Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! – forderte der Philosoph Immanuel Kant vor mehr als 200 Jahren. Er hatte etwas viel von uns verlangt, aber ein wenig sollten wir ihm schon entgegenkommen. Jeder auf seine Weise. Hier die meine.
die tageszeitung - taz
01.06.2011
Ärzte sind nicht Götter
(mit wenigen Veränderungen, die bei der Drucklegung nicht mehr berücksichtigt werden konnten)
Sterbehilfe Wenn ein unheilbar Kranker sterben will und dabei Hilfe braucht, darf sein Arzt ihn nicht im Stich lassen, fordert der Biologe und Mediziner Gerald Wolf
Interview Heike Haarhoff, Taz: Herr Wolf, die Aufgabe von Ärzten ist, Menschen zu heilen.Warum sollten sie sich an der Tötung von Kranken beteiligen?
Gerald Wolf: Es geht hier nicht um Tötung, sondern um Beihilfe zur Selbsttötung. Das ist ein Riesenunterschied. Ja, aber am Ende ist der Patient tot – dank ärztlicher Beihilfe.
Ärzte sind nicht Gott. Der Heilung von Menschen, die unbestritten das oberste Gebot für ärztliches Handeln ist, sind Grenzen gesetzt. Grenzen, die in der Natur der Erkrankung liegen und dem derzeitigen Entwicklungsstand der Medizin geschuldet sind. Wenn ein Arzt erkennt, dass ein Patient unheilbar krank ist, eine palliativmedizinische Behandlung ablehnt und nach offenkundig reiflicher Überlegung den Wunsch äußert, dieses Leben nicht mehr fortsetzen zu wollen, dann darf dieser seinen Patienten nicht im Stich lassen. Sondern muss ihm den Wunsch erfüllen?
Es kann in dieser Frage keinen Zwang oder gar Automatismus geben. Aber ein Arzt, der seinen Patienten gut kennt, der weiß, dass der Patient seinen Sterbewunsch frei verantwortlich, klar und nachhaltig und frei von momentaner (möglicherweise behandelbarer) Depressivität geäußert hat, ihn sich aber unmöglich selbst erfüllen kann, muss zumindest abwägen dürfen, inwieweit er ärztliche Beihilfe für geboten hält. Unterstützung hat er dabei von einem hierfür eigens bestallten Kreis weiterer Ärzte wie auch Nicht-Ärzte zu erhalten. Warum?
Ansonsten, das zeigt die Praxis, gehen sterbewillige Patienten mitunter Wege, die Grausamkeit gegen sich selbst bedeuten mögen. In ihrer Verzweiflung setzen sie mitunter auch Angehörige unter Druck und bringen sie so in einen fürchterlichen moralischen Konflikt. Oder sie versuchen, sich selbst zu töten und schrecken selbst vor dem Messer nicht zurück. Wenn dies dann misslingt, bedeutet das für ihr Weiterleben zusätzliche Qualen – entsprechende Fälle sind nachweisbar! Deswegen sage ich: Vor der Zeit aus dem Leben scheiden zu dürfen, ist ein wichtiges Rechtsgut, das nicht einfach ignoriert werden kann. Die Bundesärztekammer will Ärzten eine Beihilfe aber verbieten, weil der Tod nun mal keine ärztliche Leistung sei. Irrt sie?
Es wird damit der Versuch unternommen, das Gewissen von Ärzten zu normieren. Jeder, der sich erlaubt, in dieser so ungeheuer bedeutsamen Frage vorschnell ein Urteil zu fällen, sollte bedenken, dass er in ein paar Jahren oder Jahrzehnten genau in der gleichen Situation sein könnte – in seinem Sterbewunsch von ärztlicher Beihilfe abhängig zu sein, damit aber allein gelassen zu werden.
Die Frage der Sterbehilfe beschäftigt den Ärztetag bis Freitag in Kiel. Die Bundesärztekamm will die ärztliche Beihilfe zum Suizid berufsrechtlich verbieten. Der Humanistische Verband, in dessen Kuratorium Gerald Wolf ist, fordert eine freie Gewissensentscheidung. Wolf antwortet auf den Medizinrechtler Oliver Tolmein (taz von gestern).
taz behauptet (1.6.2011):
Indem Sie den ärztlich assistierten Suizid für akzeptabel erklären, nehmen Sie Druck aus der Debatte, die palliativmedizinische Versorgung in Deutschland zu verbessern: Schnelles Sterben kommt schließlich billiger.
Gerald Wolf: Dies wäre in höchstem Grade unethisch. Ich sehe eine andere und größere Gefahr: Wird ein striktes berufsrechtliches Verbot ausgesprochen, Geldbußen und Approbationsentzug inklusive, dann befördern wir den unwürdigen Selbsttötungstourismus in Richtung Schweiz oder Niederlande. Wir liefern die Sterbewilligen damit Organisationen aus, die an der Tötung auf Wunsch auch noch verdienen!
Gerald Wolf, 68, Mediziner und Biologe, bis 2008 Direktor des Instituts für Medizinische Neurobiologie an der Uni Magdeburg, ist im Kuratorium des Humanistischen Verbands.
