor dem Lager.“ Und weiter im Text, dem 4. Buch Mose (15, 35-36): „Da führte die ganze Gemeinde ihn hinaus vor das Lager und steinigte ihn, so dass er starb, wie der Herr dem Mose geboten hatte.“ Der Delinquent war beim Holzsammeln erwischt worden, und das am Heiligen Sabbat. Ein Verstoß gegen das dritte Gebot. Überhaupt die zehn Gebote, die Mose vom Berg Sinai herunterbrachte, jeder hat davon gehört. Zum Beispiel das Gebot, wonach man nicht töten soll. Allerdings sind Moses Drittem Buch folgend (Kap. 20) diejenigen mit dem Tode zu bestrafen, die ihre Eltern fluchen, desgleichen Homosexuelle und Ehebrecher wie auch solche, die Geschlechtsverkehr mit der Schwiegertochter, der Schwiegermutter oder mit Tieren ausüben. Für all jene, die im Namen des Herrn die Tötung vornehmen, ist selbstredend eine Ausnahme vorgesehen. Auch Mose hatte sie für sich reklamiert, als er noch am Tag der Verkündigung der Gebote dreitausend Menschen seines eigenen Stammes hinrichten ließ. Weil sie statt des Herrn das goldene Kalb verehrten: „Leget ein jeder sein Schwert an seine Hüfte, gehet hin und wieder, von Tor zu Tor im Lager, und erschlaget ein jeder seinen Bruder und ein jeder seinen Freund und ein jeder seinen Nachbarn“ (2. Mose 32, 27-28). Unmissverständlich lässt Mose sein Volk wissen, dass Gott keinerlei Spaß versteht, wenn es um ihn, den HERRN, selbst geht. „Denn ich, Jehova, dein Gott“, lässt er sich vernehmen, “bin ein eifernder Gott, der die Ungerechtigkeit der Väter heimsucht an den Kindern am dritten und am vierten Gliede derer, die mich hassen.“ Kinder werden also für die Sünden ihrer längst verblichenen Ahnen bestraft. Gleich ob Mann, Weib oder Kind, an anderer Stelle heißt es (5. Mose, 16): „Von den Städten dieser Völker, die Jahwe, dein Gott, dir als Erbteil gibt, sollst du nichts leben lassen, was Odem hat.“ Mit der Sintflut wurde das vorgemacht.

Das alles ist Altes Testament, ist, neben viel Gutem, unverlierbarer Bestandteil unseres christlichen Abendlandes. Eine Kultur, die ihre geistigen Wurzeln im Morgenland weiß, nämlich dort, wo Mose sein Zuhause hatte. Gemeint sind damit alle die Autoren, die über hunderte Jahre hin an den ersten fünf Büchern der Bibel gearbeitet haben, dem Pentateuch, das traditionell „Mose“ zugeschrieben wird. Daraus bezieht die Bibel ihre Grundfeste, ihrerseits gespeist von vielen anderen im Morgenland angesiedelten Religionen. Aus diesem Morgenland, dem heutigen Nahen Osten, kommen in unserer Zeit auch die Menschen, die aus ihrer Heimat fliehen. Nicht zuletzt deshalb, weil ihnen ihre Religion, wenn strikt ausgelegt, das Leben zur Hölle macht. Es ist der Islam, der die konsequente humanistische Aufklärung noch vor sich hat. Mehr als 600 Jahre nach Christus entstanden, zählt er mit dem Judentum und dem Christentum zu den abrahamitischen Religionen. Denn alle drei dieser monotheistischen (Ein-Gott-) Religionen haben Abraham zu ihrem Stammvater erkoren, denselben, der gemäß Mose bereit war, seinen geliebten Sohn Isaak als Brandopfer darzubringen. Nach muslimischer Auffassung war es Ismael, der erstgeborene Sohn. Gleichviel, als Abraham mit dem Messer in der Hand dabei ist zu vollenden, was Gott ihm gebietet, greift ein Engel ein und verkündet, Gott habe ihn nur auf die Probe stellen wollen. Ob Isaak bzw. Ismael sich jemals von diesem Trauma erholt haben, ist nicht überliefert. Und der Vater? Stolz ist er gewesen, weil er sich in seiner hemmungslosen Frömmigkeit bereit zeigte, den schrecklichen Befehl auszuführen.

Wenn wir versuchen, uns Gott als unendlich zu denken, als allmächtig, allwissend und allgütig, dann ist es eher noch schwerer, ihn sich als derart argwillig, eifersüchtig, rachsüchtig, mörderisch, kleinlich und voller sonstiger menschlicher Schwächen vorzustellen. In der Bibel wimmelt es von entsprechenden Zitaten. Ein jeder muss sich fragen, wieso ausgerechnet Vertreter von solcherart Religionen sich als Hüter einer allgemeinverbindlichen Moral aufschwingen. Wenn es denn die Öffentlichkeit will, sie als solche zu handeln, dann doch wohl besser trotz ihrer Religion! Bedrückend viele waren und sind bereit, sich von ihrer Religion zu Entsetzlichkeiten verleiten zu lassen. Vorzugsweise mit der Bibel im Kopf oder dem Koran mit seinen Tötungsgeboten. Da ist kein Krieg ohne religiöses Unterfutter. Außer solchen unter roten Fahnen. Diese aber wehten bezeichnenderweise immer im Wind quasi-religiöser Überzeugungen. Gewiss, wenn heutzutage von kirchlicher Unmoral die Rede ist, dann beschränkt sie sich auf Heuchelei, Korruption, geistige Knebelung und – insbesondere wenn dem Zölibat verpflichtet – Pädophilie. Aber da ist eben auch die andere Seite, sie darf nicht kleingeschrieben werden: Es gibt unzählige Beispiele dafür, wie Menschen gerade wegen ihrer religiösen Überzeugung Gutes tun, ja sogar bereit sind, dafür ihr Leben zu riskieren. Im Kanon der heiligen Texte zeugen viele Stellen von einer zutiefst humanen Haltung, sowohl bei den großen wie auch bei den kleinen Religionen dieser Erde. Man solle Vater und Mutter ehren, heißt es im Alten Testament, nicht falsch Zeugnis reden wider seines Nächsten. Oder denken wir an das Urteil des Königs Salomo, das von Weisheit und zugleich vom Herzen Kunde gibt. Eine der fünf Säulen der islamischen Lebensweise ist, jenen Almosen zu geben, die dieser bedürfen. Auch an Jesus‘ Bergpredigt ist zu denken. Sie gehört zum jüdischen Kulturgut und ist einer der Grundsteine des Christentums geworden. „Liebt eure Feinde“, sagte Jesus, „und betet für die, die euch verfolgen“. Indes, seine Mahnung konnte all das Schlimme nicht verhindern, was späterhin zur christlichen Praxis gereichte. Ohnehin gibt es auch einen anderen Jesus, einen der sagte: „Wenn jemand zu mir kommt, und nicht seinen Vater und seine Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern hasst, der kann mein Jünger nicht sein“ (Lukas 14, 26). Und: "Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, den Menschen zu entzweien mit seinem Vater und die Tochter mit der Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter" (Matthäus 10, 34 ff.).

Wer oder was ist es dann, was für die Moral bürgt? Sind es Vater, Mutter, Freunde und die Lehrer, sind es die Politiker, Medienleute oder die Promis des Sports und der Bühne und des Fernsehens, ist es die Justiz, sind es die Ethiker, die Moralphilosophen? Ist es die Erziehung also, die Umwelt? Ohne Zweifel dienen alle diese Einflüsse der Schärfung dessen, was uns als Recht oder Unrecht bewusst wird. Was aber wird uns als Recht und Unrecht bewusst, und wie? Der große deutsche Denker Immanuel Kant brachte es auf den Punkt, als er sagte: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir.“ Mittlerweile sind mehr als zweihundert Jahre vergangen, und wir wissen über den bestirnten Himmel viel mehr, aber immer noch recht wenig über das moralische Gesetz in uns. In mir, dem Schreiber dieser Zeilen, wirkt es zum Beispiel schon dann, wenn ich Nächtens die Landstraße entlangfahre und vergessen hatte abzublenden, als da das andere Auto entgegenkam. Nicht die Angst vor der Polizei ist es und die zu erwartende Strafe – wer schon wollte mein Fehlverhalten bezeugen? Nein, das schlechte Gewissen ist es, das mich befällt, einfach weil ich den Entgegenkommenden ohne Not in Gefahr gebracht habe. „Ochse!“, murmle ich dann vor mich hin und halte den Abblendschalter in Bereitschaft, für’s nächste Mal. Ich weiß, Ihnen, verehrte Leserin, verehrter Leser, geht das genauso. Wir alle kennen es, dieses moralische Gesetz in uns, das Kant so bestaunt hat. Es pocht, wenn wir jemanden ungewollt zum Weinen bringen, oder auch schon, wenn wir bei Freunden ein kostbares Sektglas zerdeppert haben, aus Unachtsamkeit. Vor allem dann, wenn der Gastgeber mit schmerzverzerrter Miene großmütig abwinkt. Wie ein spitzer Stein im Schuh drückt es. Im Latein wird dieses Steinchen scrupulus genannt. Auf höherer Etage macht sich der Skrupel als schlechtes Gewissen bemerkbar. Effekt: „Pass auf, so nicht wieder!“ Gepaart mit Scham können sich Skrupel bis zu schlimmster Reue steigern, bis zu einer Selbst-Qual, der im Extremfall manch einer nur noch durch Selbsttötung auszuweichen vermochte. Bildgebende Verfahren zeigen, wo da der Stein drückt, nämlich etwa an derselben Stelle im Gehirn, wo es auch dem weh tut, dem wir das Böse zugefügt haben. Wir sprechen von Spiegelneuronen, von jenen Hirnstrukturen also, die für Empathie sorgen, für Mit-Leid und auch für Mit-Freude. Das Mit-Empfinden rührt von unserer Natur her, denn wir sind – auch! – von Natur aus soziale Wesen. Bei der Menschwerdung wirkte das Selektionsprinzip eben nicht nur hinsichtlich der körperlichen und der geistigen Fitness, sondern auch der sozialen. Freilich, es gibt Menschen, die sind a-moralisch. Sie können weder Mitleid noch Mitfreude empfinden. Entweder sind sie so geboren oder durch Unfall oder Krankheit so geworden. Sie sind arm dran, beide, die Menschen, die es betrifft, wie auch die Menschen, die mit ihnen leben müssen. Da ist schwerlich zu helfen. Und Mose? Im Zürnen geübt, würde er womöglich mal wieder von Gottes Tötungsverbot eine Ausnahme machen. So wie späterhin der Klerus, wenn er Ketzer und Hexen auf den Scheiterhaufen schickte.

 „Nun sag', wie hast du's mit der Religion?“, fragte Gretchen ihren Faust. Hin und wieder und nicht erst auf dem Sterbebett steht diese Frage vor jedem von uns, nämlich dann, wenn wir nach der Wahrheit suchen, die hinter der Wahrheit steckt, hinter der alltäglichen Wahrheit wie auch der aller Wissenschaft. Wir fragen uns dann in klammer Zuversicht, nicht weitere kalte Wahrheiten zu finden, sondern Hoffnung und Trost. Wunderbar, wie da der Glauben zur Hintertür hereinkommt! Und der Aberglaube. In sublimierter Form auch in das Haus des Atheisten. So mag sich erklären, warum es hierzulande, in unserem christlich geprägten Kulturkreis, zurzeit in aller Herzen weihnachtet. Mit Beginn der Kälte und alle Jahre wieder entdecken wir die Wärme, die tief in uns wohnt und die wir unseren Nächsten spenden möchten. Aber eben auch die Wärme, nach der wir uns sehnen, die andere für uns bereithalten. Mit allerhand Vordergründigem (herzlos, wer „Kitsch“ dazu sagt!) leiten wir die Zeit der Besinnung in die Wege, mit Tannenzweigen, Lichterketten und bunten Glaskugeln, mit gebrannten Mandeln und Glühwein und Weihnachtsliedern, mit Geschenke-Erdenken und -Erjagen und dem Gabentisch. Recht eigentlich aber geht es doch um etwas ganz anderes. Um Hoffnung geht es, um Sehnsucht, um Großherzigkeit. Eine nicht-materielle, eine spirituelle Dimension ist es, die uns da beseelt, eine Vergeistigung der Welt der Tatsachen, die durchaus frei von jeglicher Religiosität sein kann. Solcherart Sehnsucht nach dem An-sich-Guten bringt der alttestamentliche Prophet Jessaia (Kapitel 11) zum Klingen, wenn er verkündet, dass „die Wölfe bei den Lämmern wohnen werden und die Panther bei den Böcken lagern. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben. Kühe und Bären werden zusammen weiden, dass ihre Jungen beieinander liegen, und Löwen werden Stroh fressen wie die Rinder“ – irrational zwar, aber herzerwärmend schön. In diesem Sinne:

Frohe Weihnachten und – Frieden!

  • Prof. Dr. Gerald Wolf, Studium der Biologie und Medizin, bis zu seiner Emeritierung 2008 Direktor des Instituts für Medizinischen Neurobiologie an der hiesigen Universität. Hunderte (meistenteils Fach-)Publikationen, darunter drei Romane. Dem Thema „Gott im Gehirn“ sind zwei gewidmet: „Der HirnGott“ (2005, 2008, 2014) und „Glaube mir, mich gibt es nicht“ (2009, 2015). 

 

 

 

Ich gebe den Apfel zurück

            Magdeburg Kompakt Magazin. Winter 2015/2016. S. 14-15.

 

Die Pflaumen von neulich hatten ein schönes Blau, waren aber noch grün. Auch die Erdbeeren, prachtvolles Rot zwar, doch sie schmeckten wie Zitronen. Und die Äpfel hier? Ein oder zwei Kilo sollten es sein. Die mit dem zarten Gelb oder die roten. Der Laden könnte sich mal zu Kostproben bequemen. Allerdings gab’s die damals im Paradies auch nicht. Mich deucht, Adam hatte in der Annahme, der Apfel schmeckt, einfach hineingebissen. Herzhaft womöglich. Und das war's dann. Von diesem Sündenfall sollte sich die Menschheit nicht mehr erholen. 

Eine Kundin in erbsgelber Strickmütze stößt mit ihrem Einkaufswagen an meine Ferse, murmelt „Tschuldigung“ und zieht dabei ein Gesicht, als ob ich hätte besser aufpassen sollen. Ich! Mit der einen Hand greife ich einen Apfel von der rotbackigen Sorte, mit der anderen hole ich das Taschenmesser hervor. Kurz umgeschaut, und ein Scheibchen abgeschnitzt. Noch ein Vergewisserungsblick, und ab damit zwischen die Beißerchen! Ich merke, wie meine Speicheldrüsen zu arbeiten beginnen. Auch wie sich die Schleimhäute kräuseln. Entschlossen lege ich den lädierten Apfel wieder zu den anderen. Mit der Schadseite nach unten. Oder ich gebe ihn zurück. Soll doch die Kassiererin selber mal kosten. 

