Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! – forderte der Philosoph Immanuel Kant vor mehr als 200 Jahren. Er hatte etwas viel von uns verlangt, aber ein wenig sollten wir ihm schon entgegenkommen. Jeder auf seine Weise. Hier die meine.
Achse des Guten. 18.03.2017
Was wäre in einer heutigen Schule aus mir geworden?
Von Gerald Wolf.
Was hätte aus mir werden können, wäre ich in den Genuss der heutigen Bildungsförderungsprogramme gekommen und in den von den Reformen zu deren Optimierung! Und erst recht all den Reformen dieser Reformen. Wenn ich da an meine eigene Schule denke (es ist viele Jahrzehnte her): bröckelnder Putz, übelriechende Aborte, drei Mal in der Woche Makkaroni mit Jagdwurst und einem Schwapp Tomatensoße, zur Abwechslung Pellkartoffeln mit Rührei. Und dann auch noch Frontalunterricht mit strengen Lehrern. Und Kopfnoten. Beim Schwatzen erwischt, ab in die Ecke und Gesicht zur Wand! Oder raus auf den Flur, dorthin, wo die Lehrer vorbeikamen, die gerade keinen Unterricht hatten, entweder – ich erinnere mich – mit eisigem Blick oder mit einem hämischen „Nanu, Gerald?!" Schlechte Zensuren oder eine der gefürchteten Mitteilungen an die Eltern brachten Kopfnüsse ein und nicht etwa den Beistand durch einen Rechtsanwalt.
Ganztags-Schulen gab es nicht, dafür nachmittags frei, meistens. Ein paar Hausaufgaben winkten, auch Aufgaben für das Haus und die Familie, und dann, ja dann … Um nicht Opfer der Langeweile zu werden, musste sich unsereiner etwas einfallen lassen. Man selbst war da gefragt, niemand wartete auf uns mit Beschäftigungsprogrammen, mit Anleitungen für dies und für das. Dafür hatten wir ein Recht auf Schrammen. Waren sie am Knie oder Ellbogen verheilt, kamen neue hinzu. Ohne dass deswegen die Mütter in eine depressive Krise verfielen.
Was, frage ich mich, wäre aus mir geworden, hätte ich eine der Schulen von heute besuchen können? Und was erst aus Geistern, wie denen von Kant oder Goethe, von Beethoven, Bismarck, Siemens oder Einstein und all jenen, die uns in strammer Haltung aus alten Fotos entgegenblicken? Lernen in Schulen ohne Kreide, ohne die Schiefertafeln und verbeulten Wandkarten von damals, stattdessen lernen in Schulen mit Whiteboards und Beamer, mit Tablets auf dem Tisch und freundschaftlich gesinnten Lehrerinnen und Lehrern. Die Gestaltung der Nachmittage durch Fachpersonal, ihre Anleitungen von ausgeklügelt pädagogischer Art. Angeleitet werden bis zum Abwinken. Vielleicht sogar Besuch einer Klasse ohne Zensuren, ohne Wettbewerb im Kopfrechnen. Schreiben nach Gehör, einfach so hinschreiben, wie es klingt, ohne den verdammten und zeitraubenden Drill durch die Rechtschreibung. Kommata mit der Streubüchse. Kein Bimsen von Fakten, stattdessen lernen, in Zusammenhängen zu denken, auch ohne Fakten. Zensuren bleiben geheim. Und das Schönste: Die Schüler können mitbestimmen, wie der Unterricht aussehen soll. Nicht zu anstrengend natürlich.
Fördern durch Fordern?
Übertrieben? Gewiss. Nun aber die Milliarden-Euro-Frage: Wie sollte er denn nun aus heutiger Sicht aussehen, der Weg zur Bildung, welcher ist der beste? Fördern durch Fordern? So einfach war das früher, und so heißt es noch immer sonstwo in der Welt. Vor allem in Ländern mit dem höchsten Entwicklungstempo, in Fernost zum Beispiel. Jedoch muss das Einfachste nicht das Beste sein, und schon gar nicht das Humanste. Wie z. B. sollte Schülern mit Lernschwierigkeiten der Weg geebnet werden? Sofern sie nicht einfach faul („motivationsgestört“) sind, ist es mit Fordern allein nicht getan. Diese Schüler gemeinsam mit den anderen Schülern zu unterrichten, überfordert die Einen und unterfordert die Anderen. Sie aber von anderen als „lernschwach“ abzugrenzen, stigmatisiert.
