Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! – forderte der Philosoph Immanuel Kant vor mehr als 200 Jahren. Er hatte etwas viel von uns verlangt, aber ein wenig sollten wir ihm schon entgegenkommen. Jeder auf seine Weise. Hier die meine.
Gerald Wolf, Gastautor / 12.09.2020 / 15:30 / Foto: Human evolution scheme/
Ach, gut: Vom Leben und Sterben
Was soll das eigentlich heißen, „Achgut“? Überhaupt, was ist gut? Die Politik, wie sie uns „Achgut“ Tag für Tag vorstellt, tut kaum jemals gut. Weit eher ein Stück vom frisch gebackenen Pflaumenkuchen oder ein Bad in der heimischen Wanne. Oder eines in der Menge. Doch was kann in Anbetracht der Tatsache, dass mit jedem neuen Tag der letzte Abschnitt unseres Lebens beginnt, schon gut sein?
Denn alles, was uns guttut, tut es nur vermeintlich, demnächst ist sowieso alles zu Ende. So auch die fortwährende Beschäftigung mit schlechter Politik, und sei es unter dem Markenzeichen „Achgut“. Ohnehin bildet sich dabei dicke Luft, und die reichert sich wie das CO2 unter einer Corona-Maske an. Dann heißt es, als Frischluftzufuhr ab und an auch einmal ein politikfreies Thema zu akzeptieren. Zum Beispiel: „Was ist gut, und was tut uns gut?“
Wirklich gut täte uns ein Leben in Ewigkeit. Eines wie vor dem Sündenfall. Da uns das wegen des seinerzeitigen Obstklaus von ganz oben verwehrt wurde, wäre doch wenigstens die Verlängerung unseres derzeitigen Lebens zu verhandeln. Allerdings, alt werden wollen alle gern, aber nicht alt aussehen. Ein todsicheres Mittel gegen das Altaussehen ist – o Gott, welch Zynismus! –, jung zu sterben. „Nein!“, ruft es da aus den bunten Journalen heraus, aus Bücherregalen und dem Internet, dem könne doch abgeholfen werden, durch Anti-Aging:
Gesunde Ernährung, Gewicht reduzieren, Sport treiben, überhaupt sich viel bewegen, Krankheiten vermeiden beziehungsweise kurieren, lesen, dosiert Fernsehen, gute Laune üben und Geselligkeit, zeitig zu Bett und zeitig wieder raus. Außerdem gäbe es eine Riesenpalette entsprechender Nahrungsergänzungsmittel und Kosmetika, nicht zu vergessen das wunderbare Bakteriengift Botox und, erforderlichenfalls, das Messer. Tatsächlich, der Anti-Aging-Markt boomt, die Anzahl der Schönheitsoperationen steigt. Sogar in Corona-Zeiten.
Doch ist am Ende alles vergeblich, ob mit oder ohne Anti-Aging macht uns Gevatter Tod die Aufwartung. In der Bibel, Erstes Buch Mose, finden wir den Grund. Adam und Eva hatten vom Baum der Erkenntnis genascht und wurden deshalb aus dem Paradies vertrieben. Fortan hieß es, altern und sterben. Das galt gleich mit für die Pflanzen-, Pilz- und Tierwelt. Mithaftung gewissermaßen. Eine Ausnahme wurde allein für die einzelligen Wesen erdacht: Wenn sich deren Dasein dem Ende nähert, teilen sich die Zellen und lassen aus sich Tochterzellen hervorgehen. Zwar wird dabei das Mutter-Individuum ausgelöscht, aber es ist ein Tod ohne Leiche. Immerhin. Jeder stelle sich das einmal für uns Vielzeller vor: Man schnürt sich in der Hüfte, teilt sich, und schließlich gehen aus unsereinem zwei Töchter hervor! Oder, bitteschön, zwei Söhne.
Der Tod, ach wie gut!
Ernsthaft nun, wozu bei Vielzellern überhaupt der Umstand mit Zeugung und Sterben, und das in einem fort? Nun, ein Grundprinzip der Evolution ist das, denn der Tod steht dem Leben fördernd zur Seite. Computermodelle bestätigen das. Man ließ vermehrungsfähige rote und blaue Pünktchen über eine Reihe von Vervielfachungsschritten gegeneinander antreten, die einen sterblich, die anderen unsterblich. Bald zeigte sich, dass die sterblichen Pünktchen im Vorteil sind, vorausgesetzt, bei der Neubildung können sie wie echte Lebewesen ihre Eigenschaften verändern. Per Zufall, durch Mutation.