Adam hätte den verdammten Apfel auch zurückgeben sollen. Am Baum der Erkenntnis war er gereift, und der Dummkopf musste ihn essen, obwohl Gottvater genau das verboten hatte. Fortan sah Adam klar, nicht nur, dass er und seine Eva nackt herumliefen, sondern er wurde auf einmal klug. Hatte Eva etwa nichts von dem Apfel gegessen? Jetzt könnte ich zynisch werden, von wegen die Frauen jaja, hahaha. Gemach, Eva hatte ebenfalls vom Apfel genascht, beweisbar dadurch, dass Männer und Frauen im Durchschnitt die gleichen Intelligenzquotienten aufweisen. Und Adam und Eva erkannten nicht nur, dass ihre Geschlechtsmerkmale in ganzer Blöße zutage traten, sondern auch dass sie sterblich waren. Allein schon dieser schrecklichen Erkenntnis wegen hätten sie den Apfel zurückgeben sollen. Aber war von dem überhaupt noch was übrig? Vielleicht nur der Griebs. Womöglich aber hätte dessen Rückgabe Gottvater auch nicht versöhnlich gestimmt. 

Ich nehme den angeschnittenen Apfel wieder zur Hand und lege ihn in den Einkaufswagen. Zwischen das Kürbiskernbrot, die Butter, die Landleberwurst und die vier Dosen gesüßter Milch (Moloko s sacharom steht in kyrillischen Buchstaben drauf). Alles aus konventioneller Produktion, denn ich hasse Bio. Und was hat uns Menschen die Erkenntnisfähigkeit gebracht?, sinniere ich weiter vor mich hin. Zum Beispiel, dass ich all die schönen Sachen, die da vor mir in dem Wagen liegen, nicht selbst herstellen muss. Auch das Handy nicht, das soeben in meiner Hosentasche vermeldet, jemand habe ein WhatsApp geschickt. Und das Auto nicht, mit dem ich den ganzen Einkauf nachhause transportiere. Apropos nachhause, der Hausbau wäre, ohne vom Baum der Erkenntnis genascht zu haben, ebenfalls nicht möglich gewesen, zumindest nicht in so komfortabler Art. Was, frage ich mich, wäre denn geworden, wenn auch die Tiere von dem Baum der Erkenntnis gegessen hätten, die Rehe, die Löwen, die Raben, die Weinbergschnecken? Wahrscheinlich würden sie sich dank der Fortschritte, die ihnen damit ermöglicht worden wären, genauso hemmungslos vermehren wie wir Menschen. Man vermutet, dass im Europa der tiefsten Steinzeit gerade einmal hundert oder tausend Menschen gelebt haben. So wenig, dass die Menschheit ein paar Male am Rande des Aussterbens war. Heutzutage füllten diese Steinzeiteuropäer bestenfalls Westerhüsen aus. Auch ist an die Erfindung all der wundervollen Kampfmittel zu denken. Erkenntnisfähige Rehe, Löwen, Raben und Weinbergschnecken hätten jeweils ihr arteigenes Waffenarsenal hervorgebracht, und das wäre der Over-over-Kill für unsere Erde geworden. Der, allerdings, der kommt auch so, und das gar nicht mehr so lange hin. Dank des seinerzeitigen Obstklaus ist der Mensch unter den 1,3 Millionen Tieren das einzige, das in der Lage ist, sich selbst zu vernichten. Per Knopfdruck auch den gesamten Globus. 

Ich schaue in den Einkaufswagen. Da liegt er, der angeschnittene Apfel. Ganz unvermittelt fällt mir der Hund des Nachbars ein. Stets glücklich, der dumme Hund (ich meine den Köder). Immer und immer freut er sich, wenn sein Herrchen nachhause kommt, egal, welcher Laune Herrchen gerade ist. Und immer und immer scheint das Biest glücklich zu sein, sogar wenn er kläfft. Dann zieht er die Wangen weit nach hinten, so wie wir, wenn wir lachen. Überhaupt erwecken Tiere immerfort den Eindruck, glücklich zu sein, zumindest nicht unglücklich. Sogar in der Massenhaltung. Sonst würden die Hühner wohl keine Eier legen und die Schweine nicht ferkeln wollen, oder können. Nie hat man von einem unglücklichen Schaf oder Maikäfer gehört, es sei denn durch Dichter oder andere vermeintlich mitfühlende Menschen. Aber wer schon weiß, wie es sich anfühlt, eine Fledermaus zu sein oder ein Karpfen. Tiere sind dumm, eben weil sie nicht vom Baum der Erkenntnis gegessen haben. Deshalb auch weilen sie immer noch im Paradies. Sie haben keinen Geist oder einfach nicht genug davon, um unglücklich sein zu können. Da genau steckt unser Problem. Als Nachfahren von Adam und Eva haben wir Geist und können auch nur deshalb im Alter an Geist verlieren. Nicht die Tiere. Nie hat man von einem dementen Pferd oder Eichhörnchen oder Wasserfrosch gehört. Und wir, auf denen wegen des seinerzeitigen Obstdiebstahls noch immer die Erbsünde lastet (trotz Jesus, der am Kreuze hängend bekanntlich alles auf sich genommen hat), wir laufen ständig mit der Angst vor der Demenz herum. Schon die Tatsache, dass ich seit einiger Zeit einen Einkaufszettel brauche, um nicht wieder die Zwiebeln zu vergessen oder die Kaffee-Pads, lässt die Alarmglocken läuten. Dazu auch noch diese Scheißangst vorm Tode, obwohl doch die Nicht-Existenz von keinerlei Belang ist. Vor meiner Existenz habe ich ja auch nicht existiert. All das sind Sorgen, die das blöde Getier nicht kennt. Damals hat man mich nicht gefragt, und heute nun, spät genug, gebe ich den vermaledeiten Apfel zurück! 

Hoffentlich wird das da droben im Himmel auch registriert. Als symbolische Handlung dafür, dass ich im Paradies der Dummheit bleiben möchte. Denn selig sind die Armen im Geiste, jawohl. Wäre es mir vergönnt gewesen, mich seinerzeit persönlich entscheiden zu dürfen, hätte ich nicht in die verbotene Frucht gebissen, keinesfalls, und mich stattdessen weiterhin im Paradies der Dummheit gesonnt. Vielleicht zusammen mit Adam. Eva könnte sich anders entschieden haben, und das Problem mit den beiden Geschlechtern wäre gar nicht erst aufgetaucht. Ganz einfach: Die Frauen würden sich zu Fortpflanzungszwecken einen Mann nehmen und ihn hernach ins Paradies zurückschicken. Wozu dann, frage ich, überhaupt noch Gender-Forschung? Das schöne Geld könnte in neue Verkehrswege investiert werden, für die Frauen. Denn nur diese würden in der Lage sein, mit Autos umzugehen. Und die müssten sie sich natürlich selber bauen. Der ganze Ärger mit Staus und Rostschäden und Sommer und Winter Radwechsel bliebe unsereinem erspart. Geisteswissenschaften würden zu einer reinen Frauensache, denn nur sie hätten ja Geist. Und sie allein müssten erklären, was Geist überhaupt ist. Bis zum heutigen Tag konnten das auch die Männer nicht. Natürlich nicht, denn der Geist müsste sich ja aus sich selbst heraus erklären, weil er dafür nichts anderes hat als sich selber.         

Wenn ich nun den Apfel zurückgebe, was wird dann die Kassiererin machen? Der sei nicht mehr verkaufbar, wird sie sagen, und ich müsse ihn bezahlen. Um ihn danach wegzuwerfen. Besser, ich lege den Apfel einfach wieder zurück in die Stiege. Allerdings kommt das einem Diebstahl gleich. Nicht anders, als wenn ich das Ding heimlich eingesteckt oder an Ort und Stelle aufgegessen hätte. Wie geschehen damals im Paradies. Nein und tausendmal nein: Ich gebe den Apfel zurück! 



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Edel sei der Mensch, hilfreich und gut. Und intelligent.

Was Intelligenz mit Genetik zu tun hat. Magdeburg Kompakt, Magazin Oktober 2015

 Schon für Aristoteles war eines klar, und das vor zweieinhalbtausend Jahren: Der Mensch ist ein „zoon politikon“, ein soziales Wesen. Allerdings stehen wir Menschen mit dieser Eigenschaft nicht alleine da. Sozialität ist im Tierreich weit verbreitet. Sämtliche der etwa 250 Affenarten leben sozial, mithin alle unsere näheren tierischen Verwandten. Eher ist es die Intelligenz, die uns Menschen aus dem Tierreich heraushebt, wenn auch gepaart mit der sozialen Lebensweise. Der Zusammengang war es, der die Entwicklung von Kultur ermöglichte und mit ihr die von Technik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst. Vom Lateinischen „inter-“ (dazwischen) und „legere“ (sammeln, lesen) abgeleitet, erhielt der Begriff „intelligens“ schon frühzeitig die Bedeutung von kluglogischrationalverständigvernünftig. Genau diese Eigenschaften sind es, auf die der Fortschritt setzt und zu setzen hat, heute mehr denn je.  

Ein Blick ins Leben genügt um festzustellen, dass jeder von uns ein gerüttelt Maß an Intelligenz abbekommen hat. Allerdings wurde damit der eine oder andere großzügiger bedacht. Hatte er Glück mit seiner Umwelt, waren seine Lehrer die besseren? Oder sind es eher die Gene? „Die Gene?!“, hört man es aus dem Lager jener entrüsten, für die Gene etwas Unheimliches sind, ähnlich die Atome. Gene als Ursache von körperlichen Merkmalen oder von entsprechenden Krankheiten werden noch hingenommen, nicht aber, wenn es um die Verursachung von Persönlichkeitseigenschaften geht, insbesondere der Intelligenz. Dann wird gekämpft, und das mit Mitteln, wie sie ungleicher nicht sein können. Die eine Seite wartet mit Fakten auf, die andere mit ideologischer Munition. So in krassester Form geschehen in der Sowjetunion der Stalin-Ära. Hier wurde zum Sturm gegen den „reaktionären Mendelismus/Morganismus“ geblasen. Er beförderte so manchen Genetiker in den Gulag, wo ihm der Tod drohte. Das Kampfgetöse erklang auch in den Satellitenstaaten. In der DDR allerdings mit minderer Lautstärke, da es hierzulande hochangesehene Genetiker gab, die das Schlimmste verhüteten. In der Sowjetunion hingegen waren Missernten gang und gäbe, einfach weil sich die Ackerpflanzen nicht nach Trofim Denissowitsch Lyssenko richteten. Seiner „Lehre“ zufolge sollten sie sich durch Umwelt und Erziehung problemlos in solche mit verbesserten Erträgen umwandeln lassen. Der Lyssenkoismus war auch auf anderen Feldern zur Staatsdoktrin geworden, indem man, Lyssenkos Theorie der Vererbung erworbener Eigenschaften folgend, den „neuen sozialistischen Menschentyp“ kreieren wollte. Erbliche Einflüsse auf die menschliche Entwicklung wurden rundweg geleugnet, Erziehung und Umwelt seien die einzigen Faktoren, auf die es ankäme. In einem an MAGDEBURG KOMPAKT gerichteten Leserbrief schrieb der Genetiker Professor Reinhard Szibor: „Lyssenkoismus ist heute eine Metapher für Manipulation und Entstellung des wissenschaftlichen Findungsprozesses, um zu einem vordefinierten Ergebnis zu kommen, das durch ideologische Voreingenommenheit diktiert wird und dabei soziale und politische Ziele verfolgt.“

Längst ist die Genetik zu einer voll etablierten Wissenschaft gereift, und die Forschung zur Erblichkeit von Persönlichkeitseigenschaften wartet weltweit mit handfesten Ergebnissen auf. Die Sozial- und Bildungswissenschaften haben ebenfalls nicht geschlafen, schon gar nicht, wenn es darum geht, Bildungstheorien zu entwerfen, die ohne die Erkenntnisse der Genetik auskommen. Um sich der Verhaltensgenetiker zu erwehren, werden schon mal Verbalgeschosse abgefeuert in der Art von „Biologismus“ oder „Konservativismus“, „Reduktionismus“ oder „Sozialdarwinismus“, hin und wieder beflaggt mit „Rechtsextremismus“, „Rassismus“ oder „Faschismus“. Und die andere Seite? Sie präsentiert ihre Ergebnisse und – geht Diskussionen aus dem Wege. Denn die meisten fürchten um ihre berufliche Karriere. Ähnlich wie Klimaforscher, wenn sie Resultate oder Theorien vorzuweisen haben, die nicht zum sogenannten Zeitgeist passen. Ein Grund mehr, auf pensionierte Wissenschaftler zu hören. Ihrer Unabhängigkeit wegen.  

Um die Körpergröße zu messen, reicht ein Zollstock, zur Messung der Intelligenz werden Testbatterien benötigt. Sie gestatten es, eine Art Generalfaktor des menschlichen Geistes zu bestimmen. Die Ergebnisse solcher Tests werden in Form eines Intelligenzquotienten (IQ) ausgedrückt. Der Mittelwert der Bevölkerung ist auf einen IQ von 100 festgesetzt. Verhältnismäßig problemarm gelten Intelligenztests, die unabhängig von Bildung und Kultur sind, z. B. die Deutung von Mustern, das Ergebnis einer gedanklichen Drehung von räumlichen Figuren oder die Geschwindigkeit, mit der bestimmte Buchstaben in einem Text anzustreichen sind. Immerhin korreliert der IQ jedes Einzelnen sehr stark mit sonstigen Intelligenzleistungen, der sprachlichen oder mathematischen Art zum Beispiel, und fast ebenso stark mit dem Erfolg in intelligenzbestimmten Berufen. Wie nicht anders zu erwarten, erhöhen sich die Leistungen bei Kindern im Laufe ihrer Entwicklung, bei Erwachsenen aber bleiben sie auffällig konstant. Und noch erstaunlicher: Der Bildungsweg hat auf die Höhe des IQ kaum einen Einfluss! Praktisch verhält es sich dabei wie mit der Körpergröße.  

Wie ist die Erblichkeit von Intelligenzleistungen nachweisen? Zum Glück der Forscher erlaubt sich die Natur etwas, was der Gesetzgeber verbietet: Sie klont Menschen. Eineiige Zwillinge sind gemeint, Menschen, die sich aus einer gemeinsamen Eizelle entwickelt haben, daher genetisch identisch sind. Ihre Blutgruppen stimmen zu 100 Prozent überein, ebenso andere Merkmale, wenn sie ausschließlich vom Zustand betreffender Gene abhängen. Anders, wenn bei der Merkmalsausbildung die Umwelt hereinspielt. Die IQ zum Beispiel sind bei (erwachsenen) eineiigen Zwillingen nur zu etwa 80 Prozent gleich. In der Art der Sprache mögen sich die Geschwister noch stärker unterscheiden. Zwillingspartner, die getrennt aufgewachsen sind, der eine in Magdeburg, der andere in Shanghai, sprechen in einer Weise, wie sie verschiedener nicht sein kann. An Gene gebunden allerdings ist ihre Befähigung, überhaupt eine Sprache erlernen zu können. Schimpansen, unseren nächsten tierischen Verwandten, fehlt diese Begabung. In menschlicher Gesellschaft gepäppelt und mit viel Liebe und Ausdauer zum Sprechen erzogen, bleibt ohne Erfolg, eben weil sie die entsprechenden genetischen Voraussetzungen nicht haben. Und Katzen, Karpfen und Kartoffelkäfer erst recht nicht. Warum eigentlich?, müssen sich Umwelttheoretiker fragen lassen.  