Neues Deutschland. 2./3. Juli 2011
Assistenz bei Sterbewilligkeit
Gerald Wolf:
Jahr für Jahr sterben in Deutschland achthunderttausend (800 000!) Menschen. Ein beinhartes Naturgesetz hat jeden von uns zum Tode verurteilt, unabhängig davon, welchen Verlauf das bisherige Leben genommen hat und noch nehmen wird – trivial, gewiss, aber nachdenkenswert. In der Öffentlichkeit wird vom Tod, wenn überhaupt, nur am Rande Notiz genommen, es sei denn, er ist spektakulär. Mord und Totschlag sind interessant, auch schreckliche Unfälle oder der Tod bedeutender Persönlichkeiten. Der Vorgang des Sterbens aber – das Dramatischste, was einem Menschen jemals widerfahren kann – wird von unserer Gesellschaft weitgehend tabuiert: Das Wie und die mit dem Sterben verbundenen Ängste, die letzten Hoffnungen und Wünsche gehören nun mal nicht in die Öffentlichkeit. Im Allgemeinen wird man damit auch die Angehörigen verschonen wollen. Insgeheim natürlich hat sich jeder schon die Frage gestellt, wie er dereinst sterben will und wird.
»Friedlich einzuschlafen« ist wohl das Beste, was sich ein dem Tod Geweihter wünschen mag, sobald er seine Situation zu akzeptieren gelernt hat. Er weiß, es gibt keine Aussicht auf Heilung, das Sterben ist unausweichlich. Nicht etwa »Therapieabbruch« oder »austherapiert zu sein« bedeutet das, sondern das Therapie-Ziel wird sich ändern. Zur Linderung der Symptome und des Leidens Todgeweihter stehen ausreichend palliativmedizinische Konzepte zur Verfügung, auch entlastende Maßnahmen psychologischer, sozialer und seelsorgerischer Art. In Deutschland gibt es hierfür ein Netz von Angeboten, das in den letzten Jahren ständig erweitert worden ist. Die moderne Palliativmedizin hat dem Tod die Grausamkeit genommen, und nicht zuletzt ist der Wert einer Gesellschaft an ihrem Beistand für Sterbende und deren Angehörige zu bemessen.
Was aber, wenn Sterbewillige Hilfen dieser Art ablehnen und sich einen vorzeitigen Tod herbeiwünschen? Die Motive können unterschiedlich sein und mögen durchaus nicht nur für den verhältnismäßig seltenen Fall geltend gemacht werden, dass dem Leiden mit palliativen Maßnahmen nicht hinreichend beizukommen ist. Oft genug wird ein frühzeitiger Suizid aus der Furcht heraus begangen, dass es für den Weg in den selbstbestimmten Tod einmal zu spät sein könnte. Die Selbsttötungsrate steigt aus diesem Grunde im Alter stark an. Mitunter gehen die Sterbewilligen in ihrer Verzweiflung Wege, die Grausamkeit gegen sich selbst bedeuten. Misslingt der Suizid und kommt es zu Folgeschäden, bedeuten diese für das Weiterleben oft zusätzliche Qualen. Mitunter wird ein Ausweg darin gesucht, fragwürdigen und oft genug kommerzialisierten Sterbehilfe-Offerten des Auslands zu folgen. Zu diesen und weiteren Problemen hat der Internist Michael de Ridder in seinem Buch »Wie wollen wir sterben?« eindrucksvolle Beispiele vorgestellt.
Nach Auffassung des Humanistischen Verbandes Deutschland (Positionspapier vom 28. Mai 2011) darf aussichtslos kranken Patienten bei Suizidwillen ärztliche Assistenz in wohlbegründeten Ausnahmefällen nicht versagt werden. Unbedingte Voraussetzung ist, dass der Sterbewunsch trotz umfassender Aufklärung über die gegebenen palliativmedizinischen Alternativen klar und über einen längeren Zeitraum hin bekundet wird – ohne jeglichen äußeren Druck und frei von (zumeist behandelbarer) Depressivität. Dementsprechende Hilfe sollte durch einen hierfür eigens bestallten Kreis von Ärzten und kompetenten Nicht-Ärzten angeboten werden. Die »Tatherrschaft«, wie es im Juristendeutsch heißt, muss aber ausnahmslos bei der sterbewilligen Person liegen: Sie hat den letzten Akt an sich selbst auszuführen.
Solche und ähnliche Positionen sind in Deutschland immer wieder und aus verschiedensten Kreisen geäußert worden, wenn auch mit uneinheitlicher Resonanz. Anfang Juni hat sich der Ärztetag in Kiel erneut mit der Thematik ärztliche Beihilfe zu einer selbstbestimmten Lebensbeendigung beschäftigt und kam bei einem Stimmenverhältnis von 166 zu 56 zu einem abschlägigen Ergebnis. Das Problem jedoch ist hartnäckig und damit nicht beseitigt. Ganz und gar nicht.
Prof. Dr. Gerald Wolf, 1943 geboren, war als Hirnforscher bis 2008 Direktor des Instituts für Medizinische Neurobiologie an der Universität in Magdeburg. Er ist Mitglied des Kuratoriums des Humanistischen Verbandes Deutschland.