Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! – forderte der Philosoph Immanuel Kant vor mehr als 200 Jahren. Er hatte etwas viel von uns verlangt, aber ein wenig sollten wir ihm schon entgegenkommen. Jeder auf seine Weise. Hier die meine.
Gerald Wolf, Gastautor / 14.02.2021 / Foto: Jean-noël Lafargue/
Glauben Sie an Wunder?
„Wunderbar“ und „wundervoll“ heißt es allerorten und aus aller Munde. Als Wunder im Wortsinne gelten heutzutage weniger die Wunder, wie sie uns die Bibel offenbart, dafür mehr die der Natur und der Technik. Obendrein wundert man sich über unsere wundersamen Mitmenschen und all die Wunder der Politik. Die Uhr an der Wohnzimmerwand loben wir als ein Wunder an Präzision, wir preisen die wundervolle Wirkung einer Arznei und von neuen Ernährungstipps und feiern Beethovens Neunte und Einsteins Relativitätstheorie als Wunder menschlichen Geistes.
Als Wunder wird empfunden, dass uns bisher ein Atomkrieg erspart blieb und dass, je nach Art und Datum der Weissagung, weder der Kölner Dom überflutet wurde noch der Berliner Tiergarten in brennender Sonne verdorrte. Und erst recht die diesjährige Winterkälte, da es doch ständig wärmer wird auf unserer Erde. Auch hautnah erleben wir Wunder, an uns selbst und bei anderen. Zum Beispiel, dass die da im Nachbarhaus, die liebe Marleen, bei dem Kerl geblieben ist. Doch wen wundert’s, wenn sie mit dem noch ein ganz anderes Wunder erlebt, und zwar ihr blaues! Wikipedia zaubert für den Begriff „Wunder“ in einem einzigen Augenblick 52.700.000 Einträge herbei. Dafür hätte früher eine riesige Mannschaft in Bibliotheken und Zeitungsarchiven jahrelang blättern müssen. Heute macht das unser Handy in 0,6 Sekunden. Wenn das kein Wunder ist! Auf jeden Fall eines für den Laien, für den Fachmann eher nicht. Der weiß, wie Daten digital verarbeitet, gespeichert und in Millisekundenschnelle durchsucht und ausgegeben werden. Selbst riesige Mengen.
Wunder entstünden aus einer Verletzung von Naturgesetzen, behauptete schon im 18. Jahrhundert der schottische Philosoph David Hume. Ansonsten seien es keine Wunder. Da Naturgesetze nun mal unverletzlich sind, kann es, so der Schluss, Wunder gar nicht geben. Tatsächlich lässt sich kein einziger Beweis dafür anführen, dass etwas über der Natur steht und über ihren Gesetzen. Welch eisenharte Konsequenz! Denn mit der Ablehnung von Übernatürlichem verbietet sich auch die Annahme von Gottes Existenz oder die von sonstigen Gottheiten. Nicht jedermann und jedefrau können und wollen damit leben. Und machen wir uns nichts vor, ein bisschen wundergläubig sind wir doch alle. Die einen mehr, die anderen weniger. Wie stark, ist eine Frage der Spiritualität, der Glaubensfähigkeit. Diese muss durchaus nicht religiöser Art sein. Mehr noch ist es die Bereitschaft, das Herz sprechen zu lassen und nicht immer nur den kalten, klaren Verstand.
Teste dich selbst!
Alles Mögliche kann getestet werden, der pH-Wert einer Lösung, das Vorhandensein von Corona-Nukleinsäureschnipseln, die Intelligenz, und ebenso – warum nicht? – die Neigung zur Spiritualität. Die Wenigsten werden die nachfolgenden Fragen (angelehnt an die des Psychiaters Robert Cloninger von der Washington University) ausschließlich mit Ja oder Nein ankreuzen wollen. Ziehen Sie sich bei deren Beantwortung besser ein wenig zurück, verehrte Leserin, verehrter Leser:
· Ich bin fasziniert von den vielen Dingen im Leben, die wissenschaftlich nicht erklärt werden können.
· Ich scheine einen „sechsten Sinn“ zu haben, der mir mitunter erlaubt, zu wissen, was passieren wird.
· Ich fühle mich mit den Menschen um mich herum oft so verbunden, als gäbe es keine Trennung zwischen uns.