Ein wichtiges Vergleichsmaß zu den Tests an eineiigen Zwillingen liefern solche an zweieiigen Zwillingen. Wie normale Geschwister teilen sie zu (ungefähr) 50 Prozent dieselben Genvarianten, sind wie die eineiigen Zwillinge gleich alt und im Regelfall in ein- und derselben Umwelt aufgewachsen. Die in Intelligenztests erzielten Leistungen stimmen bei Erwachsenen zu etwa 50 Prozent überein, ebenso beim Vergleich mit denen ihrer Mütter und Väter. Nichtverwandte hingegen korrelieren zu null Prozent. Die Anzahl der Studien, die zur Erblichkeit der Intelligenz in aller Welt unternommen wurden, ist kaum noch übersehbar. Wohlgemerkt, um den Generalfaktor der Intelligenz geht es hierbei, nicht um die Bildung, das Wissen und Können und die Kultur des Einzelnen. Diese hängen selbstverständlich neben der Intelligenz des Einzelnen von den Möglichkeiten ab, die sich ihm bieten, und davon, wie er sie nutzt. Tausende und Abertausende Versuchspersonen wurden mit entsprechendem statistischem Aufwand getestet – vom Prinzip her immer dasselbe Ergebnis. Eine Überraschung allerdings gab es in der jüngeren Zeit: Mit fortschreitendem Alter der Versuchspersonen näherten sich die Ergebnisse mehr und mehr denen ihrer Eltern und Geschwister. Auch die Intelligenzleistungen eineiiger Zwillinge. Während sich die IQ im Kindesalter zu etwa 50 Prozent glichen, betrug ihr Korrelationsniveau im Erwachsenenalter ungefähr 80 Prozent, und das unabhängig vom jeweiligen Bildungsweg! Dazu passen die Ergebnisse von Adoptionsstudien. In dem Colorado Adoption Project – eine Studie, die bis zur Gegenwart andauert *) – wurden über 20 Jahre hin 245 Adoptivkinder getestet. Herauskam, dass die Kinder ihren biologischen Eltern hinsichtlich Intelligenz immer ähnlicher geworden waren, ihren Adoptiveltern hingegen immer unähnlicher. Mit anderen Worten: Der Umwelteffekt sank ständig ab. Auf Sozialwissenschaftler, die dazu neigen, den Einfluss sozialer Faktoren überzubewerten (Soziologismus), müssen diese Ergebnisse wie ein Faustschlag wirken. Üblich allerdings ist die Verdrängung oder Infragestellung derartiger Resultate.  

Etwas sei mit größtem Nachdruck herausgestellt: Intelligenz ist nicht alles. Intelligenz ist ein wichtiges Persönlichkeitsmerkmal, aber eben nur eines unter vielen weiteren. Es gibt Menschen mit hoher Intelligenz, die sich wie Lumpen verhalten. Man trifft sie in allen Schichten, nicht nur in Gefängnissen, auch auf Chef-Etagen. Auf viele weitere Eigenschaften kommt es an, um Menschen zu charakterisieren, auf Moralität, Zuverlässigkeit, emotionale Tiefe, Mut, Selbstlosigkeit, Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit, Höflichkeit, Aufgeschlossenheit, Kontaktfähigkeit, Neugier, Begeisterungsfähigkeit, Umtriebigkeit, musische Begabung, sportliche Begabung, spirituelle Begabung, Stressresistenz, Drogenanfälligkeit, Genauigkeit, Interessantheit, Durchsetzungskraft, Teamfähigkeit. Auch bei all diesen Persönlichkeitseigenschaften spielt Erblichkeit eine Rolle, allerdings, sofern überhaupt getestet, in einem etwas geringeren Ausmaß als in puncto Intelligenz, im Schnitt um die 40 bis 50 Prozent. Erblichkeit heißt nicht, dass die Nachkommen mit ihren Eigenschaften „irgendwie“ zwischen denen der Eltern liegen müssen, mal der Mutter gleichend, mal mehr dem Vater. Die Verhältnisse sind viel komplizierter. Die in der DNA, im Erbgut, verankerten Informationen können über Generationen hin verdeckt sein. Sie bilden zusammen hochkomplexe Wirkungsgefüge, die häufig erst in einer späteren Generation an den Tag kommen. Ein Ehepaar könnte theoretisch Millionen und Abermillionen von Kindern zeugen, alle samt wären sie dank der Chromosomen- und Genlotterie bei der Ei- bzw. Spermienzellreifung wie auch bei der Befruchtung genetisch ungleich und würden sich daher in ihren Eigenschaften bald mehr, bald weniger voneinander unterscheiden. Die Unterschiedlichkeit der Welten, in die die Nachkommen hineinwachsen und von denen sie erzogen und gebildet werden, kommt hinzu, ebenso alle die Unwägbarkeiten, die das Selbstverständnis des Einzelnen und seine jeweiligen Zielvorstellungen prägen. Hochindividuelle Geschöpfe sind das Resultat. Obschon genetisch identisch, gilt das auch für eineiige Zwillinge. Dennoch, die Erbanlagen sind ausschlaggebend und bleiben für jeden einzelnen Menschen ein Leben lang mitbestimmend.  

Die Erblichkeit der Intelligenz ist eine Erkenntnis, deren Gültigkeit der von physikalischen Gesetzen nahekommt. Dies in Abrede stellen zu wollen, wie im Zusammenhang mit den Sarrazin-Thesen von Seiten einiger Spitzenpolitiker geschehen, ist nicht nur unwissenschaftlich, es ist grob anti-wissenschaftlich. Auch wenn es Politiker mit ihren Ansichten und Empfehlungen noch so gut meinen, sie haben sich an der Realität zu orientieren und diese gefälligst zur Kenntnis zu nehmen, nötigenfalls durch Nachhilfe. Gute Politik darf nicht Illusionen nachhängen, denn nichts erweist sich so hartnäckig und ideologischen Wunschvorstellungen gegenüber so widerborstig wie Tatsachen. Den Tatsachen, auch denen der Genetik, gilt es sich zu stellen und daraus das jeweils Bestmögliche zu machen. Daher sollte der Blick für die Eignung zu einem bestimmten Beruf oder für eine bestimmte Position durch keinerlei politische Vorgabe verwässert werden. Im Leistungssport ist dieses Prinzip selbstverständlich, andernfalls belegt man die unteren Ränge. Das war auch im Sozialismus verstanden worden, nur eben für die Wirtschaft und Wissenschaft von Partei und Regierung nicht hinreichend akzeptiert. Die Halbherzigkeit, mit der das Leistungsprinzip seinerzeit angegangen wurde, erwies sich als gewaltiger Fehler, und in der Folge versagte das gesamte System. Und heute, 25 Jahre nach der Katastrophe? Schon wieder Ansätze für einen Staats- und Parteiendirigismus? – Dazu nein und abermals nein: Was Wirtschaft wie Wissenschaft brauchen, zumindest an ihrer vordersten Front, sind keine Quoten, sondern Eliten!   

*) Sally-Ann RheaJosh B. BrickerSally J. Wadsworth, and Robin P. Corley: The Colorado Adoption Project. Twin Res. Hum. Genet., 358-365 (2013).

Zu empfehlen: Dieter E. Zimmer: Ist Intelligenz erblich?: Eine Klarstellung. Rowohlt, 2. Aufl. 2012 


 


Von Natur aus bequem. Magdeburg Kompakt, Oktober 2015

Schön bequem soll es sein, das Leben, und überhaupt. Schon zu Urzeiten mag Bequemlichkeit ein Leitmotiv gewesen sein. Da galt es, Kräfte zu schonen, denn diese setzten Energie voraus, Energie kam aus der Nahrung, und die war im Regelfall knapp. Wenn dann aber der Bauch mal voll war, wozu noch Kräfte vergeuden? Denn am nächsten Tag hatte es mit der Suche nach Atzung wieder loszugehen, für die Jungen, für einen selbst, für die Gruppe. Nicht nur dazu war Fitness gefragt, auch um sich gegen den Feind zu wehren oder dessen Territorium zu erobern. Denn das eigene war eher zu knapp. Sicherlich hielten es nicht nur unsere Vorfahren mit der Bequemlichkeit so, auch deren Vorfahren und hinwiederum deren Vorfahren. Wohin man blickt, dem Prinzip der Bequemlichkeit wird gehuldigt: Affen hängen faul im Geäst, nachdem sie sich den Bauch mit Feigen vollgeschlagen haben, die Katze räkelt sich auf dem Fensterbrett und gähnt, Kühe liegen dösend im Gras, die Pferde dösen lieber im Stehen, und die Amsel träumt offenen Auges vor sich hin, wenn die Vogelbeeren beginnen, ihr zum Halse herauszuhängen. So wie wir werden womöglich auch die Tiere von einem wohligen Gefühl durchströmt, wenn sie es sich bequem machen. Sie können es uns nicht sagen, aber wir, wir können es ihnen nachempfinden. So wie unserem Gartennachbarn, wenn dieser sich, ohne etwas zu sagen, zufrieden im Liegestuhl aalt. Gerade noch hatte er die letzten Wildkräutlein aus seinem Erdbeerfeld herausgeklaubt, und nun die verdiente Behaglichkeit.

Angenehme Gefühle sind der Lohn dafür, wenn wir Grund haben zu glauben, etwas richtig zu machen oder gemacht zu haben. Dafür gibt es ein hirneigenes Belohnungssystem. Es erstreckt sich vom Mittelhirn bis in die basalen Großhirnanteile. Immer, wenn dieser Nervenzellverbund aktiv ist, fühlen wir uns wohl, fühlen wir uns in unserem Tun bestätigt. Zum Beispiel, wenn man bei Hunger isst, bei Durst trinkt, bei Kälte für Erwärmung sorgt oder bei Einsamkeit für sozialen Kontakt. Ein ähnliches Wohlgefühl kommt auf, wenn wir es uns nach getaner Arbeit behaglich machen. Nicht weit von den Belohnungszentren entfernt liegen Hirngebiete, die für die innere Bestrafung zuständig sind, bei Fehlverhalten also. Sie dienen zugleich als Warnlampe. Sie bereiten uns ein Missempfinden, wenn wir Fauliges essen oder auch nur riechen, wenn wir uns an Dornen stechen oder einem potenziellen Feind gegenüberstehen. Sie attackieren uns auch, wenn wir jemanden, den wir lieben, traurig machen. Es ist das Lust-Unlust-Prinzip, von dem hier die Rede ist und von dem schon vor hundert Jahren Sigmund Freud gesprochen hat, der große Psychoanalytiker. Bei Tier und Mensch steuert es nach evolutiv gewordenen Regeln das Verhalten und sorgt für dessen Zweckmäßigkeit. So auch für den Hang zur Bequemlichkeit, wenn er denn angebracht ist. Unangebrachtes Verhalten geht mit Risiken einher, und Fehlverhalten findet im Evolutionsprozess keine Gnade. Das ist der Grund, weshalb Tiere in ihrem Verhalten uns so perfekt erscheinen, so wunderbar „angepasst“ – ein jedes nach seiner Art.

Der Mensch indes, der scheint dieses Sicherungssystem dank (?) seiner Intelligenz über weite Strecken hin ausgehebelt zu haben. Er hat Kulturen entwickelt, in denen das Individuum den größten Teil seiner Existenzsorgen los ist. Dass unsereiner überfallen oder gar getötet wird, wenn er in seinem Bett schläft oder auf einer Parkbank hockt und döst, gehört zu den absoluten Ausnahmen. Auch verhungern muss kaum jemand, zumindest nicht in unseren Breiten. Wenn er es denn versäumte, entsprechend vorzusorgen, wird ihm schon irgendwie geholfen werden. Wie unsäglich unter den Urbedingungen die Mühe war, ein Stück Fleisch zu ergattern, heute tut es der Griff in die Tiefkühltruhe. Oder wenn jemand Appetit, sagen wir, auf Honig hat, dann geht er schräg über die Straße in den nächsten Supermarkt und kauft sich halt welchen. Anders seine Vorfahren. Die mussten auf hohe Bäume klettern, um sich bei einem Bienenvolk zu bedienen, und das unter ungezählten Stichen. Die Arbeitsleistung, die man für das Geld aufzuwenden hat, um eine  Happen Fleisch oder eben ein Glas Honig zu kaufen, ist, gemessen an den Urbedingungen, fast schon lächerlich gering. Autos, Straßen, Brücken und Tunnel werden gebaut, Eisenbahnen und Schienen, Flugzeuge und Flughäfen, nur damit man möglichst bequem von einem Ort zum andern kommt. Oder denken wir an unsere Wohnungen. Sie sind so eingerichtet, dass auf keine Annehmlichkeit verzichtet werden muss. Ein chromglänzendes Ventil betätigt, und schon kommt Wasser aus der Wand, an einem kleinen Rädchen gedreht, und die Wohnung wird warm, kurz einen Knopf gedrückt, und das, was man gern loswerden will, spült es komplikationslos fort. Irgendwohin. Wohin, das ist Sache von anderen, die ein nicht minder gutes Leben führen, indem sie ihre Arbeitsleistung über deren Geldwert in Form anderweitiger Annehmlichkeiten ummünzen können. Auch muss keiner mehr aus dem Haus gehen, um zu wissen, wie die Welt aussieht und was da draußen los ist. Knopfdruck, und die Welt schaut mit schönen oder auch aufregend grässlichen Bildern in die bequeme Stube. Das Fernsehen und -hören sorgt auch dafür, dass man etwas zu lachen hat, es macht Musik und schafft Spannung, wenn es, dieses bequeme Leben, denn doch zu langweilig wird. Zum Beispiel durch Zugucken beim Sport, für den sich wiederum andere ins Zeug legen, oder durch Mord. Und die Leiche, die expediert man wiederum ganz einfach per Knopfdruck, per Zapp, nach Irgendwo. Es ist das Grundprinzip unserer Zivilisation: Selbst wer zu jenen gehört, die dafür arbeiten müssen, dass es die Andern schön bequem haben, für den sind wiederum Leute da, die ihn durch Annehmlichkeiten anderer Art entschädigen.

Dumm nur ist, dass wir für so viel Bequemlichkeit gar nicht geschaffen sind. Immerzu gab es in unserer Entwicklungsgeschichte Phasen, in denen man sich voll ins Zeug zu legen hatte. Das Leben von einst liegt uns offenbar noch im Blut – dort natürlich nicht, sondern in den Genen. Nach einer Zeit der Ruhe drängt es uns, wieder auf Action zu schalten, selbst dann, wenn die Sinnhaftigkeit unseres Tuns mehr als fragwürdig ist. Jeder kennt das vom Sonntagmorgen. Eigentlich könnte man den ganzen Tag schön faul im Bett verbringen, doch da ist etwas, das uns heraustreibt. Vom vielen Liegen täte einem alles weh, wird zur Erklärung behauptet, auch brauche man nun endlich einen Kaffee, dazu ein ofenfrisches Brötchen – und überhaupt. Das, was dann folgt, mag ebenfalls nicht wirklich zwingend sein, z. B. Spazierengehen, um mal „frische Luft zu schnappen“, im Schrebergarten „nach dem Rechten sehen“, ein Vogelhäuschen basteln, um etwas „auszuspannen“. Vielleicht auch mal wieder eine Quiche arbeiten (O. K., sein Hassgericht, leider) oder doch besser Nudeln, selbstgemachte natürlich, und die mit frischem Spinat. Er kann ja einstweilen Angeln gehen (obwohl uns beiden Fisch gar nicht schmeckt) oder Holz aus dem Wald holen, für den Kamin, oder Pilze für die Pfanne. Nun ja. Auch manches, was da unter „Fitness“ läuft, mag so eine Erklärung finden. Und was sonst noch alles, z. B. längs durch die Alpen wandern oder quer oder um die halbe Welt radeln, auf dem Motorrad im ersten Gang durch die Stadt dröhnen, mit manipuliertem Schalldämpfer natürlich, oder in der Kneipe mal wieder ordentlich die Wände wackeln lassen. Vielleicht auch chinesisch lernen oder täglich ein neues Gedicht, einfach so, ohne davon jemals Gebrauch zu machen.

