Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! – forderte der Philosoph Immanuel Kant vor mehr als 200 Jahren. Er hatte etwas viel von uns verlangt, aber ein wenig sollten wir ihm schon entgegenkommen. Jeder auf seine Weise. Hier die meine.
Gerald Wolf, Gastautor / 02.10.2020 / 12:00 /
Meine Partei
Bislang hat es noch keine Partei geschafft, mich zu binden, in der DDR-Zeit nicht und auch nicht danach. Denken und sagen will ich, was ich will, und nicht was Andere wollen. Wäre heute noch etwas von Kant oder Goethe zu hören oder zu lesen, von Sokrates, Hume, Popper oder Wittgenstein, wenn sich diese in ihrem Denken und Schreiben als Mitglied einer Partei verpflichtet hätten? Wenn schon Partei, dann käme für mich derzeit nur eine einzige infrage: meine eigene. Nicht um links oder rechts ginge es da, auch nicht um die Mitte, nein, ganz gleich welcher Neigungswinkel, von allen und allem und jedem würde Meine Partei (MP) das Klügste und Beste aussieben. Vorrangig von Parteilosen.
Sollte ich mich irgendwann einmal dennoch nach einer anderen Partei umschauen wollen, käme nur eine solche in Betracht, die in der Lage ist, sich in ihren Auffassungen und Ansichten bereitwillig mit dem Wind zu drehen. Bei neuartigen Sachverhalten oder Erkenntnissen zum Beispiel oder solchen, die bislang nicht gehörig berücksichtigt wurden, es aber wert sind. Konventionelle Parteien dürfen neuen, sinnvolleren, möglicherweise konträren Sichtweisen nicht sogleich folgen, das würde ihre Wähler verwirren. Und die Wählerstimmen sind für sie weit wichtiger als irgendwelche Inhalte und Gesinnungen.
Über kurz oder lang finden sich Parteien, gleich welcher Couleur, dann doch zu Gesinnungsänderung bereit, falls sie sich davon Wählerstimmen versprechen, andernfalls welche verlören. Sonst droht ihnen der Untergang. Bei meiner eigenen Partei wäre das anders. Sofern ich ihr einziges Mitglied bliebe, geht diese Partei nur dann unter, wenn ich selbst untergehe. Und das wäre schade. Nicht nur um mich, sondern auch um Meine Partei. Denn sie verdiente es, ideal genannt zu werden: eine Partei der radikalen Redlichkeit, wurzeltief und kompromisslos offen.
Einem unwiderstehlichen Erweckungsdrang folgend, frage ich mich, was tun, damit diese Idee auch von Anderen wahrgenommen wird? Zunächst, ganz klar, sollte man im eigenen Kreis anfangen, um diesen dann größer werden zu lassen, und noch größer und immer größer. Irgendwie. Aber wie? Gleichviel, wenn endlich die Schwelle zur breiten Öffentlichkeit hin überwunden sein sollte, würde jeder nur noch diese Partei wählen wollen. Denn sie betreibt Eupolitik (griech. eu – gut, wohl, schön, echt).
Bei dem Namen Meine Partei (MP) sollte es auch dann noch bleiben, um jedem Mitglied die Möglichkeit zu geben, sich auf seine eigene Weise mit der Partei zu identifizieren. Bald würden die anderen Parteien nicht länger im Abseits stehen wollen und würden durch Wandlung Ähnliches versuchen. Doch, o Schicksal, fehlt es ihnen an Glaubwürdigkeit. In der Endkonsequenz gäbe es nur noch eine einzige, eine riesige politische Gruppierung: das Wahlvolk. Und jedes seiner Glieder wüsste sich von der Politik ernstgenommen. Endlich!
Prüfstein Diskurs
Das Hauptinstrument der neuen Politik muss der öffentliche und freie Diskurs sein. Vom bisherigen politischen Mainstream wurde er ängstlich gemieden (siehe hier und hier). Künftig aber sind alle Versuche zur Diskursbeschränkung gemäß Artikel 5 unseres Grundgesetzes zu verbieten. Bei Fragen, die, obwohl politisch relevant, vorrangig wissenschaftlicher Art sind, müssen vor allem Wissenschaftler zu Wort kommen: ausgewiesene Fachleute, und keine der wie bisher von der politisch-medialen Klasse ausgewählten „Experten“. Auch Politiker müssen gehört werden, selbstverständlich und bitteschön jedoch ohne jeglichen Anspruch auf Debattenhoheit.
Beispiele für diskursiv zu behandelnde Themen, die sich zugleich als demokratische Lockerungsübung empfehlen:
· Covid-19: Besonderheiten und Gefahren im Vergleich zu anderen Viren. Sinn und Unsinn von Schutzmaßnahmen.
· Wetter und Klima, ihr Wandel und dessen Faktoren. Rolle des Menschen.
· Erneuerbare Energiequellen („Energien“), allgemeine E-Mobilität, Energieversorgung bei Verzicht auf Kohle- und Kernkraft.
· Passen intensivierte Land- und Forstwirtschaft mit Landschafts- und Naturschutz zusammen?
· Immigrationsprobleme. Stehen die dafür zuständigen Politiker persönlich dazu (Wohnsitz, Art der Schulen für ihre Kinder und Enkel)?
· Journalismus als Vierte Gewalt im Staat. Vereinnahmung durch den Staat?
· Genderismus und „Neusprech“.
· Politischer Extremismus, Grenzen der Zumutbarkeit.
· Kungeleien in den bisherigen Partei- und Staatsapparaten.
· Ist die Forderung „Political Correctness“ politisch korrekt?
· Kann eine Demokratie ohne eine starke Opposition Bestand haben?
· Deutschland, ein Volk von Duckmäusern? Wie werden daraus verantwortungsbewusste Mitgestalter?
Schon den ersten dieser Lockerungsübungen wäre der Applaus der Bürger gewiss. In dem Maße, in dem der öffentliche und freie Diskurs funktioniert, wird er die Bedeutung der bisherigen Parteien schmälern. Allemal von solchen, die aus Sorge um die eigene Existenz und die Wohlfahrt ihrer Mitglieder zu Unredlichkeiten tendieren, indem sie Sachverhalte, wahltaktischem Kalkül folgend, über- oder untertreiben, erfinden oder ganz unter den Tisch fallen lassen.
Die Politik des Staates würde nicht länger von Parteien bestimmt, die von abgegriffenen Floskeln leben und weniger argumentieren als glorifizieren und diffamieren, nein, davon, was sich beim Wettstreit der Debattanten im Urteil des Publikums als zweckmäßig erweist. Nicht länger hätte staatlicher Dirigismus für die Umsetzung zu sorgen, sondern das über Jahrhunderte hin gereifte Schweizer Modell der direkten Demokratie. Vorzugsweise per Volksabstimmung. Alsbald würde die Politik unseres Staates genesen, und mit ihr der Staat selbst.
Eine Illusion nur, natürlich, und dazu eine ausgesprochen naive. Schade! Auch um Meine Partei.