Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! – forderte der Philosoph Immanuel Kant vor mehr als 200 Jahren. Er hatte etwas viel von uns verlangt, aber ein wenig sollten wir ihm schon entgegenkommen. Jeder auf seine Weise. Hier die meine.
Achse des Guten 26.08.2017
Postfaktisch und postmerkelisch
Von Gerald Wolf.
Ging es Ihnen auch so, damals, als diese Vokabel plötzlich überall auftauchte? Zuerst dachte ich an eine Art von Witz, an einen Wortwitz, dann an eine Verwechslung mit – ja, womit denn? Mit prä-faktisch, mit extra-faktisch? Bald aber, bei dem explosionsartig expandierenden Gebrauch von „postfaktisch“, hoffte ich, die Germanisten würden’s schon richten. Zum Beispiel mit der Wahl zum „Unwort des Jahres“. Irrtum: Die Gesellschaft für Deutsche Sprache ehrte „postfaktisch“ als Wort des Jahres 2016. Die Bundeskanzlerin war es, die diesen Begriff, wenn schon nicht erfunden, dann doch populär (populistisch?) gemacht hat. Sie sagte nach der Wahlschlappe der CDU in Berlin, September 2016: „Es heißt ja neuerdings, wir lebten in postfaktischen Zeiten. Das soll wohl heißen, die Menschen interessieren sich nicht mehr für Fakten, sondern folgen allein den Gefühlen ...“ Wollte die Gesellschaft für Deutsche Sprache, ein vom Staat alimentierter Verein, der großen Chefin wegen ihres Missgriffs in die Wörterkiste gütig den Rücken stärken?
Gleich als ich das Wort zum ersten Male hörte, fing meine Vokabelmühle zu klappern an. Heraus kam: lateinisch „post – nach, hinter“ und „factum – Tatsache, Ereignis“. „Postfaktisch“ demgemäß „den Tatsachen bzw. den Ereignissen folgend“. Das aber entsprach nicht dem Sinn, den ihm Frau Merkel gegeben hatte. „Auf Gefühlen, nicht auf Tatsachen beruhend“, meinte sie, damit meinen zu wollen. Und die politisch-mediale Klasse meinte eifrig mit. Das tut sie bis heute. Sogar der Duden macht mit. Unsere oberste Rechtschreibehilfe dreht den Wortsinn von „postfaktisch“ gewissermaßen in sein Gegenteil um, und das ohne eine entsprechende Erläuterung.
Befördert wurde die Karriere der Vokabel womöglich durch das Wörterbuch „Oxford Dictionary“, das (ebenfalls im Jahr 2016) „post-truth“ als Internationales Wort des Jahres gekürt hatte. Seitdem wird der Begriff bei uns einfach mit „postfaktisch“ übersetzt. Jedoch lässt „post-truth“ vom Wortsinn her die Deutung zu (meist ist es wohl auch so gemeint), dass die Wahrheit zwar bekannt ist oder bekannt sein mag, doch absichtlich ignoriert wird. Bei Verwendung von „postfaktisch“ hingegen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, das Wort werde hierzulande lediglich gebraucht, um jene als gefühlsduselige Dummerjane abzuqualifizieren, die eine andere Wahrheit für wahr halten und diese auch noch zu verteidigen trachten.
In der Wissenschaft, zumindest dort, wo die Gangart eine härtere ist, gibt es „postfaktisch“ zwar nicht als Begriff, aber als Prinzip. Nämlich dann, wenn es gilt, Schlussfolgerungen zu ziehen. Und zwar nach Erhebung der Fakten. Postfaktisch eben.
Wortfechterei, könnte man meinen. Lächerlich das Ganze? Ist es nicht. Leider.
Professor Gerald Wolf ist Hirnforscher und emeritierter Institutsdirektor. Er widmet sich in seinen Vorträgen und Publikationen und regelmäßig im Fernsehen (MDR um 11, Sendung „GeistReich“) dem Gehirn und dem, was es aus uns macht. Neben zahlreichen Fachpublikationen und Fach- und Sachbüchern hat er auch drei Wissenschaftsromane veröffentlicht.