Freilich, den einen treibt es eher zur Unruhe und zu all den damit verbundenen Unbequemlichkeiten als den anderen. Dahingehend gleichen sich eineiige (genetisch identische) Zwillinge weit stärker als normale Geschwister, und diese wiederum mehr als Adoptivkinder, die mit ihnen zusammen aufgewachsen sind. Persönlichkeitsmerkmale sind das, die vom Erbgut mitgestaltet werden. Die Trägen mögen sich über Stunden hin wohlfühlen, wenn sie es schön bequem haben, wenn sie wunderbar „entschleunigt“ sind, aber wehe ihren Partnern, denen es schon dann unter den Fingernägeln kribbelt, wenn sie mal für fünf Minuten ruhig am Tisch sitzen sollen. Aus Phlegmatikern werden eben keine Sanguiniker, und auch das Umgekehrte passiert nicht.

Es gibt nicht wenige Menschen, die arbeiten 60 Stunden pro Woche und mehr. Womöglich würde mit ihnen keiner der Steinzeitmenschen tauschen wollen, wenn er es denn könnte. Eigenartigerweise aber reden die Vielarbeiter seltener von Überlastung, von Stress, eher sind es die anderen, die objektiv weniger Grund haben. Wenn schon, dann sollten es doch die Menschen sein, die auf dem Lande leben. Da ist nicht nur der Beruf, da sind das Haus und der Garten, und da sind die langen Wege. Nein, allen voran sehen sich die Städter in der Opferrolle. Je städtischer das Leben, umso hektischer, umso stressiger, sagen sie. Doch manche von ihnen haben eine 35 (!)-Stunden-Woche und 40 (!) Tage Urlaub im Jahr, dazu womöglich noch illegitimen Urlaub durch Krankschreibung. So viel Kommodheit, das entspricht nicht dem, was uns die Evolution ins Stammbuch geschrieben hat. Da muss Ersatz her! Und für den ist heutzutage reichlich gesorgt: Fernsehen und Radio und CD-Player, Internet und Smartphone, und all das bis spät in die Nacht hinein. Regelmäßig kommen noch Helikopterfunktionen dazu, für das eine Kind oder, ersatzweise, für den Hund. Bis man endlich „vollkommen gestresst“ ist.

Dabei könnte man es so schön bequem haben! 


 



                              Bei den Begriffen Rasse und Rassismus hängt das Verständnis häufig an den Verirrung der Nazis fest. Das erzeugt gefährliche Fehlbewertungen.

Verirrungen im Rassebegriff. Magdeburg Kompakt, September 2015

 Hunderassen und Pferderassen gibt es, Rassen von Katzen und solche von Karpfen, den Kois. In der Tierzucht versteht man unter Rassen Züchtungsformen, die von einer bestimmten Tierart, dem Wildtyp, ausgegangen sind. Die genetischen Unterschiede halten sich noch immer in Grenzen, nämlich in denen der Art, selbst dann, wenn sich die jeweiligen Rassen in ihren körperlichen Merkmalen oder im Verhalten stark vom Ursprünglichen unterscheiden. In der Zoologie und Botanik spricht man mitunter ebenfalls von Rassen, wenn es um innerartliche Unterschiede geht, vorwiegend solche, die geografisch bedingt sind.  

Seit längerem aber wird dafür der Begriff der Unterart bevorzugt. Wie nun sieht es mit unserer eigenen Art aus? Auch Homo sapiens hat im Ergebnis geografisch getrennter Entwicklungen unterschiedliche Typen hervorgebracht. Sie fallen ins Auge, wenn man die Kopfform, die Gestalt und die Körpergröße betrachtet oder die Hautfarbe, den Haartyp, den Lidschnitt vergleicht und die Form und die Länge der Nase. In ihrer jeweiligen Kombination ergeben sich Eigentümlichkeiten, durch die sich die Afrikaner südlich der Sahara trotz mannigfaltiger individuellen Abweichungen noch immer von den Chinesen und den Japanern unterscheiden, die Ureinwohner Australiens von den Europäern und die wieder von den Inuit Grönlands und den Indios des Amazonasbeckens. Über eine lange Zeit hin hat man von Menschenrassen gesprochen, doch will das heute kaum noch jemand tun, zu tief sitzt die Abscheu vor dem, was in der Nazizeit mit entsprechenden „Argumenten“ passiert ist. Auch noch nach Auschwitz und Lublin-Majdanek gab und gibt es Konflikte, wofür Unterschiede in den Körpermerkmalen die vermeintliche Handhabe liefern, und das in ganz anderen Ecken der Welt. In Südafrika war es der Widerstreit zwischen der ansässigen dunkelhäutigen Bevölkerung und den „weißen“ Europäern, die mit ihrer selbsterklärten Vorherrschaft bis in die neunziger Jahre hinein die berüchtigte Rassentrennung (Apartheid) betrieben haben. In den USA gab es schlimmste Schwarz-Weiß-Konflikte, und Martin Luther King war es, der mit seiner berühmten Rede „I Have A Dream“ die Wende einleitete – eine eher unvollkommene Wende, wie sich zeigt. Auch sonst, wo immer die Interessen von Neusiedlern auf die der indigenen (lat. „eingeboren“) Bevölkerung stoßen, gibt es bis heute verdeckte oder offene Auseinandersetzungen rassistischer Art, gleich ob in Australien, in Amerika oder in den Ländern Afrikas oder Asiens. 

Die Anstrengungen, die zur Überwindung solcher Konflikte unternommen wurden und werden, sind gewaltig. Das Erreichte aber ist oft unvollkommen und meist auch nicht von Dauer. Natürlich wäre das Einfachste, dem Rassismus die theoretische Grundlage zu entziehen, indem man behauptet, alle Menschen seien gleich, biologische Unterschiede zwischen den geografischen Menschengruppen wären pure Erfindungen, und all das, was Menschen unterscheidet, sei von der rein sozialen Art. Eine solche Auffassung macht umso weniger Probleme, je ferner man den Naturwissenschaften steht. Unter sozialwissenschaftlich Operierenden sind solche Denkungsarten sehr verbreitet. Ihre Auffassungen könnten leicht zum Allgemeingut werden, wenn es da nicht die harten Fakten gäbe, die dagegensprechen, nämlich solche in Form von genetischen Unterschieden. Sie sind zwischen den Bevölkerungsgruppen umso deutlicher ausgeprägt, je klarer und je länger diese in ihrer Entwicklung voneinander getrennt waren (Größenordnungen von tausenden und zehntausenden Jahren sind gemeint). Am besten untersucht wurden die medizinisch relevanten Unterschiede, z. B. Varietäten von Enzymen und molekularen Signalempfängern (Rezeptormoleküle), die Anfälligkeit gegenüber bestimmten Krankheiten, die Häufigkeiten gewisser Erbkrankheiten, die Medikamentenverträglichkeit oder die Verteilung von Blutgruppen. Es gibt wohl kaum ein gesundheitliches Problem, das alle Menschen ungeachtet ihrer Abstammung gleichermaßen betrifft. Selbstverständlich findet man biologische Unterschiede aber auch zwischen den Individuen innerhalb ein und derselben Bevölkerungsgruppe. Die genetischen Abweichungen sind im Einzelfalle oft viel stärker ausgeprägt als die durchschnittlichen zwischen den Bevölkerungsgruppen. Und dennoch gibt es sie, diese allgemeinen Gruppenunterschiede. 

Die Frage nun, will man auf den ideologisch beladenen Rassebegriff verzichten, wie dann die biologisch bedingte Unterschiedlichkeit zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen benennen? Wohlmeinende überschlagen sich geradezu in Vorschlägen zur Ignorierung und Bagatellisierung des Problems. Und das nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Die UNO hat 1995 über die Unesco den Begriff „Rasse“ als „nutzlos“ deklariert. Bald danach verkündete die Vereinigung US-amerikanischer Anthropologen, von Rassen zu sprechen, entspräche einer „Weltsicht, die unsere Vorstellung von menschlichen Unterschieden und Gruppenverhalten entstellt“. Dabei wird sehr gern die behauptete biologische Gleichheit mit der Notwendigkeit der Gleichbehandlung in ein und denselben Topf getan. Im Untergrund, so scheint es herauf, lauert die Sorge, dass biologische Gruppenunterschiede etwas mit unterschiedlicher Wertigkeit zu tun haben oder zu tun haben könnten. Derlei Behauptungen gibt es zuhauf. Nach Lage der Fakten aber zeigt sich hierfür kein Anhalt. Glücklicherweise. Wer dennoch meint, den Ergebnissen der Genetik trotzen zu können und mit hohem Engagement immer wieder die biologische Gleichheit betont, macht sich verdächtig, die Gleichwertigkeit zu bezweifeln, m. a. W., dass er ein versteckter Rassist ist. 

Der Eifer im „Kampf gegen Rassismus“ geht mitunter so weit, dass Menschen hierzulande als Rassisten beschimpft werden, allein wenn sie sich gegen unkontrollierte Einwanderung wenden, zum Beispiel solche aus den Balkanländern. Die Rassismusgegner unterstellen damit, dass es zwischen der Bevölkerung Deutschlands und der der jeweiligen Balkanländer belangvolle genetische, sprich rassische, Unterschiede gibt, andernfalls wäre der Vorwurf ja gegenstandslos. Ganz unbeabsichtigt, wenn auch höchst unbedacht, stellt man sich mit solchem Rassismusgerede auf die Seite der Nationalsozialisten, die ja sogar unser unmittelbares Nachbarvolk, das der Polen, zu einer eigenen Rasse erklärten. Nämlich als eine von „Untermenschen“. Die mörderischen NS-Schergen behandelten sie dann auch so. In dieselbe Kategorie von Unwissenschaftlichkeit gehört die Zuordnung der Juden zu einer eigenständigen Rasse. Die Juden bilden eine über die ganze Welt verstreute Religionsgemeinschaft und verstehen sich am ehesten als eine eigenständige Ethnie [griech. ethnos – (fremdes) Volk]. Ähnlich sinnlos wäre es, von einer katholischen oder einer protestantischen Rasse zu sprechen, oder von einer buddhistischen, islamischen oder einer schamanischen. Nein, Ethnien sind hier gemeint, Bevölkerungsgruppen also, die sich in ihrem Selbstverständnis unterscheiden und das nicht auf Grund biologischer Besonderheiten, sondern allein wegen ihrer jeweiligen Kultur, Sprache, Geschichte, Wirtschaftsweise, ihres Brauchtums und dgl. Durch das von ihnen entwickelte Gemeinschaftsgefühl unterscheiden sie sich von anderen solchen Gruppen. Die Abgrenzung des Begriffs „Ethnie“ von dem des „Volkes“ oder der „Nation“ ist nicht einfach, oft eher künstlich. Auch hier lauern Probleme, indem es, ohne Rassenunterschiede herbeizuziehen, im Sinne eines Ethnozentrismus oder eben Nationalismus nicht selten zu Überlegenheitsfantasien kommt. Die Merkmale der eigenen Gruppe halten dann als Bewertungsgrundlage her, denen gegenüber die der Fremdgruppen als nachteilig ausgegeben werden. Die einstige begriffliche Verirrung der Nazis zur Rasse wird nun heute in derselben irrigen Weise im Rassismusverständnis weitergetragen und findet Anwendung, wenn Fremdes erkannt und bezeichnet wird. 

Die Furcht vor den Anderen sitzt tief, denn Fremde könnten Böses im Schilde führen. Zu Zeiten der Menschwerdung war die Furcht vor Fremden ein wichtiges Überlebensprinzip, Arglosigkeit konnte rasch tragisch enden. Heute, im Zeitalter der Globalisierung und von Urlaubsreisen in ferne Länder, hat die Fremdenfurcht an Bedeutung verloren. Ja, sie ist großenteils nicht nur unsinnig geworden, sondern auch kontraproduktiv. Dennoch, die Fähigkeit, Angst zu produzieren, gehört in unser Erbgepäck, was sich deutlich schon in der Kindheit zeigt. Entwicklungspsychologen sprechen von der Achtmonatsangst: In diesem Alter demonstrieren Kinder fremden Personen gegenüber zum ersten Male Furchtsamkeit, wiewohl sie in ihrem kurzen Erdendasein mit bislang Unbekannten nie schlechte Erfahrungen gemacht haben. Es handelt sich hierbei, wie bei sämtlichen anderen Gefühlsqualitäten auch, um eine rein subjektive Form des Erlebens, um sogenannte Qualia. Sie sind allesamt angeboren und nicht erlernbar. Allerdings haben Neugeborene die meisten dieser Erlebnisqualitäten noch nicht in ihrem Repertoire, so eben auch nicht das Angstgefühl, einfach weil die dafür zuständigen Hirnprogramme im Laufe der nächsten Wochen und Monate erst ausreifen müssen. Bei Erwachsenen kann die Angst Fremden gegenüber psychopathologische Züge annehmen, nämlich wenn sie sich als objektiv unbegründet und krankhaft überwertig erweist. Dann spricht man von Xenophobie. 

