Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! – forderte der Philosoph Immanuel Kant vor mehr als 200 Jahren. Er hatte etwas viel von uns verlangt, aber ein wenig sollten wir ihm schon entgegenkommen. Jeder auf seine Weise. Hier die meine.
Die lange und die kurze Weile
Über das Zeitempfinden und die Vor- und Nachteile der Langeweile in Corona-Zeiten
Im Spagat zwischen Home-Office und Home-Schooling fühlen sich Eltern und Alleinerziehende oft gestresst. Umgekehrt empfinden Kinder eine erzwungene Langeweile als Stress. Sie wollen etwas erleben und dürfen es wegen des Corona-Lockdowns nur eingeschränkt. Über die Folgen für das lernende Gehirn befragte Uwe Seidenfaden den Magdeburger Neurobiologen Prof. Dr. Gerald Wolf.
Herr Professor Wolf: Die meisten Eltern werden es bestätigen: Kinder fühlen sich schnell gelangweilt. Wie sollten die Erwachsenen darauf reagieren?
Kinder, allzumal Kleinkinder, brauchen ständig geistige Anregung, so wie Pferde ihr Futter. Immer wieder ist man erstaunt, wie rasch ein Kleinkind etwas als neu erfasst, es ein paar Mal ausprobiert, und sehr bald seine Aufmerksamkeit auf eine weitere Neuigkeit ausrichtet. Mit beeindruckender Geschwindigkeit lernen Kinder, ihre Welt zu begreifen, die körperliche wie die soziale.
Oder denken wir an die Sprache, das Lesen und Schreiben. Wer es als Kind nicht erlernt hat, tut sich ein Leben lang schwer damit. Nicht von ungefähr reagieren Kinder mit Unbehagen und mit Langeweile, wenn sie nicht genügend Lernanreize finden. Welch ein Glück, wenn die Eltern das beherzigen können, allzumal in Corona-Zeiten.
Ist unsere Zeitwahrnehmung abhängig vom Lebensalter ?
Unser Zeitgefühl wird von vielen biochemischen und zellulären Vorgängen gesteuert, insbesondere von solchen im Gehirn. Die Information über den jeweiligen Zeitbedarf wird in bestimmten Hirnregionen zusammengefasst und ergibt dann das individuelle Zeitgefühl. Wie genau, weiß niemand zu sagen. Mit zunehmendem Alter hakt unser Gehirn die eingehenden Informationen immer öfter als „schon bekannt“ ab und unsere Gedächtnisleistung lässt nach. Je mehr solcherart Ankerpunkte fehlen, umso schneller scheint die Zeit zu vergehen.
Wo steckt der Taktgeber, das Metronom, dass unser Zeitgefühl, den Schlaf, die Verdauung und viele andere Stoffwechselprozesse, steuert?
Neben vielen molekularen und zellulären Uhren gibt es einen besonderen Taktgeber im Zwischenhirn, im Bereich oberhalb der sogenannten Sehnervenkreuzung, dem Nucleus suprachiasmaticus. Dessen Nervenzellen regeln unseren Schlaf-Wach-Rhythmus. Durch Verbindungen zum Augenhintergrund werden sie über den Tag-Nacht-Unterschied informiert. Ihrerseits senden die Nervenzellen auch Fortsätze zu ganz verschiedenen Teilen des zentralen und peripheren Nervensystems aus, unter anderem zur Zirbeldrüse, die das Hormon Melatonin produziert. Im Internet werden Melatonin-Präparate als Einschlafmittel beworben. Wer fest genug daran glaubt, schläft möglicherweise besser ein.
Was passiert im Gehirn, wenn wir müde werden. Machen unsere Nervenzellen dann Pause?
Nein. So wie unser Herz ist das Gehirn auch ständig aktiv, am Tag und in der Nacht. Das gilt sogar für jede einzelne Nervenzelle. Was aber - abgesehen vom Träumen - in unserem Oberstübchen während des Schlafes so getrieben wird, weiß niemand genau zu sagen. Auch nicht, wie die Erholung während der Schlafenszeit funktioniert. Andernfalls kommt es zu Störungen, die mit der Dauer des Schlafentzuges immer heftiger werden.
Gähnen, z.B. bei einem Vortrag, gilt oftmals als ein Zeichen der Langeweile und des Desinteresses. Ist diese Annahme gerechtfertigt?
Es ist eine ganze Weile her, da gähnte eine Studentin in meiner Vorlesung, versteckt zwar, aber immer wieder und für mich unübersehbar. Fortan war meine Vortragslaune getrübt, der Schmiss fehlte, und ich kam nicht umhin, in Richtung der Gähnerin mit einer Bemerkung zu gifteln. Nach der Vorlesung steuerte die junge Dame auf mich zu, um sich zu entschuldigen. Sie hätte auf einer Intensivstation Nachtdienst gehabt, doch wollte sie die Vorlesung nicht missen. Ich weiß nicht, ob es dergleichen noch heute gibt. Wie man im Privaten mit dem Gähnen und Gähnenmüssen verfährt, ist eine Frage der Kultur.