Dabei kommt es auf die wenigen an, die zufallsbedingt günstigere Eigenschaften haben und diese – weil immer wieder Platz durch das Absterben der Vorgänger geschaffen wird – über ihr „Erbgut“ an die jeweilig nächste Generation weitergeben können. Am Ende fanden sich fast nur noch die sterblichen Pünktchen. Nach demselben Prinzip haben sich im Laufe der Erdgeschichte Ketten von Generationen mit Verzweigungen ergeben, hin zu immer besseren Lebensformen, Stammbäume entstanden. Ohne ein solches Selbstoptimierungsprinzip gäbe es keine Evolution, ja noch nicht einmal Leben. Die Sterblichkeit des Individuums, ein Achgut für die lebendige Welt, ein Achschlecht für uns Einzelwesen!
Allerdings lässt sich die Lebensspanne mit ein bisschen Glück und viel Mühe und so manchen Entbehrungen ausdehnen. Nicht allzu toll, aber immerhin. Und am Ende sieht man sogar noch besser aus als die vielen, die vor uns gestorben sind. Wie man das anstellt, weiß heute jeder. Nur fragt sich, ob man bereit ist, all diese Mühen und Entbehrungen auf sich zu nehmen. Auch, was bei den hunderten und aberhunderten Empfehlungen Humbug ist, und was nicht. Gern geglaubt zum Beispiel wird, dass Rotwein ein Mittel gegen das Altern sei. Denn die Franzosen trinken regelmäßig davon, und sie werden älter als die Menschen in anderen Ländern, wo es spartanisch zugeht.
Erklärt wird das damit, dass Rotwein größere Mengen an dem Polyphenol namens Resveratrol enthält, und dass dieses Resveratrol dank vielfältiger Interaktionsmöglichkeiten so manche schädigende Molekülsorten neutralisiert. Laborbefunde, an denen unter anderem der Autor mit seinen Mitarbeitern beteiligt war, bestätigen das. Auch warten manche Untersucher mit entsprechenden Beobachtungen am alternden und kranken Menschen auf. Doch stuft die europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA, 2019) den Benefit einer Resveratrolverabreichung als zumeist nicht hinreichend belegt ein.
A(u)chgut, der Wille zur echten Pille
Weit bessere Chancen für eine Anerkennung als Anti-Aging-Mittel hat der Arzneistoff Metformin. Er wird seit langem gegen die Zuckerkrankheit eingesetzt, den Diabetes mellitus vom Typ II (Altersdiabetes). Eher zufällig erkannte man seinen Anti-Aging-Effekt. Seit Jahren nun wird versucht, mit Metformin an der Lebensuhr zu drehen, und das in großzügig und weltweit angelegten Studien. Seit 2016 zum Beispiel die TAME-Studie (Targeting Aging with Metformin) an rund 3.000 Probanden im Alter zwischen 65 und 80 Jahren. Zuvor kam in einer britischen Studie heraus, dass Diabetiker, die Metformin schlucken, nicht nur länger als andere Diabetiker leben, sondern auch länger als gesunde Menschen! Wie das?
Eine der vielen möglichen Antworten ist, dass Metformin einen bestimmten Proteinkomplex in der Zelle hemmt, das mTOR (mechanistic Target of Rapamycin). Über verschiedene Signalwege forciert mTOR das Zell-Wachstum beim Aufbau in der Kindheit und Jugendzeit, später aber eben auch ein gewissermaßen pervertiertes Wachstum, das die biologisch notwendige Zellalterung bewirkt. Mithin erklärt dessen Hemmung durch Metformin die so überaus ersehnte Wirkung bei älteren Menschen. Schon viel länger belegt ist der Anti-Aging-Effekt von Metformin durch Versuche an kultivierten Zellen, an Fadenwürmern, Fruchtfliegen und Mäusen. Und an Rhesusaffen.
Achgut!