Die Politik hat die Vokabel „Xenophobie“ aus dem Wortschatz der Psychiater übernommen, wenn es um Haltungen zur Zuwanderung nach Deutschland geht, die sie nicht akzeptieren kann oder will. Politiker tun das, ohne zwischen Menschen mit psychiatrischen Problemen und solchen mit (zumindest vermeintlich) objektiv begründeten Befürchtungen zu differenzieren. Neben dem Rassismusvorwurf wird im gleichen Zusammenhang auch gern von „dumpfen Ängsten“ gesprochen, von Zuständen also, wie sie Patienten mit Angststörungen eigen sind. Das Motiv liegt auf der Hand: Die Psychiatrisierung von Andersdenkenden wirkt wie ein Hammer. Am Ende sind es nur noch wenige, die sich getrauen, offen gegen die aktuelle Zuwanderungspolitik zu protestieren. Wer schon lässt sich gern als „Rassist“ beschimpfen, als rechtsextrem, als Mischpoke, als Pack, oder als Nazi gar? Zuhause natürlich und unter vorgehaltener Hand im Kollegen- und Bekanntenkreis wird kräftig diskutiert, mitunter auch nur bedeutungsschwer abgewinkt. Wir Ostdeutschen fühlen uns an alte Zeiten erinnert, die eigentlich überwunden schienen. Jeder Einzelne möchte sich als vollwertiger Bürger geachtet wissen, und das eben auch mit all den doch wohl verständlichen Sorgen und Befürchtungen in Hinblick auf die Zuwanderungspolitik. Kaum jemand will in Frage stellen, dass Menschen, die vor dem Islamismus fliehen, dringend unserer Unterstützung bedürfen, wenn ihnen diese ihre reichen muslimischen Nachbarländer verweigern. Allerdings eben wird diesen Weg auch der IS nutzen, um seine Angehörigen, Menschen von beispielloser Grausamkeit, bei uns einzuschleusen. Und wie soll das mit der Einwanderung aus den nicht bedrohten Regionen weitergehen? Womöglich kommen da auch anderweitig gefährliche Menschen, warum wohl sonst gibt man uns keine entsprechend aufgeschlüsselte Kriminalitätsstatistiken zur Kenntnis? Selbst für den, der nicht die mindesten Ansätze zum Rassismus aufweist, stellt sich die  Frage, wie lange es noch ein „deutsches Volk“ im Sinne einer relativ einheitlichen ethnischen Gruppe geben wird, wenn heute schon ein Drittel aller Kinder und Jugendlichen einen Migrationshintergrund hat (Erklärung der Bundeskanzlerin auf dem Deutschen Fürsorgetag im Juni dieses Jahres). Immerhin erhebt das Grundgesetz das deutsche Volk zum souveränen Träger der Staatsgewalt (Art. 20). Und erst recht ist zu fragen: Wenn die hiesige Politik bei der Durchsetzung demokratischer Prinzipien in Bezug auf die Zuwanderer tatsächlich keine Alternative sehen sollte, wie steht es dann mit der Politik der übrigen EU-Staaten? Ist deren Staatsführung, wenn sie von einem anderen Verantwortungsverständnis getragen wird, weniger demokratisch? Müssen solche Regierungen wegen ihrer Abschottung gegen Zuwanderer aus Sorge vor Überfremdung, vor zunehmender Kriminalität und auch um den Geldbeutel ihrer Bürger und den Staatshaushalt nicht als „rassistisch“ eingestuft werden, einfach dem hierzulande geübten Wortgebrauch folgend? Und wenn ja, können wir dann mit solchen Ländern überhaupt noch in einer Staatengemeinschaft leben?

 

Die Tragik des Schlusspunktes 

Magdeburg Kompakt Magazin, November 2014

 

Qin Shi Huang, der erste Kaiser Chinas, hatte sich vorgenommen, unsterblich zu sein, koste es, was es wolle. Er gründete den zentralistischen Staat China, herrschte mit unbeschreiblicher Grausamkeit in unbeschreiblichem Reichtum, ließ sich als Gott verehren und: starb. Er starb im 50. Lebensjahr, vermutlich an den Elixieren, die ihn unsterblich machen sollten. Bis zum heutigen Tage sind noch alle gestorben. Caesar ist genauso tot wie Goethe und Lieschen Müller, und die ist so tot wie van Gogh und Einstein. Offenbar jedenfalls sind die Verstorbenen nicht mehr am Leben, trotz aller Unsterblichkeitsbeteuerungen in den Religionen und Mythen der Völker und in den Köpfen der daran Glaubenden. Bisher allerdings waren es immer die Anderen gewesen, die gestorben sind. Wir hingegen, wir leben! Dass auch wir sterblich sind, muss erst bewiesen werden. Vielleicht kommt die Pille gegen das Sterben doch noch? Dann hätten wir gewiss gut Lachen. Bekanntlich lacht der am besten, der zuletzt lacht. Nur, bisher hat zuletzt keiner mehr gelacht.

 

Wenn also der Glaube an die physische Unsterblichkeit recht schwach ist, sind die Versuche dennoch Legion, auch fernerhin noch dazuzugehören. Manche versuchen, ihren Namen in die Geschichtsbücher zu retten, indem sie Kunstwerke schaffen, oder durch Leistungen im Sport oder durch Brusttrommeln in der Politik. Andere verankern sich durch Entdeckungen oder Erfindungen im Bewusstsein der Nachwelt, oder indem sie sich einfach nur fortpflanzen. Mittels Interneteinträgen kann man ebenfalls den Fuß in der Tür behalten, auch nach dem Tod noch. Oder wir versuchen es durch Fotos und Videos, die von unserer einstigen Existenz Kunde geben. Im Sinne der Stammbaumpflege also. Vorausgesetzt, die Nachkommen haben dafür Sinn und auch den Platz. Letzteres sollte bei Digitalisierung kein Problem sein.

Bei all solchen Bemühungen um die Eigennachsorge bekommen wir den schalen Geschmack nicht los, dass wir ja dann, im Fall des Ernstfalls, von der Kunde unserer früheren Existenz nichts mehr haben. Persönlich jedenfalls nicht.

Was ist es überhaupt, das uns derart auf Unvergänglichkeit hoffen lässt? Vor allem wohl das Wissen eines jeden, dass er ein Ich ist, das einzige Ich weit und breit. Die anderen behaupten dasselbe von sich und verfügen ebenfalls über ein gänzlich ureigenes Ich. Selbst eineiige Zwillingspartner. Wie es das Gehirn schafft, ein Bewusstsein seiner selbst zu erzeugen, ein Ich-Bewusstsein, ist uns Hirnforschern rätselhaft und wird es wahrscheinlich für immer bleiben. Über die Zellen und den Zoo an Molekülen, aus denen sich das Gehirn zusammensetzt und wie diese miteinander kooperieren, sind unzählig viele Details bekannt. Täglich werden es mehr. Im Konkreten aber sprengt die Komplexität der molekularen und zellulären Systeme jede Vorstellungsmöglichkeit. Derzeit sind wir sogar noch fern davon, von einer einzelnen Nervenzelle alle die Details zu kennen, die uns sagen, wie sie funktioniert, geschweige denn, wie sie sich über ihre zigtausende Synapsen mit den jeweils Hunderten oder Tausenden anderen Nervenzellen zu einem Netzwerk verbindet. Und diese wiederum mit den 100 Milliarden anderen Nervenzellen zu dem informationellen Kosmos in unserem Kopf. Prinzipien kennen wir, aber wie sieht das konkret aus? Wie entsteht in einem solch gigantischen Netzwerk das Gefühl für Freude oder Ärger, wie das für die Farbe Blau, wie eine Urlaubserinnerung oder ein Gedankenblitz?

Jeder von uns ist aus dem inneren Erleben heraus mit solchen Zustandsformen aufs Intimste vertraut. Auch, wie sich diese innere Welt durch einen oder zwei Schluck an zu viel Bier, Wein oder Aperol Spritz verwirren lässt. Indes, all diese inneren Erlebnisqualitäten bleiben dem Forscher verborgen, wenn er von außen her auf die ihnen zugrunde liegenden Hirnvorgänge schaut. Es ist das uralte Leib-Seele-Problem, auch Gehirn-Geist-Problem genannt, dem wir hier auf die Spur kommen. Niemals können wir nachempfinden, wie ein Anderer empfindet, oder gar ein unser Hund oder die Amsel draußen vorm Fenster. Sehr wohl vernehmen wir, dass sich unser Partner freut oder ärgert, aber wie erlebt er die Freude oder den Ärger, und was genau empfindet er, wenn Beethovens Fünfte erklingt? Erst recht gibt es keinerlei Kunde davon, wie wir es anstellen, uns als ein Selbst zu begreifen.

Dabei ist dieses spezielle Selbst Produkt eines absoluten Zufalls. Nicht nur, dass ein Mädchen hätte als Knabe oder ein Knabe als Mädchen geboren werden können. Nein, ein und dasselbe Elternpaar könnte – theoretisch – Millionen und Abermillionen Kinder zeugen, die sich allesamt genetisch voneinander unterscheiden. Das hängt mit Zufällen bei der Kombination des Erbgutes während der Ei- bzw. Samenzellreifung zusammen und welche der Millionen an genetisch unterschiedlichen Samenzellen ein und desselben Mannes es nun mal gerade ist, die den Wettlauf um die Eizelle gewinnt. Welch Glück, dass gerade wir es waren, deren Erbgut es da zusammengemischt hat! Und welch Unglück für die, die hätten statt unsereiner entstehen können, aber nie entstanden sind. An diese Nicht-Existenzen denkt niemand, sie haben keine Lobby, und sie haben auch keinerlei Möglichkeiten, ein Recht auf Existenz einzuklagen. Eben weil sie nicht existieren. Einen Vorteil aber müssen wir ihnen zuerkennen: Die Probleme mit dem Abschied aus dem Leben bleiben ihnen erspart. Weil sie es nicht leben durften, dieses Leben.

Das Wissen um einen Schlusspunkt ist die mit Abstand größte Tragik unseres Daseins. Verdrängen hilft, aber nicht allzu lange. Mit der Liebe und Fürsorglichkeit zu unseren Kindern und Enkeln, zu unserem Partner und unseren Freunden delegieren wir das Problem der Sterblichkeit nur, nämlich auf die anderen, wir lösen es nicht. Also: Sich auf das Hier und Jetzt konzentrieren! Doch schon dabei gibt es Probleme. Ganze Industrien haben sich darauf spezialisiert, die Zeit totzuschlagen, die uns in unserem einen und einzigen Leben noch verbleibt. Und trotzdem wünschen wir uns Unvergänglichkeit. Ein verregneter Urlaub, und schon verspüren wir den Atem grässlicher Langenweile. Spätestens dann sollten wir einmal über den Traum eines auf Dauer angelegten Lebens nachdenken. Über die Sinnhaftigkeit unserer Sehnsucht nach Unvergänglichkeit.

 



 

                               

Geglaubt wird viel          Magdeburg Kompakt, April 2015

Die Götter wissen das, ebenso die Politiker und andere Werbefachleute. Aber nicht nur die. Wir hier unten, wir wissen es auch. Zumindest, dass wir ausgesprochen anfällig für den Glauben sind, ja dass ein Leben ohne Glauben eigentlich gar nicht gut möglich ist. Andernfalls würden wir keinen Fuß auf das Pflaster setzen und schon gar nicht in ein Auto steigen oder aufs Fahrrad. Was nicht alles tun wir in dem Glauben, dass es nützt und das Schlechte fernhält. Wir arbeiten, wir lernen, auch fürchterlich trocknes Zeug lernen wir, wir essen „gesund“, wir sparen und sparen, gehen endlich mal früh zu Bett, zumindest nehmen wir uns das vor, und wir machen die Augen zu in dem Glauben, sie am Morgen wieder aufzubekommen. Wir erziehen durch Lob und Tadel, wir quälen uns mit Fitnessprogrammen, entspannen hernach und achten auf die richtige Atmung. Wir schlucken Selen- und Magnesiumpillen, schicken uns auf eine Rundreise oder Kreuzfahrt oder wollen das gerade nicht, haben uns das Rauchen abgewöhnt, sogar das Trinken, und pflegen trotzdem Frohsinn. Alles einfach deshalb, weil wir glauben, dass es so und nicht anders gut ist, uns jedenfalls nicht schadet. Allerdings da weiß keiner was Genaues. Außer die Experten. – Die, ausgerechnet die, heute so und morgen so?

Tatsächlich ist die Welt, die unser Leben bestimmt, unendlich kompliziert. Sie berechnen zu wollen, gelingt höchstens ansatzweise und dann auch nur für begrenzte Zeit. Selbst die Autoren von MAGDEBURG KOMPAKT können nicht immer absolut sicher sein (die verehrten Leserinnen und Leser wollen das bitte gefasst hinnehmen). Anstelle von Sicherheit regiert Wahrscheinlichkeit die Welt. Das gilt schon für den konkreten Aufenthaltsort eines jedweden Atomteilchens und erst recht für Wettervorhersagen, für die Entwicklung von Anlagefonds, für Unfälle und Krankheiten, für Bestohlenwerden oder üble Nachrede und nicht zuletzt für unser Sterbedatum.

Als Kind hatten wir Mutter und Vater, die alles wussten, uns den rechten Weg wiesen, uns beschützten. Bald kamen Zweifel an deren Unfehlbarkeit auf, Lehrerinnen und Lehrer übernahmen ihre Rolle, auch Freunde, später der Partner, der erste, der zweite und dann der dritte, parallel dazu Idole, solche von der Bühne oder vom Sport oder sonstige Prominente, welche mit Charisma, andere ohne. Sie alle erwiesen sich als fehlbar, einfach deshalb, weil sie nun mal bloß Menschen sind. Was wir brauchen, ist ein Beistand, der über das menschlich Unzulängliche hinausweist.

Überall in der Welt und zu allen Zeiten wurde gesucht und überall wurde gefunden. Jeder kennt sie, die naiven kleinen Formen des Aberglaubens: der Talisman im Portemonnaie, die Unglückszahl 13, dreimal auf Holz klopfen. Selbstverständlich wissen alle von uns auch von den großen Formen, von den Religionen. Ganze Systeme von Weltanschauungen und moralischen Ge- und Verboten sind das, und sie alle fußen auf dem Prinzip Glauben. Religionen sorgen für Trost und Hoffnung und für den rechten Weg, sind zugleich aber auch brandgefährlich. Kaum einen Krieg gibt es ohne religiöses Unterfutter. Wer zählt die Menschen, die im Namen eines Gottes umgebracht oder geistig geknebelt wurden? Tausende Religionen gibt es und abertausende Götter.  Nur wenige Religionen übten Verzicht und konzentrierten sich auf einen einzigen, einen allumfassenden Gott („Du sollst keine anderen Götter haben neben mir!“). Diejenigen, die sich auf Abraham beziehen, den legendären Stammvater der Israeliten, fanden eine weltweite Verbreitung: das Judentum, das Christentum und der Islam. Andere monotheistische Religionen, der Zoroastrismus, das Jesidentum und der Sikhismus, blieben auf ihre Stammländer beschränkt. Shiva hingegen, der Hauptgott der Hindus, hat es nie bis zur Alleinherrschaft gebracht.

Zum religiösen Glauben, zumal zu den bedingungslosen Formen, sind heutzutage immer weniger Menschen bereit, zumindest in unseren Breiten. Sie fordern für Glaubensüberzeugungen Glaubhaftigkeit, sie verlangen intellektuelle Aufrichtigkeit und authentische Antworten, im besten Falle Wissen. Da aber das Wissen, wie es die Wissenschaft zu liefern imstande ist, Lücken und Unsicherheiten aufweist, kommt es spätestens bei den großen wichtigen Fragen zu einem Dilemma. Denn anders als in den Religionen und in der Politik gibt es in der Wissenschaft keinen Wahrheitsanspruch, zumindest keinen der absoluten, der unumstößlichen Art. Statt zu glauben heißt es zweifeln. Dogmen sind nicht zugelassen, und "Autoritäten" verunmöglichen sich selbst, so sie sich als Wahrheitsapostel aufplustern.

Wenn der Skeptiker nichts, aber auch gar nichts vom Glauben an ein höheres Wesen hält, ringt er mit dem Problem, dass das Wissen um den Ursprung alles Seins an Grenzen stößt. Warum gibt es das Universum überhaupt, warum gibt es nicht vielmehr nichts? Warum sind die zig Naturkonstanten bis auf viele Stellen nach dem Komma so „eingerichtet“, dass chemische Elemente höherer Ordnung entstehen konnten, schließlich Leben und mit ihm auch wir? War das einfach Zufall oder doch eher ein organisierendes Prinzip? Und wenn schon, wodurch wurde dieses allerschaffende Prinzip erschaffen? Wie sollte man es nennen – „Absolutum“, „Ur-Information“, „Weltgeist“? Und wenn „Weltgeist“, wovon z. B. der bekannte Münchner Quantenphysiker  Hans-Peter Dürr gesprochen hat, warum dann nicht auch „Gott“? Natürlich einer ohne Hände und Füße und Augen – wozu die Menschengestalt?