· Immer führe ich einen Talisman bei mir.
· Oft habe ich unerwartete Geistesblitze, wenn ich mich entspanne.
· Wenn immer möglich, versuche ich, Tiere und Pflanzen vor Schaden zu bewahren.
· Ich habe gelernt, meinen Gefühlen mehr zu vertrauen als irgendwelchen logischen Gründen.
· Ich fühle zu allen Menschen um mich herum mitunter eine starke innere Verbindung.
· Wunder können Wunder bewirken. Das weiß ich aus eigener Erfahrung.
· Ich habe persönliche Opfer gebracht, um die Welt besser zu machen, zum Beispiel, um mitzuhelfen, Krieg, Armut und Ungerechtigkeit zu verhindern.
· Wenn ich mich auf etwas konzentriere, vergesse ich oft die Zeit.
· Ich habe aufregende Erfahrungen gemacht, durch die mir meine Rolle im Leben erst so richtig klar wurde. Regelrechte Glücksmomente waren das.
(Je öfter ein „Ja“, umso ausgeprägter Ihre Tendenz zur Spiritualität.)
Menschen mit einer Tendenz hin zum Spirituellen empfinden Rätselhaftes weit weniger beunruhigend als eingefleischte Skeptiker. Das gilt auch für all das, was die Leichtgläubigen in ihrem Alltag, allzumal von der Politik, als gegeben vorgesetzt bekommen: „Wenn es so ist, dann ist es eben so“. Ihr Leben verläuft ausgeglichener und ist eher von Zufriedenheit geprägt als beim Gegenpart. Der rätselt und tüftelt und ist oft dauerhaft unzufrieden, wenn er keine rechte Lösung findet. Falls doch, hält sein Glück gewöhnlich nicht lange an, neue Aufgaben hat er sich ausgedacht. Bei entsprechender Intelligenz verkörpert der Zweifler den Forscher- und Erfindertyp. Sein charakterliches Gegenüber neigt eher zum Schöngeist und erfreut sich, da weniger getrieben, zumeist einer größeren Beliebtheit.
Wunder, private und öffentliche
Es gibt viele Dinge und Ereignisse, deren Eigenheiten wir uns nicht erklären können. Die einen lässt das kalt, die anderen eher nicht. Aber selbst wer sich ernsthaft um eine Erklärung bemüht, bleibt oft im Rätselhaften stecken. Mitunter sind es Trivialitäten. Da findet sich ein Schlüssel nicht, an allen möglichen Stellen wird gesucht und gesucht, auch im Tischkasten, wo er eigentlich zu sein hat. Dreimal schon hatte man hineingeguckt, und beim vierten Male liegt das verdammte Ding offen vor Augen! Als ob jemand den Schlüssel heimlich zurückgelegt hätte. Aber da ist niemand sonst, der Zugang zur Wohnung hat. Unbegreiflich, ein Wunder! Oder: Ein wochenlanger Schmerz im Ellbogen, nichts wirkte, kein Schmerzmittel, die Massage nicht, die Wärme-, Kälte- und Strahlenbehandlung nicht und auch nicht die Hypnose und die Akupunktur. Da kam die Nachbarin und hatte den Schmerz ganz einfach weggezaubert. Durch Handauflegen, binnen einer Viertelstunde!
Und dann die Wunder, die die Volksmassen bewegen. Von der griechischen Antike her kennt man sie, aus der Bibel und aus unserer eigenen Geschichte. Noch heute glauben Millionen und Abermillionen an die Wunder, die Jesus Christus vollbracht hatte oder vollbracht haben soll. Auch an die Wunder, die von Heiligen bewirkt wurden oder die ihnen widerfahren sein sollen. Man denke an Lourdes in Südfrankreich, wo im Jahre 1858 einer Vierzehnjährigen die Mutter Gottes erschienen sei. Oder an das portugiesische Fátima, in dessen Nähe am 13. Oktober 1917 mehr als dreißigtausend (!) Menschen, Gläubige wie Ungläubige, das Sonnenwunder erfahren haben, eine sich am Himmel drehende Scheibe. An demselben Ort soll zuvor drei Mädchen die Jungfrau Maria begegnet sein. Zuletzt erst, im Jahre 2019, kamen mehr als sechs Millionen Pilger nach Fátima, um das heilige Flair zu atmen und dessen Wunder an sich selbst zu erfahren.