Auch muss man sich fragen, wo die Grenze zwischen sinnvoller Anleitung und Gängelung ist? Etwa wenn es um Kompetenz für Problemlösungen geht. Das Leben ist nun mal problembeladen, und der Erfolg der Menschheit wie auch der des Einzelnen hing und hängt wesentlich von der Fähigkeit ab, Schwierigkeiten zu meistern und Hürden zu überwinden. Tüfteln, Kreativität und Ideen sind dann gefragt, so lange, bis der Ausweg gefunden und das Ungemach behoben ist. Welch beglückendes Gefühl dann! Es ereilt genauso jene, die ohne äußere Not tüfteln, Menschen, die Probleme lieben. Und was ist mit den Anderen, denen also, die keine Not kennen, weder eine äußere noch eine innere? Manche „Optimierung“ von Lern- und Erfahrungsstrategien, so steht zu befürchten, mag die Entwicklung von Spontaneität und Kreativität, von Erfindungsgeist, Phantasie und Originalität eher behindern. Hindernisse aus dem Weg zu räumen geht so weit, dass den Schülern freigestellt wird, Fächer, die ihnen Not bereiten, einfach abzuwählen. Die meisten unserer Medizinstudenten etwa haben an ihren Schulen entweder Biologie oder Chemie oder Physik abgewählt. Nicht, dass sie das wollten, nein, sie mussten!
Wie nun den bestmöglichen Bildungsweg finden? Ideen braucht man dazu, vor allem deren Prüfung und – bei positivem Resultat – die Kraft, das Neue, das Bessere einzuführen und es dann auch umzusetzen. An Ideen, so scheint es, mangelt es hierzulande nicht, eher im Gegenteil. Auch nicht an der Kraft, Neues durchzusetzen. Insbesondere dann nicht, wenn das Neue mit dem von der politischen Elite definierten „Mainstream“ harmoniert. Wie aber steht es mit den Eignungstests? Unsere Pädagogen beklagen, dass Innovationen in großem Stil eingeführt würden, ohne sie zuvor auf Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit geprüft zu haben. Und wenn, dann nicht hinreichend. Oft müssten die Neuerungen ebenso schnell, wie sie eingeführt wurden, wieder zurückgenommen werden. Politisch-ideologische Erwägungen stünden so weit im Vordergrund, dass die pädagogischen Gesichtspunkte ins Hintertreffen gerieten. Hinter vorgehaltener Hand heißt es dann, manche Kollegin und mancher Kollege würden – dank guter Parteiarbeit zum Bildungspolitiker avanciert – umso entschiedener neue Regelungen einführen, je dürftiger der Erfolg in ihrer schulischen Praxis dereinst gewesen wäre. Wenn sie überhaupt eine hatten.
Wer kann, weicht auf Privatschulen aus
Zugegeben, die Ingenieur- und Naturwissenschaftler haben es da leichter. Sie können die Effektivität neuer Verfahren nach klaren Kriterien testen. Neue Wirkstoffe werden an unzähligen Versuchstieren auf Nutzen und Nebenwirkungen geprüft. Die Tiere sind genetisch nahezu identisch, gleichsam eineiige Zwillinge, und werden unter haargenau gleichen Bedingungen gehalten. Entsprechend sauber ist die Statistik der Ergebnisse. Keine einzige Fachzeitschrift würde Resultate veröffentlichen, ohne dass ein solcher Aufwand nachgewiesen ist. Problematischer wird es allerdings, wenn es um Patienten geht. Da sind multizentrische und nach Möglichkeit international geführte Studien erforderlich, und die in Tausende gehenden Teilnehmer sind nach dem Zufallsprinzip zu gruppieren – eine unabdingbare Voraussetzung für die Einführung eines neuen Arzneimittels. Die Studien dauern oft mehr als zehn Jahre und kosten hunderte Millionen Euro.
Hat man jemals von auch nur einigermaßen angemessenen Studien an unseren Schulen gehört, von aufwändigen, nach Möglichkeit internationalen Vergleichen zwischen neuen und althergebrachten Unterrichtsmethoden? Und von entsprechenden Statistiken? Zum Beispiel um zu prüfen, inwieweit die Einbeziehung (Inklusion) von Schülern mit besonderem Förderbedarf in den regulären Unterricht eine wirklich gute Idee ist, und zwar in jeder Hinsicht? Kritiker behaupten, die Inklusion schade den Förderschülern und führe bei den übrigen Kindern zu einer Absenkung des Leistungsniveaus. Auch zur Abwanderung von Schülern in die Privatschulen, insbesondere von solchen aus der Mittel- und Oberschicht, eingerechnet die Kinder und Enkel von Politikern. Gibt es Belege dafür, dass die für Bildung zuständigen Politiker ihre Kinder in ganz normale Schulen schicken, solche mit einem hohen Anteil an Schülerinnen und Schülern, für die Deutsch eine Fremdsprache ist?
Gewiß, die Bedingungen bei der Entwicklung von Bildungsstrategien mögen in mancher Hinsicht ungleich schwieriger sein als die in den Entwicklungslabors der „hard sciences“. Und wenn in der Bildungslandschaft der Reformdruck tatsächlich hoch ist, muss rasch und ohne Umschweife reagiert werden. Zum Beispiel bei einem Wechsel des politischen Systems, wie wir ihn in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg hatten. Aber sind in der Gegenwart Reformen so dringend notwendig, dass sofort gehandelt werden muss? Anders gefragt: Gibt es heute Gründe, die besonders in der Pädagogik die Regeln der Wissenschaftlichkeit außer Kraft setzen dürfen?