Meinen Sie, dass auch Tiere sich gelegentlich langweilen?
So mancher Volksstimme-Leser mag von der Nachricht überrascht gewesen sein, dass Zootiere sich im Corona-Lockdown ohne Besucher langweilen. So schön unser Zoo auch ist, und so anheimelnd die Tiere dort untergebracht sind, die Einbindung in ihre natürlichen Lebensräume lässt sich damit kaum ersetzen. Die Größe des Geheges für einen Eisbären entspricht etwa einem Millionstel seines natürlichen Streifgebietes. Zwar ist im Zoo für Nahrung, Schutz und vielleicht auch für Partner gesorgt. Aber genau das ist es ja: Es fehlen die natürlichen Nöte, womöglich auch die Feinde. Deshalb kann auch bei Zootieren Langeweile aufkommen, wenn die Tierpfleger nicht für Ablenkung und Entdeckungen sorgen. So eben auch, wenn die gaffenden Zoobesucher, allemal die quicklebendigen Kinder, als Folge eines Corona-Lockdowns fehlen.
Mitunter ergeben sich seltsam anmutende Verhaltensstörungen: Manch ein Elefant wiegt dann ständig seinen Kopf, Tiger laufen stereotyp hin und her, Vögel rupfen sich, Fische schwimmen die Aquarienwand immerzu hoch und runter.
Stimmt es eigentlich, dass gesellige Menschen eher Langeweile als Eigenbrötler verspüren?
Mag schon sein. Gleichviel, gegen Langeweile ist eine sinnvolle Tätigkeit das beste Gegenmittel, weit besser als irgendwelche Ablenkungsmanöver, Computerspiele zum Beispiel. Ohnehin regt sich bei den hoffentlich meisten Menschen irgendwann das Gewissen, wenn sie sich langweilen, während andere arbeiten. In schlimmen Fällen entsteht eine schwere Sinnkrise, und dann ist professionelle Hilfe unumgänglich.
Langeweile kann schmerzlich sein. Ich denke an Menschen, die wegen einer Krankheit das Bett nicht verlassen können, oder die viele Jahre in einer Gefängniszelle verbringen. Kann man die eigene Zeitwahrnehmung günstig beeinflussen?
Wer unter dem Stichwort Langeweile im Internet sucht, findet Ratschläge in großer Zahl. Zumeist sind diese Bewältigungsversuche trivial oder nicht wirklich hilfreich. Ich selbst wurde einmal von einem Strafgefangenen um einen Besuch gebeten. Bis dahin kannte ich ihn nicht. Der Mann hatte eine Frau ermordet und dafür bereits viele Jahre im Gefängnis gesessen. Jahre später wurde er erneut straffällig, ein Mordversuch. Als er mich rief, hatte er noch zwei weitere Jahre einzusitzen. Auf meine entgeisterte Frage hin, wie er denn die lange Zeit bis zur abermaligen Entlassung bewältigen wolle, winkte er ab und meinte, die zwei Jahre, die wären für ihn kein Problem. Was soll man dazu sagen? Und was soll man einem Bettlägerigen raten und was denen, die unter dem Lockdown besonders stark leiden, weit mehr als ihr Nachbar oder irgendeiner der Freunde?
Kann man sich in einer auf Leistung und Effizienz getrimmten Gesellschaft die Langeweile überhaupt leisten?
Sich dauerhaft zu langweilen, ist durchaus ein Luxus. In der Menschheitsgeschichte folgte dem Luxus einer Gesellschaft, auf Kosten Anderer zu faulenzen, regelmäßig der Untergang. Umgekehrt trugen diejenigen, die für den Luxus der Herrschenden zu sorgen hatten, später oft genug den Gewinn davon. Dies ist der Grundgedanke des Werkes „Der Untergang des Abendlandes“ von dem in Blankenburg geborenen Kulturphilosophen Oswald Spengler. Heute sind es eher die Kinder und Jugendlichen in den Ländern des Fernen Ostens, die sich an den Schulen und Universitäten für eine bessere Zukunft abquälen.
Ist also die Kurzweil, die ständige Betriebsamkeit, die bessere Alternative zur Langeweile?
Durchaus nicht. Wozu auch brauchten Dichter, Maler oder Komponisten hektisches Getriebensein, wozu Erfinder oder Erzieher? Ebensowenig ist stete Betriebsamkeit gut für den Umgang mit unseren Kindern, mit unseren Partnern und Freunden. Auf das rechte Maß kommt es an. Und das hängt nicht zuletzt von der individuellen Persönlichkeitsstruktur ab. Manche Menschen brauchen öfter mal einen kleinen Nadelstich, andere ein beruhigendes Wort.