Wissen statt wundern
Was nicht alles haben die Wissenschaften hervorgebracht, allzumal die Technik und die Naturwissenschaften, das Wundern gleichkommt. Nicht per Zauberstab, nein, durch Wissen. Der Umfang des Wissens, das die Menschheit bis heute angesammelt hat, ist unschätzbar hoch. Daran gemessen, erscheint das Wissen eines jeden Einzelnen als ausgesprochen dürftig. Das gilt selbst für die ganz Emsigen. Auf welchem Gebiet auch immer, bestenfalls kann man versuchen, einem jeweilig interessierenden Detail so tief wie nur irgend möglich auf den Grund zu gehen. Nicht selten bleibt dann festzustellen, wie begrenzt trotz allem die Wissensbasis der Menschheit ist. Obschon zum Beispiel allein auf dem Gebiet der Medizin und der biomedizinischen Forschung in einem einzigen Jahr, dem von 2020, weltweit mehr als 1.600.000 (exakt: 1.619.761) wissenschaftliche Veröffentlichungen gemeldet wurden! Niemand kann das sich auf diesem Gebiet Tag für Tag und Jahr für Jahr anhäufende Wissen auch nur einigermaßen überblicken. Tag für Tag wären das etwa 4.400 sogenannte „Papers“. Der Wunderdoktor entstammt dem Wunschbild des Kranken, nicht der Realität.
Oft wird nur so getan, als ob das Wissen, das man für sein Handeln, Lehren und Argumentieren eigentlich braucht, tatsächlich auch vorhanden ist. Mitunter gilt das für die Wissenschaft selbst, die ja nun gerade dafür antritt, Wissenslücken aufzudecken, um sie, falls irgend möglich, zu schließen. Da gibt es Klimatologen, die so tun, als wüssten sie über die Ursachen des Klimawandels genau Bescheid, auch wie diesem beizukommen ist. Und wozu dieses Ansinnen überhaupt. Bekannt ist, dass sich das Klima multifaktoriell, nichtlinear und chaotisch entwickelt, mithin seine Entwicklung nicht wirklich berechnet werden kann. Und schon gar nicht auf Jahre voraus. Ähnlich wollen manche Virologen genau erkannt haben, wie der derzeitigen Corona-Pandemie beizukommen ist. Die Regierungen, auf ein Wunder hoffend, hören auf sie, nur eben funktionieren die Ratschläge nicht. Hier wie dort werden Diskurse mit Andersdenkenden vermieden – ausgesprochen konsequent, zumal solche in aller Öffentlichkeit. Der Nimbus der Unfehlbarkeit könnte leiden.
So auch gibt es Wissenschaftler, die mit dem Anspruch allwissender Priester auftreten, wenn es um das menschliche Gehirn und dessen Funktionsmechanismen geht. Da werden Kisten gepackt, auf denen „Neuro-“ draufsteht, aber nur Psychologie drinsteckt. Was drin ist, wird mit ein paar bunten Hirnbildern drapiert, wie sie die funktionelle Magnetresonanztomografie (MRT) liefert, um – schwuppdiwupp – die funktionelle Architektur des wundervollsten der menschlichen Organe, die des Gehirns, zu enträtseln. Nur eben gelingt das, weil viel zu komplex, kaum ansatzweise. Und: Das Gehirn bleibt für uns alle ein Wunder, für die Besitzer wie für die Forscher.
Mit Wundertüten laufen auch die Ernährungsexperten herum, die Pädagogen, all die Genderforscher_innen, Kommunikationsfachleute und wer da auch immer sonst zu nennen bleibt, wenn er vorrangig durch ein bedeutungsvoll klingendes Vokabular versucht, erkennen zu geben, wie großartig die Wunder seiner Erkenntnisse sind. Seit vielen Jahrzehnten häufen diese Forscherinnen und Forscher Ergebnisse an, doch kaum einer merkt das.
Weil menschlich, weil allzu menschlich, mag solcherart Schaulaufen hinnehmbar sein, solange es die Gesellschaft nur zu finanzieren hat. Bedenklich wird es, wenn derlei Ergebnisse in die Gesellschaft hineinwirken. Allemal dann, wenn sich ihrer die Politik annimmt. Dann drohen Wunder, blaue Wunder.