Auch in anderen wichtigen Punkten wirkt die Wissenschaft hilflos: im Spenden von Trost und Hoffnung und in der Sinn-Gebung. Die Natur kennt weder Trost noch Hoffnung, und Sinn ist hier nur als biologisch zu verstehender Zweck zu akzeptieren. Aus solcher Sicht sind Zwecke, die über den des Individuums oder den der Art hinausgehen, unsinnig. Spätestens aber dann, wenn wir am Grab eines geliebten Menschen stehen oder uns eine schlimme Diagnose ereilt, wird das kalte Wissen um die Sinn- und Hoffnungslosigkeit zur Qual. Auch bekennende Atheisten sind dann bereit, in sich zu gehen, um nach Anhalten zu forschen, die vielleicht doch den Glauben an etwas Höheres rechtfertigen, den an etwas Erhabenes, Sinngebendes. Niemand sollte sich dessen schämen, vielmehr schimmert hier etwas ganz und gar Menschentypisches durch, nämlich eine tief verwurzelte Glaubensbereitschaft, die sich mit erstaunlicher Leichtigkeit über Schranken hinwegsetzt, wie sie von der reinen, kalten Vernunft diktiert werden.

Einen wichtigen Erklärungsansatz liefert die Soziobiologie. Alles, was die Menschen unter den Urbedingungen innerhalb einer Horde miteinander verband und von anderen unterschied, machte stark und verbesserte die Chancen im Kampf gegen die anderen. Gefördert wurde die Gruppenidentität durch das Wissen um die gemeinsame Abkunft, durch die Besonderheiten der Sprache, des Dialektes, durch die Geschichten, die die Alten abends am Feuer erzählten, durch die Lieder, die sie gemeinsam sangen, ihre Rhythmen, ihre Tänze. Und das ist der Punkt: Zu dem, was die Gruppe von anderen solchen Gruppen unterschied, gehörten ganz sicher auch ihre spirituellen Eigenheiten.

Der Mensch ist nicht nur von Kultur, sondern auch von Natur aus ein soziales Wesen. Viele Tiere leben in sozialen Strukturen, samt und sonders unsere tierischen Verwandten, die Affen. Verhaltenswirksame Gene, die den Gemeinsinn fördern, dienen ihnen als sozialer Kitt und setzen sich über die Generationen hin durch. Mit der Menschwerdung sind die genetischen Voraussetzungen für das Zusammenleben nicht etwa verschwunden, sondern sie wirken in Form von sozialen Verhaltenstendenzen in uns fort, trotz und neben aller Vernunft. Genvarianten, die auf spirituelle Art sozial wirksam sind, erwiesen sich als stabilisierend und wurden während der Evolution des Menschen im Selektionsprozess begünstigt. Wir zum Glauben geboren – kaum zu glauben, wie?

Allerdings, wie das nun mal so mit Begabungen ist, die einen von uns haben mehr von solchen Anlagen, die anderen weniger, oder weniger wirksame. Die Skala reicht von notorischen Skeptikern bis hin zu den Idealisten. Letztere neigen zu hoher Glaubensbereitschaft und zu einer ethisch geprägten, geistig ausgerichteten Lebenseinstellung, wenn auch nicht unbedingt im religiösen Sinne. Das Streben nach „Höherem“ liegt den spirituell Begabten näher als das nach Besitz. Mit sich und der Welt im Reinen zu sein, ist für sie viel wichtiger als das Ringen um eine kristallklare Sicht auf die Welt oder eine möglichst gewinnträchtige Position.

Ob bald mehr, bald weniger zum Glauben berufen, geglaubt wird viel, und das oft mit quasi-religiöser Überzeugung. Manche glauben an die Wohltaten, die von einer vitaminreichen Ernährung ausgehen oder von Omega-3-Fettsäuren und Dinkelbrot, oder dass die Grüne Gentechnik Teufelsspuk ist und „Bio“ tatsächlich Bio. Geglaubt wird den Autoren von dicken und dünnen Ratgeberbüchern („Wie werde ich glücklich?“, „Wie verliere ich innerhalb von zwei Wochen 20 Kilo?“) und an alternativlose Politik, wir bauen auf Anti-Aging-Cremes und Wischi-Waschi-Religionen, rechnen mit der Heilkraft von Heilwässern und vertrauen darauf, dass es irgendwie schon gut ist, armen Ländern die letzten Ärzte und Ingenieure wegzulocken. Zumindest für die Ärzte und Ingenieure. Glaubenssache ist, dass der Islamismus nicht zum Islam gehört und ebenso wenig die Kreuzzüge und Hexenverbrennungen zum Christentum, dass Intelligenz und Persönlichkeitsmerkmale nichts mit Genen zu tun haben, dass beim Roulette nach einer Serie Schwarz mit größerer Wahrscheinlichkeit Rot kommt und dass die Amis gar nicht auf dem Mond gelandet sind. Indes wird weniger geglaubt, dass wer wenig weiß, viel glauben muss.

Wo nun, fragen wir uns, hat der Glaube seinen Sitz? Natürlich nicht im Knie und auch nicht im Herzen, sondern im Gehirn. Nicht trivial hingegen ist die Frage, wie das Gehirn die Vorstellung von einem höchsten Wesen bewerkstelligt. Eine Zeitlang ging man von einem speziellen „Gottesmodul“ aus. Es wurde an der Grenze von Scheitel- und Schläfenlappen vermutet, in der Tiefe hinter dem linken Ohr. Befunde an Epileptikern sprachen dafür. Menschen, die in dieser Region zu Krampfanfällen neigen, erweisen sich nicht selten als übermäßig religiös. Andere Beobachtungen gingen von der Körperfühlsphäre des Scheitellappens aus. Bei tiefer Meditation oder bei inniglicher Versenkung im Gebet sei diese Hirnrindenregion unteraktiv, was dann für ein „ozeanisches“ Entgrenzungserleben sorge. Buddhistische Mönche sprechen von der Verschmelzung mit der Welt, ja mit dem gesamten Kosmos. In der christlichen Religion ist Ähnliches als Unio mystica bekannt, als Einswerdung mit Gott. Die Hirnforschung von heute allerdings „glaubt“ weniger an Funktionszentren, als das noch vor Jahren der Fall war. Zudem sind die mit dem Glauben zusammenhängenden Erlebnisse viel zu komplex, als dass dafür eine einzelne Hirnregion zuständig sein könnte. Und tatsächlich, es finden sich Aktivitätsveränderungen, wo immer man im Gehirn Messungen vornimmt.

Zum Schluss die Frage: Woran glaubt der, der nicht glaubt? Antwort: Daran, dass er nicht glaubt.

Geglaubt wird halt viel!

 


 

               



Sapere aude!     Magdeburg Kompakt, April 2015


Hinter dem Gebot steckt der Philosoph Immanuel Kant. „Wage weise zu sein!“, meinte er damit, oder freier übersetzt: „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Kants Aufruf wurde zum Leitspruch der Aufklärung. Seinerzeit waren die Dichter und Denker überzeugt, dass sich die Hauptprobleme des menschlichen Zusammenlebens lösen lassen, wenn sich ihrer eine kritisch gestimmte, vernunftorientierte Öffentlichkeit annimmt. Freiheit vorausgesetzt.

Doch wollte Kants Appell nicht so recht fruchten. Zwar hat der Verstand durch Erkenntnis der Natur, von uns selbst und von unserer Gesellschaft ständig hinzugewonnen. Auch wurden die Techniken, mit denen die Natur und der Mensch zu begreifen und zu beherrschen sind, immer raffinierter, ebenso die, mit denen die Folgen der Technik zu meistern sind, und die Folgen der Folgen. Indes die Weisheit, die blieb so ziemlich auf der Strecke. Die Kriege wurden immer verheerender und die Opferzahlen ständig größer. Probleme traten zutage, die es vordem gar nicht gab. Und das alles durch und mit Menschen, die vermeintlich zunehmend aufgeklärt und freier wurden. – Freiheit, was eigentlich ist das, fragt unser Verstand. Jeder weiß es, aber keiner weiß es zu sagen. Freiheit wovon, Freiheit für wen und gegen wen? Ist „Freiheit“ etwa nur eine Begriffs-Hure, von Politikern nach Belieben eingesetzt, wenn sie um unseren Zuspruch buhlen?

Und der Verstand, so muss er sich selbst fragen, was ist aus ihm geworden? Allein im vergangenen Jahr (2014) sind auf naturwissenschaftlich-medizinischem Gebiet weltweit 1.174.167 Originalarbeiten (sogenannte Papers) erschienen, davon 72.999, die den Begriff „brain“ (Gehirn) enthalten! Was sich zur selben Zeit in der Wissenschaft und Technik insgesamt ereignet hat, weiß niemand zu messen, kann niemand auch nur erahnen, geschweige denn verstehen. „Sapere aude!“ – ja wie denn, wenn der Verstand nicht zureicht? Jedenfalls nicht der des Einzelnen, und an den hatte sich Kant gewendet. Das Verständnis dieser dem Umfang nach völlig unverständlichen Welt ist, wenn überhaupt, nur noch kollektiv zu meistern. Kollektive von Experten sind gefragt: Wissenschaftler, Praktiker, Erfinder, Tüftler, Politiker. Ihr Verstand muss ran, wenn wir wissen wollen, woher die subatomaren Teilchen ihre Masse bekommen, Fachleute sind gefragt, wenn der Computer spinnt, das Auto streikt, die Gesundheit abhandenkommt, wenn unser Erspartes dahinschmilzt, neuartige Pflanzenschädlinge auftauchen oder Menschenansammlungen aus dem Ruder laufen. Spezialisten müssen ran, wenn Menschen Menschen bedrohen, beklauen, ermorden, wenn Drogen zum Problem werden, Hautstellen nicht heilen wollen, der Rücken schmerzt oder der Kopf. Experten bieten sich an, wenn sich Unbehagen an der Welt breitmacht, das Wetter von morgen oder das der nächsten Woche vorhergesagt werden soll oder das Klima in 50 Jahren. Überall sind sie, und überall drängen sie sich auf, die Experten: im Fernsehen, in der Zeitung, in der Werbung, in Vorträgen und Seminaren, ja selbst am Küchentisch. Nicht länger haben dort die Eltern das Sagen oder die Großeltern, nein, die Jungen sind‘s, die Pubertierenden, die sich als Welterklärer aufspielen, und das mit Halbverstandenem, das sie irgendwo aufgeschnappt haben, in der Schule, im Internet, durch Freunde. Es scheint, dass uns die anderen um den Verstand bringen, denn die, die wissen alles besser, viel, viel besser. Nur eben, dass sie sich untereinander nicht grün sind, all diese Bescheidwisser, einfach weil sie alles viel besser wissen als die anderen Besserwisser.

Fragen Sie mal eine dieser Koryphären, was die wichtigsten Probleme für die Fortexistenz der Menschheit sind. Oder wie viele Menschen die Erde zu tragen vermag. Es wird immer enger auf unserem Planeten, dennoch reden die Politiker kaum noch von Überbevölkerung. Warum? Viel lieber reden sie davon, dass Gen-Mais gefährlich ist, überhaupt die Grüne Gentechnik, auch wenn das Experten in anderen Ländern ganz anders sehen. Auch in Deutschland, aber heimlich nur, sie hängen am Tropf der schönen Fördergelder. Was macht Klimatologen so sicher, dass das CO 2 der Klimakiller Nummer eins ist? Nicht wenige glauben, für die Erderwärmung ganz andere Faktoren zu erkennen. Es ist hier wie in all den anderen Fällen: Wer stets und ständig seine Ansichten in aller Öffentlichkeit wiederholt und andere dabei ausklammert oder gar verunglimpft, hat schließlich recht. Auch wenn er nicht recht hat. Und die Empfänger all dieser Botschaften, das „einfache“ Volk? Anstelle von Selberdenken lässt man es halt denken. Woher auch sollte man als Einzelner all das Wissen beziehen, das man braucht, um Kants „Sapere aude!“ zu befolgen? Verstandesmangel ist es nicht, aber wie sich seines Verstandes in dieser immer komplizierter werdenden Welt bedienen?

Was dem Einzelnen bleibt, sind Fragen. Sofort aber taucht es wieder auf, das Problem: Eine Frage an zehn verschiedene Fachleute macht fünfzehn verschiedene Antworten. Und diese scheinen alle richtig zu sein. Hören Sie mal in Talk-Runden hinein: Jeder, der gerade spricht, hat recht, irgendwie jedenfalls. Und wenn die nächsten drankommen, behaupten die etwas anderes, mitunter das glatte Gegenteil, und sie haben ebenfalls recht! Allerdings sind die vielen Antworten immer noch besser als gar keine, und wenn wir genau zuhören, schärft dies unser eigenes Urteil. Leider handelt es sich bei solchen Talks um Einbahnstraßen. Wir, die da am Bildschirm, wir hören zu, werden aber nicht gehört. Natürlich können wir zu Informationsveranstaltungen gehen und dort fragen. Mit etwas Glück nimmt man uns auch dran. Bloß zu fragen ist nicht weiter heikel, wenn es sich z. B. um Naturwissenschaften handelt oder um Medizin oder Technik. Anders, wenn die Fragen politischer Art sind und womöglich als arglistig oder als absichtsvoll arglos aufgefasst werden könnten, nämlich gegen den sogenannten Mainstream gerichtet. Etwa:

Was ist Religionsfreiheit und wo hat sie zu enden? Wo bleibt die Entrüstung der christlichen Kirchen, wenn ihre Glaubensschwestern und -brüder zu Tausenden und Abertausenden verfolgt, gar massakriert werden, weil sie nicht den „richtigen“ Glauben haben? Was können die Kirchen tun, wenn sie nicht länger ganz, ganz leise sein wollen? Vielleicht das Licht ausmachen, so wie sie es tun, wenn sie sich über Entrüstete entrüsten? Und was unternehmen die Islam-Verbände, wenn ihre Glaubensbrüder und -schwestern ihre Glaubensbrüder und -schwestern umbringen? Oder bloß Nicht- oder Andersgläubige? Überhaupt, welche Rolle wird der religiöse Fanatismus in den nächsten zehn, zwanzig Jahren spielen, in der Welt und bei uns in Deutschland?

Einmal mit der Fragerei angefangen, purzelt es nur so: Warum werden trügerische Werbeversprechen der Gesundheitsindustrie nicht als kriminell verfolgt? Wird Deutschland in der Weltwirtschaft noch in zwanzig Jahren eine bedeutende Rolle spielen? Wenn ein Nein droht, was machen wir falsch? Darf das Prinzip der beruflichen Eignung durch Quotenregelungen ausgehebelt werden? Dürfen Leistungsträger durch jene übertrumpft werden, die von ihnen leben? Gibt es überhaupt noch Faulheit oder nur noch Motivationsstörungen? Was passiert mit unserem Euro? Sind die Nicht-Euro-EU-Länder weniger europäisch? Wer von den Politikern steht für seine Fehlentscheidungen gerade – morgen, in zehn Jahren, in zwanzig?

Und weiter rumort es in unserem Verstandesgehäuse: Was eigentlich sind Gender-Typen, gibt es tatsächlich tausende, wie die privilegierte Gender-Forschung herausgefunden haben will? Welche Rolle spielen die Gene bei der Ausprägung der Intelligenz, bei der des Individuums und der seiner Angehörigen und Verwandten? In welchen Schulen bringen die Politiker ihre Kinder und Enkelkinder unter? In ganz normalen, auch in Klassen mit mehrheitlichem Migrationshintergrund? Haben die Deutschen noch ein Recht auf Nationalität, auf Patriotismus gar? Trotz Auschwitz, trotz der Abermillionen Toten im 2. Weltkrieg, trotz des unsäglichen Leides, das sie damals in die Welt getragen haben? Sollten wir ... – Ogottogott, gerade wollte ich nach Maut oder Nicht-Maut fragen, so abartig kann es im Oberstübchen zugehen.

Um nicht missverstanden zu werden: Keiner von uns hat sich zu beklagen, sein Verstand reiche nicht genügend an den der anderen heran. Jeder hat ihn und braucht ihn, um das Leben zu meistern und den Beruf. Nur eben, dass kaum einer von uns auf die Brücke gelassen wird, um das Staatsschiff zu lenken oder sonst wie politisch wirksam zu werden. Die meisten wollen es ja auch nicht. Und solange wir uns politisch korrekt äußern, geht das in Ordnung. Was aber, wenn es an politischer Korrektheit fehlt, und wenn wir uns als politisch Schiefliegende gar gemeinsam äußern, womöglich in aller Öffentlichkeit? Bekommen wir es dann mit denen zu tun, die oben auf der Brücke stehen? Schicken sie uns Gegendemonstrationen mit Menschen, die ordentlich auf Kurs liegen, auch mit solchen, die mit Knüppeln und Böllergranaten ausgerüstet sind?

            

Aber fragen, still vor uns hin fragen, das sollten wir doch wohl dürfen. – Nein, nicht dürfen, sondern müssen! In diesem Sinne: Sapere aude!


 

  

Bildungsförderungs- und Optimierungsreformreformen

                                                              Magdeburg Kompakt, Juni 2015
 

O Gott, was hätte aus mir werden können, wäre ich in den Genuss der heutigen Bildungsförderungsprogramme gekommen und in den von den Reformen zu deren Optimierung! Und all den Reformen dieser Reformen. Wenn ich da an meine eigene Schule denke: bröckelnder Putz, übelriechende Aborte, drei Mal in der Woche Makkaroni mit Jagdwurst und einem Schwapp Tomatensoße, zur Abwechslung Pellkartoffeln mit Rührei. Und dann auch noch Frontalunterricht mit strengen Lehrern. Und mit Kopfnoten. Beim Schwatzen erwischt, ab in die Ecke und Gesicht zur Wand! Wegen des einen oder anderen Streichs musste ich während des Unterrichts raus auf den Flur, dorthin, wo die Lehrer vorbeikamen, entweder mit eisigem Blick oder mit einem hämischen „Nanu, Gerald?!“ Ganztags-Schulen gab es nicht, dafür nachmittags frei, meistens, aber auch sonnabends Unterricht. Ständig hatte sich unsereiner für die Familie nützlich zu machen: Wege zum Fleischer, zum Konsum, zum Schuhmacher, der Mutter bei der Wäsche helfen, Schuhe putzen. Ansonsten, was uns einfiel, und das ohne Anleitung, zum Beispiel Fußballspielen. Manche traf es härter: Sie mussten zum Klavierunterricht turnen oder die Beete im elterlichen Schrebergarten umgraben, Unkraut jäten. Keiner fuhr sie dort hin, denn das Auto, so es überhaupt eines gab, wurde nur sonntags aus der Garage geholt. Schlechte Zensuren oder eine der gefürchteten Mitteilungen an die Eltern brachten Kopfnüsse ein und nicht etwa den Beistand durch einen Rechtsanwalt. Dafür hatten wir ein Recht auf Schrammen. Waren sie am Knie oder Ellbogen verheilt, kamen neue hinzu. Ohne dass deswegen die Mütter in eine depressive Krise verfielen.

Was also, frage ich mich, wäre aus Geistern geworden, wie dem von Kant, von Goethe, von Beethoven, Bismark, Siemens oder Einstein und all jenen, die uns in strammer Haltung aus alten Fotos entgegenblicken, ja was, könnten sie die Schulen von heute besuchen? Und was aus mir? Lernen in Schulen ohne Kreide, ohne Schiefertafeln und verbeulten Wandkarten, stattdessen in solchen mit Whiteboards und Beamer, mit Tablets auf dem Tisch und freundschaftlich gesinnten Lehrerinnen und Lehrern. Alles bei reduzierter Ausbildung in den Naturwissenschaften. Vielleicht sogar eine Schule ohne Zensuren, ohne Kopfrechnen. Oder noch optimierter: Schreiben nach Gehör, einfach so hinschreiben, wie es klingt, ohne den verdammten und zeitraubenden Drill durch die Rechtschreibung. Kommata mit der Streubüchse. – Jetzt, also jetzt bin mir nicht ganz sicher: Gab es inzwischen eine Reform dieser Reform? Nach den Formulierungen in den Chatrooms zu urteilen eher nicht.

Die Milliarden-Euro-Frage: Was nun ist der richtige Weg? Ganz einfach Fördern durch Fordern hieß es früher, und heißt es noch heute in den meisten Ländern der Welt. Auch in solchen mit dem höchsten Entwicklungstempo, in Fernost zum Beispiel. Jedoch muss das Einfachste nicht das Bestmögliche sein. Viel Nachdenken erfordert zum Beispiel die Frage, wie Schülern mit Lernschwierigkeiten der Weg zu bahnen ist, sofern sie nicht einfach als faul (unwillig, „motivationsgestört“) zu gelten haben. Allein mit Fordern ist es da nicht getan. Was aber ist mit den anderen? Werden sie in einem Zuge mit den Lernschwachen behandelt, fühlen sie sich zu Recht unterfordert, gegängelt, und ihre Problemlösungskompetenz entwickelt sich nicht so wie sie könnte. Die Menschheitsgeschichte ist bis zum heutigen Tage ein einziges Problemgeflecht, und der Erfolg der Menschheit wie auch der des Einzelnen hing und hängt wesentlich von der Fähigkeit ab, Probleme zu lösen. Motor war und ist jeweils das Ungemach, das das Problem verursacht. Tüfteln, Kreativität, Ideen sind gefragt, so lange, bis man den Ausweg gefunden hat und das Ungemach verschwindet. Welch beglückendes Gefühl beim Erfolg und welch Unverstand, durch „Optimierung“ von Lern- und Erfahrungsstrategien die Entwicklung von Spontaneität und Kreativität zu behindern! Das geht so weit, dass es Schülern freigestellt wird, Fächer, die ihnen Probleme bereiten, einfach abzuwählen. Kaum zu glauben, aber es ist seit langem schulische Praxis: Unsere Medizinstudenten haben an ihren Schulen entweder Biologie oder Chemie oder Physik abgewählt. Nicht, dass sie das wollten, nein, sie mussten!

Wie nun das Bestmögliche finden? Ideen braucht man dazu, Tests und – bei positivem Resultat – die Kraft, das Neue, das Bessere, einzuführen und durchzuführen. An Ideen, so scheint es, mangelt es hierzulande nicht, auch nicht an der Kraft, Neues einzuführen. Wie aber steht es mit den Tests? Unsere Pädagogen beklagen, dass Innovationen in großem Stil eingeführt würden, ohne sie zuvor in puncto Effektivität, ja Sinnhaftigkeit, ausreichend geprüft zu haben. Wenn überhaupt. Oft müssten die Neuerungen ebenso schnell wieder zurückgenommen werden. Politische Erwägungen stünden nicht selten so weit im Vordergrund, dass die pädagogischen Gesichtspunkte gänzlich ins Hintertreffen gerieten. Und (hinter vorgehaltener Hand) so manche Kollegin und mancher Kollege würden als Bildungspolitiker umso entschiedener vorgehen, je dürftiger ihr Erfolg in der zuvor geübten schulischen Praxis gewesen wäre.

Zugegeben, Biologen und Mediziner haben es da leichter. Sie können die Effektivität neuer Verfahren an hunderten, ja an tausenden Versuchstieren überprüfen, indem sie nur einen einzigen Faktor variieren. Die Tiere sind genetisch identisch, gleichsam eineiige Zwillinge, und werden unter haargenau gleichen Bedingungen gehalten. Entsprechend sauber ist die Statistik der Ergebnisse. Keine einzige Fachzeitschrift würde Ergebnisse veröffentlichen, ohne dass ein solcher Aufwand betrieben worden ist. Problematischer wird es allerdings, wenn es um Patienten geht. Da müssen multizentrische und nach Möglichkeit international geführte Studien ran – eine unabdingbare Voraussetzung für die Einführung eines neuen Medikamentes. Die Studien kosten ob ihres Umfangs hunderte Millionen Euro. Hat man je von derartigen auch nur einigermaßen angemessenen Studien an unseren Schulen gehört, von Vergleichen zwischen neu und althergebracht und entsprechenden Statistiken? Zum Beispiel um zu prüfen, inwieweit die Einbeziehung (Incusion) von Schülern mit besonderem Förderbedarf in den regulären Unterricht eine wirklich gute, nämlich eine in jeder Hinsicht gute Idee ist. Kritiker behaupten, dass die Inclusion zum Schaden der Förderschüler wäre und bei den übrigen Kindern zu einer Absenkung des Leistungsniveaus führe. Auch zur Abwanderung von Schülern in die Privatschulen, insbesondere von solchen aus der Mittel- und Oberschicht, eingerechnet die Kinder und Enkel von Politikern.

     Ohne Frage, die Bedingungen im Bildungswesen mögen in mancher Hinsicht ungleich schwieriger sein als die in der Biologie, Medizin oder in der Psychologie. Wenn der Veränderungsdruck hoch ist, muss rasch und ohne große Umschweife reagiert werden. Zum Beispiel bei einem Wechsel des politischen Systems, wie wir ihn in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg hatten. Aber ist in der Gegenwart der Veränderungsdruck derart, dass „ohne große Umschweife“ reagiert werden muss? Anders gefragt: Gibt es Gesichtspunkte, die speziell in der Pädagogik die Regeln der Wissenschaftlichkeit außer Kraft zu setzen? 

 

 

  


 



 


Dramaturgie des Lebens    Magdeburg Kompakt Magazin, Juni  2015

Denken Sie an einen Menschen, der sich stets und ständig im Griff hat, alles hochvernünftig abwägt, nie die Fassung verliert, sich für nichts begeistern kann, alles mit Gleichmut hinnimmt, egal ob sein Haus brennt oder sein Herz in Flammen ... – nein, das ist es ja eben, sein Herz, es entflammt nie, für nichts lässt es sich entzünden. Stoiker nennt man solche Typen, ein Begriff, der auf Philosophen des klassischen Griechenlands zurückgeht. Ihnen zufolge ist der Mensch in eine umfassende kosmische Gesetzlichkeit eingeordnet. Diese als gegeben anzuerkennen und sich in den Lauf der Ereignisse leidenschaftslos einzufügen, galt den Stoikern als Ideal.

Denken Sie an einen Menschen, der sich stets und ständig im Griff hat, alles hochvernünftig abwägt, nie die Fassung verliert, sich für nichts begeistern kann, alles mit Gleichmut hinnimmt, egal ob sein Haus brennt oder sein Herz in Flammen ... – nein, das ist es ja eben, sein Herz, es entflammt nie, für nichts lässt es sich entzünden. Stoiker nennt man solche Typen, ein Begriff, der auf Philosophen des klassischen Griechenlands zurückgeht. Ihnen zufolge ist der Mensch in eine umfassende kosmische Gesetzlichkeit eingeordnet. Diese als gegeben anzuerkennen und sich in den Lauf der Ereignisse leidenschaftslos einzufügen, galt den Stoikern als Ideal.Meines ist es nicht, und Ihres vielleicht auch nicht. Sich mal richtig aufzuregen, über eine Ungerechtigkeit empört zu sein, das entschlackt, reinigt die Seele, schützt vermutlich vor Herzinfarkt. Leidenschaftlich zu sein, klingt sympathisch, solange man nicht zur Zielscheibe wird. Leidenschaft, da merkt man, hier schlägt ein Herz in der Brust. Wie packend, wenn es für jemanden oder für etwas schlägt. Keinen Roman, kein Drama und kaum einen Film gibt es, in denen nicht auf dieses große Gefühl abgezielt wird. Und immer dann der Konflikt. Die Dramaturgie verlangt das so. Vom Genre hängt es ab, ob sich die Handlung zum Happy End hin oder zur Tragödie entwickelt. Gleichviel, ist die Zuneigung auch noch so heftig entbrannt, die Eigenliebe legt ihr Scheit immer mit ans Feuer: Ich bin es, der in seiner Leidenschaft erhört werden will, ich, ich, ich! Auch dann, wenn es dem Anderen gar nicht ins Zeug passt oder, weit ärger noch, einem Widersacher das Messer in der Hose aufklappt. Im Leben gibt es so was auch, selbstverständlich, gewöhnlich aber geht es dann einfach weiter, und langsam verliert das Ganze an Brisanz.

Edler ist es, wenn jemand in völliger Selbstlosigkeit für etwas brennt. Zum Beispiel für Hilfsbedürftige. Anrührend auch, wenn sich jemand mit Enthusiasmus der Naturbetrachtung hingibt, passionierter Käfersammler ist oder Moose und Flechten fotografiert, für die sich sonst „kein Schwein interessiert“. Oder in verstaubten Kirchenbüchern leidenschaftlich der Geschichte seiner Ahnen nachgeht, für einen Pop-Sänger oder eine Pianistin schwärmt, die Erde umrundet, um sich zum x-ten Male durch eine Sonnenfinsternis beglücken zu lassen, oder jemand, der immer aufs Neue mit der Wünschelrute loszieht, um zu beweisen, dass da doch was dran ist an der Rutengängerei, und überhaupt. „Durch die Leidenschaften lebt der Mensch, durch die Vernunft existiert er bloß“, meinte der französische Schriftsteller Nicolas Chamfort. Er war einer von denen, die für die Französische Revolution glühten. Selbstlos tat er das. Wenn ich in diesem Moment über Beispiele von Politikern aus der Jetztzeit nachdenke, solche, die leidenschaftlich und zugleich selbstlos ihren Auffassungen nachhängen, dann, ähm ... – später vielleicht.

Sofort aber weiß ich Wissenschaftler zu nennen, die bereit sind, für ihre Begeisterung persönliches Glück hintanzusetzen. Ich denke an manche meiner früheren Mitarbeiter, die – schon fünfunddreißig- oder vierzigjährig und hochleistungsfähig – sich im Universitätsbetrieb bei einer 50-60-Stundenwoche mit befristeten und niedriggelöhnten Stellen abfanden. Schließlich mussten sie um die halbe oder die ganze Welt reisen, um irgendwo eine neue Anstellung zu finden, eine, auf der sie ihre wissenschaftliche Passion weiter verfolgen konnten. Klassenkameraden, die weniger begeisterungsfähig waren, haben „lohnendere“ Fächer studiert und arbeiten nun in Berufen, denen Geldsorgen ferne sind, zumindest sein sollten. Dieselben klagen dennoch über zu geringe Verdienstmöglichkeiten und streiken, während von den ersteren in der Öffentlichkeit nichts zu hören ist. Schade! Jawohl schade, denn nichts braucht unser Land dringender als Menschen, die für ihren Beruf glühen, wenn wir dem globalen Wettbewerb auf Dauer standhalten wollen. Es scheint, als würde solcherart Haltung fast nur noch in Fernost gepflegt und fände sich hierzulande allenfalls bei Familien, die aus diesen Gefilden stammen. Dank den Eltern und Ehre den Lehrerinnen und Lehrern, die auch unsere Kinder in einem solchen Sinne erziehen und damit den allgemeinen Einebnungstendenzen trotzen.

Die Objekte der Begierde sind so verschieden, wie die Menschen es sind, die ihnen frönen. Für die Wahl mögen Schlüsselerlebnisse den Ausschlag geben. Und dann, wenn es im Schloss geschnappt hat, heißt es nur noch Breakdance und nicht mehr Fußball, nicht länger Münzen werden gesammelt, auch nicht Briefmarken, sondern Liebschaften, und schließlich muss es Ines sein, unbedingt die und keine andere, oder eben wird das Herz an Mike gehängt und nicht an René. „Bis über beide Ohren verliebt“, nennt das der Volksmund. Warum bloß diese Fixierung? Die von Amors Pfeil Durchbohrten erkennen einige Zeit später glasklar die Kehrseiten der Angehimmelten, warum fallen die ihnen nicht sofort ins Auge? Die Psychologie spricht von „selektiver Wahrnehmung“. Interessanterweise gibt es solche Art Scheuklappen auch bei Tieren, solchen, die in strenger Einehe leben, Gänse zum Beispiel und Papageien. Die Vögel wählen aus der Schar der Angebote einen einzigen Kandidaten aus, und für den entbrennen sie in unverbrüchlicher Leidenschaft. Menschen hingegen sind auf ihrem Evolutionsweg hin zur Monogamie noch nicht ganz angekommen. Wie sonst wollte man sich die hohen Scheidungsraten erklären?

Immerhin gibt es recht interessante Erklärungsversuche für den Mechanismus, der die leidenschaftliche Beziehung in Gang setzt, das „falling in love“, wie es die Engländer nennen. Ein Signalstoff, das Oxytocin, spielt dabei eine wichtige Rolle. Das Oxytocin, auch Liebes- oder Kuschelhormon genannt oder Treue- oder Vertrauenshormon, wird von bestimmten Nervenzellen gebildet, deren Fortsätze weite Bereiche des Gehirns durchziehen und unter anderem in der Insula enden. So nennt man einen tief eingestülpten Rindenbereich in der Schläfenregion unseres Gehirns. Im Sucht-Geschehen spielt die Insula eine große Rolle. Denn es ist ein suchtähnlicher Vorgang, mit dem sich die Heftigkeit des Verlangens nach dem Anderen erklärt. Mit speziellen bildgebenden Verfahren (funktionelle MRT, Brain Imaging) lässt sich nachweisen, dass es beim Anblick der Auserwählten in dieser Hirnregion zu Aktivierungen kommt, und das geht mit der Freisetzung des Liebeshormons einher. Dieselbe Hirnstruktur dürfte Teil der rosaroten Brille sein, die die weniger günstigen Seiten des Partners wegfiltert. Zunächst jedenfalls.

„Durch die Leidenschaften lebt der Mensch, durch die Vernunft existiert er bloß“ – wie trefflich das Nicolas Chamfort formuliert hatte! An anderer Stelle sagte er: Die Vernünftigen halten bloß durch, die Leidenschaftlichen leben. War es Erfahrung, die den Dichter so zu schreiben lehrte? Oder doch nur die Sehnsucht nach einer solchen Erfahrung?

Sehn-Sucht – womöglich immer noch besser als gar keine Leidenschaft.



 


Der "kleine" Unterschied ist groß Magdeburg Kompakt, September 2014

KOMPAKT: Herr Prof. Wolf, auf welche Weise denken Frauen denn nun anders als Männer?

Prof. Dr. Gerald Wolf: Versuchen Sie mal, das als Mann zu denken! Aber ernsthaft: Eine abschließende Erklärung, wie unser Apparat im Kopf tatsächlich funktioniert – bei Frauen wie bei Männern –, hat noch niemand.

Wie begreifen wir die Unterschiede zwischen Frauen und Männern und woraus könnte man die unterscheidbaren Verhaltens- und Sichtweisen herleiten?

Ein wichtiger Schlüssel ist die Genetik. Der Mensch hat in seinen Zellkernen 46 Chromosomen, darunter finden sich bei Frauen zwei X-Chromosomen. Männer haben nur eines, und anstelle des zweiten ein kleines Y-Chromosom. Es ist gerade mal dafür da, dass männliche Geschlechtsorgane ausgebildet werden. Und diese sorgen durch die Produktion des Hormons Testosteron für die Ausprägung männlicher Geschlechtsmerkmale, solchen des Körpers wie auch des Verhaltens. Dies ist alles nicht neu. Jünger ist, dass sich in der Gesellschaft der sogenannte Sozialkonstruktivismus breit macht, der behauptet, die Unterschiede zwischen Mann und Frau seien im Wesentlichen kulturbedingt. Verkürzt gesagt: Man will uns weiß machen, die Unterschiede ließen sich unter geschlechtsneutralisierenden Verhältnissen wieder verlernen bzw. überhaupt verhindern.

Dann erklären Sie bitte einmal, wie sich die Differenzen in der Geschlechternatur manifestieren!

Durch alles das, was Frauen und Männer typischenfalls unterscheidet und was sie für einander so anziehend macht, für Nachwuchs sorgt und – für Probleme. Apropos Probleme: Männer neigen stärker zur Aggressivität und werden im Schnitt zehn Mal häufiger straffällig als Frauen. Sie sind auch für Süchte anfälliger. Unter Männern gibt es, salopp gesagt, die meisten Schwachköpfe und Versager, aber auch deutlich mehr Hochbegabte, Genies.

Kann man das erklären?

Das X-Chromosom ist Träger vieler Gene, die für Begabungen zuständig sind. Varianten werden im weiblichen Geschlecht durch das zweite X-Chromosom mehr oder weniger kompensiert, im männlichen Geschlecht aber schlagen sie wegen dessen Fehlens leichter durch.

Man könnte meinen, Frauen seien weniger extrem und daher die besseren Menschen. 

Davon bin ich überzeugt, nur nicht so ganz 100%ig. Noch mal zur Intelligenz: In entsprechenden Tests erreichen Frauen und Männer etwa dieselbe Durchschnittsleistung. Allerdings zeigen Männer an den Rändern der Leistungskurven stärkere Abweichungen, im Negativen wie im Positiven. Und auf die Plusvarianten kommt es in der Gesellschaft an. Hier reifen die Spitzenleistungen.

Und warum haben Mädchen in den Schulen allgemein bessere Noten als Jungen, schließen häufiger mit einem erfolgreichen Abitur ab und nehmen danach ein Studium auf?

Weil unser Schulsystem darauf aus ist, in möglichst vielen Fächern hohe Lernerfolge zu erzielen. Jungen neigen eher zu Spezialinteressen, und das tut ihrem Leistungsdurchschnitt nicht immer gut. Ein rohstoffarmer Staat wie der unsere braucht ein hohes allgemeines Leistungsniveau, keine Frage, besonders aber bedarf er der Leistungsspitzen. Querdenker sind nötig, Sonderlinge und Visionäre. Mehr Mumm zur Unangepasstheit brauchen wir, auch die Ungleichheiten von Frauen und Männern. Und das bei gleichem Recht für alle.

Bildet sich die Unterschiedlichkeit der Menschen, zumal die des Geschlechts, in den Gehirnen ab? Das Hirngewicht soll ja wohl unterschiedlich sein.

Das Gehirn des Mannes wiegt im Durchschnitt knapp 1400 Gramm, das der Frau etwa 100 g weniger. Die Intelligenzleistung aber ist im Mittel gleich. Vermutet wird, dass der Mann mehr Hirnmasse benötigt, weil sie mehr Muskelmasse dirigieren muss. Trotz der raffinierten Untersuchungstechniken, die der Hirnforschung von heute zur Verfügung stehen, sehen wir nur wenig, was geeignet wäre, Hirnleistungsunterschiede abzubilden. Dazu bedarf es nach wie vor spezieller Tests.

Selbst den „kleinen“ äußeren Unterschied kann man im Denkorgan nicht sehen?

Der kleine Unterschied ist groß, im zentralen Nervensystem aber nicht augenfällig. Im vorderen Zwischenhirn befindet sich das präoptische Areal, so genannt, weil es vor der Kreuzung der Sehnerven liegt. Es ist bei Männern zwei- bis dreimal größer, bewirkt jedoch kaum anderes als die höhere Testosteron-Produktion. Auf kognitive Leistungen hat es überhaupt keinen Einfluss.


            

 


 Der Mann, das extremere Geschlecht

Magdeburg Kompakt, Oktober 2014

KOMPAKT: Herr Prof. Wolf, lassen Sie uns noch einmal auf die Unterschiede der Geschlechter zurückkommen. Wie sind nach Ihrer Ansicht die für Männer typischen Persönlichkeitszüge zu erklären?

Prof. Dr. Gerald Wolf: Schon Darwin war überzeugt, dass in der Evolution die sexuelle Selektion einen maßgeblichen Einfluss hat, bei Tieren wie beim Menschen. Erbgutanalysen zufolge ist bei der Abkunft der heutigen Menschheit der Anteil der Frauen etwa doppelt so hoch gewesen wie der der Männer. Das heißt, Frauen pflanzen sich weit erfolgreicher fort als Männer.

Männer könnten bei der Partnerwahl häufiger leer ausgegangen sein? 

Keine Frage. Im Extremfall konnten sich die einen ganzen Harem leisten, dafür hatten andere das Nachsehen. Männer mussten seit jeher ziemlich viel anstellen, um bei Frauen zum Zuge zu kommen. Als bewunderte Krieger oder erfolgreiche Jäger oder als reiche Händler hatten sie einfach mehr Chancen, die eigenen Gene weiterzugeben. So mögen sich über Generationen hin Persönlichkeitszüge wie Wagemut, Härte, Ausdauer, Orientierungssinn und Dominanzgebaren herausgebildet haben – Eigenschaften, die für die andere Seite durchaus auch heute noch attraktiv sind.

Nun gibt es bei den Männern aber auch solche, die besonders antriebsarm, einfältig oder mutlos sind.

Wenn es speziell diese wären, die die Frauenherzen erobern, würde die Entwicklung der Menschheit gewiss anders verlaufen sein. Typischerweise – die Streubreite ist sehr groß! – fallen bereits die kleinen Jungs durch Eigenschaften auf, in denen sie sich vom anderen Geschlecht unterscheiden. Ihre Interessen sind oft anders, sie neigen zur Technik-Begeisterung, zu Tüfteleien, sind aufmüpfiger und begeistern sich für Mutproben, die die Mädchen einfach nur „blöd“ finden.

Und so würde sich auch erklären, warum es bei Modelleisenbahnern fast keine Frauen gibt?

Oder bei den Hobby-Ornithologen oder den Anglern. Wenn Jungen mit ihren Kumpanen die Wälder der Umgebung auskundschaften, oder alte Gemäuer, machen die Mädchen gewöhnlich nicht mit, zumindest sind sie nicht die Anführer. Einer meiner Freunde z. B. hatte eine Dampfmaschine gebaut, die ihm dann um die Ohren geflogen ist. Die jungen Damen in unserer Klasse kicherten nur, als sie davon erfuhren, hatten aber die besseren Schulnoten.

Nun versuchen wir gesellschaftspolitisch, die Geschlechter stärker anzugleichen. Ist das überhaupt möglich? Und auch sinnvoll?

Weder per Gesetz noch Unterweisung wird man die Unterschiede, die von evolutionsbiologisch gewordenen Tendenzen herrühren, einebnen können. Wenn mit Druck, dann bei fragwürdigem Ergebnis. Öffentlich favorisiert ist zugunsten der Geschlechtergleichstellung das „Gender Mainstreaming“-Prinzip. Dessen Argumente sind durchaus eingängig, d. h. leicht zu verstehen, wenn auch nicht leicht zu akzeptieren. Ganz anders die Überlegungen, die im Sinne von „Gender Management“ auf verhaltensgenetischen Erkenntnissen fußen. Sie erfordern eine intensive Beschäftigung mit der Genetik und der Evolutionsbiologie und sind daher weniger beliebt.

Wie sollten wir dann mit der Proklamation von Gleichstellung und Gleichberechtigung umgehen? 

Gleiches Recht auf jeden Fall. Auch müssen Frauen und Männer bei gleicher Eignung gleiche Chancen haben. Allerdings halte ich die Einführung und Durchsetzung von Quoten für höchst bedenklich. Sie verführen, Eignungsunterschiede zu nivellieren. Das gefährdet den Geschlechterfrieden und schadet auf Dauer der Gesellschaft.

Können wir denn überhaupt einen wirklichen Geschlechterfrieden herstellen?

Man sollte eher fragen, worin denn der Geschlechterkrieg besteht. Ich halte die These von den machtbesessenen Männern, die Frauen um ihre Chancen bringen wollen, nicht für sonderlich real, nicht in der heutigen Zeit und nicht in unserer Kultur. Die Emanzipationsbewegung hat vollbracht, was zu vollbringen war, in den Köpfen wie in den Herzen.

Dann wäre ja alles in bester Ordnung?

Nein. Es gilt, die individuellen Neigungen und Fähigkeiten frühzeitig zu erkennen und – wenn sinnvoll – zu fördern. Unabhängig vom Geschlecht. Eliten-Förderung muss wieder stärker in den Fokus rücken, und zwar auf allen denkbaren Feldern. Wenn die Noten über den Fächerkanon hinweg ein zackiges Leistungsprofil ergeben, dann mag das ein wichtiger Hinweis darauf sein, wo die Stärken sind. Und diese gilt es mit Blick auf die berufliche Entwicklung zu kultivieren. Das tut der Gesellschaft gut, und nicht zuletzt der Lebenszufriedenheit der Menschen.

Also möglichst frühzeitige Spezialisierung?

Nein, die Schulen sollen allgemeinbildend bleiben. Wenn ich z. B. an das Prinzip denke, in den höheren Stufen eines der drei naturwissenschaftlichen Fächer abzuwählen, kringeln sich meine Fußnägel! Vielmehr müssen die Schulen Unterschiede in den Neigungen und Fähigkeiten, sofern sinnvoll und von Leistungswillen getragen, akzeptieren und, bis zu einem gewissen Grade, pflegen. Als Land ohne Rohstoffe sind wir mehr als andere auf die heranwachsenden Spezialisten angewiesen. Im Brei der Gleichmacherei untergerührt, werden wir im weltweiten Wettbewerb bald das Nachsehen haben. (tw)