Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! – forderte der Philosoph Immanuel Kant vor mehr als 200 Jahren. Er hatte etwas viel von uns verlangt, aber ein wenig sollten wir ihm schon entgegenkommen. Jeder auf seine Weise. Hier die meine.
Volksstimme Magdeburg, 1.12.2018
Die innere und die äußere
Welt
Über die menschlichen Grenzen der Welterkenntnis
Was kann die moderne Wissenschaft über die Abbildung der Welt in unserem Gehirns sagen? Auskunft wird der Neurobiologe Prof. Dr. Gerald Wolf am 6. Dezember 2018 in seinem Vortrag im Magdeburger Museum geben. Die Magdeburger „Volksstimme” stellte ihm einige Fragen vorab.
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Volksstimme: Für die Wissenschaft scheint es keine
Erkenntnisgrenzen zu geben. Wie aber sieht das mit dem
Gehirn aus, dem eines jeden Einzelnen?
Gerald Wolf: Je nach Bildungsstand und -bedürfnis sehr unterschiedlich, keine Frage. Vielmehr muss man sich fragen, wo die Grenzen der Vorstellbarkeit für die von der Wissenschaft produzierten Erkenntnisse im Grundsätzlichen liegen.
Und diese würden für einen Alien, dessen Gehirn dem von uns Menschen
mehrfach überlegen sein mag, sicherlich ganz andere
sein. Wie aber sieht es mit der prinzipiellen Erkennbarkeit
der Welt aus?
Auch hierbei ist mit Grenzen zu rechnen. Rein theoretisch gilt das sogar für einen Computer von der Größe des Weltalls. Und das selbst dann, wenn daran alle Teilchen des Alls mit jeweils maximaler Rechengeschwindigkeit beteiligt wären. Gerade einmal ein System aus 120 Nervenzellen mit je 10 verschiedenen Funktionszuständen könnte dieser gigantische Computer
exakt berechnen. Und dazu brauchte er 14 Milliarden Jahre, vom Urknall also bis heute.
Und über wie viele Nervenzellen verfügt unser Gehirn?
Über etwa 100 Milliarden und diese jeweils über beliebig viele Funktionszustände! Letztendlich
also bestimmt Ungewissheit die Welt. Dazu im Widerspruch steht die vermeintliche Gewissheit, mit der wir alles das registrieren, was wir dank unseres Gehirns ganz unvermittelt aus der Außen- und Innenwelt erfahren. Trotz aller Fortschritte in der Hirnforschung wissen wir aber nicht einmal, was das Bewusstsein eigentlich ist, was der Geist, was die Seele.
Können Neurowissenschaftler dann überhaupt das bewusste und das unbewusste Dasein unterscheiden?
Dafür gibt es leider keine verlässlichen Möglichkeiten. Zwar weiß man, dass der vordere Teil der Großhirnrinde für das Bewusstwerden von Empfindungen eine besondere Bedeutung hat. Mit den sogenannten bildgebenden Verfahren lässt sich aber nicht entscheiden, was von dem, was da auf dem Bildschirm als Hirnaktivität hervorleuchtet, dem Betreffenden auch bewusst wird.
Und wie ist es mit dem Unbewusstem?
Umgekehrt kann man (fast) sicher sein, das Bewusstlosigkeit vorliegt, wenn die Großhirnrinde infolge eines Unfalls oder einer Erkrankung gleichsam abgeschaltet ist und nur noch tiefer
liegende Hirnbereiche aktiv sind. Man spricht dann von Koma. Restliche Hirnaktivitäten verbleiben im Unbewusstem.
Es gibt diverse Berichte über Gedankenübertragungen. Ist das nur Hokuspokus?
Gedankenübertragung im Sinne von Telepathie wird zwar oft behauptet, ist aber in keinem einzigen Fall bewiesen. Ich habe einmal entsprechende Experimente selbst mitgestaltet. Dabei wurden einer Versuchsperson Lichtblitze dargeboten und die dadurch ausgelösten elektrischen Hirnaktivitäten über Elektroenzephalografie (EEG) aufgezeichnet – ein Routineverfahren in der neurologischen Diagnostik. Wir aber hatten eine zweite Versuchsperson in einem verdunkelten Nachbarraum platziert und bei ihr in derselben Weise wie bei der ersten Versuchsperson die
EEG-Wellenmuster aufgezeichnet. Doch ließen sich keinerlei Parallelen nachweisen. Dann der besondere Trick: Die zweite Versuchsperson war von der ersten in Hypnose versetzt worden, sie stand also mit ihr in einem intensiven Bewusstseinskontakt. Doch auch hier keinerlei Parallelität. Die Hypothese, wenigstens in einer solch elementaren Form Hirnaktivitäten „übertragen“ zu können, hatte sich in Luft aufgelöst.
Können Physiker, die sich mit Quantenwelten befassen, eine Erklärung für das Bewusstsein geben?
Eher im Gegenteil, Physiker haben mit dem von ihnen behaupteten Beobachtereffekt in der
Quantenwelt gründlich für Verwirrung gesorgt. Hiernach werden bestimmte Zustände quantenphysikalischer Art erst durch deren Beobachtung festgelegt. Der mit der Beobachtung verbundene Informationsaustausch sei es, der den physikalischen Zustand beeinflusst. Zur Erklärung gibt es verschiedene Ansätze, über die bis heute nicht
entschieden ist.
Und wie beurteilen Sie den Hirntod? Verschwindet damit alles, was einen Menschen auszeichnete?
Keineswegs. Zum Beispiel all das nicht, was ein Mensch an persönlichen Spuren, an Geschriebenen oder sonst wie Aufgezeichnetem hinterlässt. Gleiches gilt für dessen Nachwirkungen im Bewusstsein jener, die ihn überlebt haben. Der Tote lebt in uns fort, heißt es in den Nachrufen auf einen Verstorbenen. Und ich meine, das ist durchaus ein Trost.
In Deutschland ist die Debatte um Organspenden auch mit der um die Hirntod-Diagnostik verbunden. Warum sollte es nur das Gehirn sein, um über die Todesfeststellung eines Menschen zu entscheiden? Ist mit dem Hirntod auch die menschliche Seele verschwunden?
Wir alle haben ein Akzeptanzproblem, wenn es heißt, dass mit dem Tod auch die Seele der Verstorbenen verloren ist. Tatsächlich gibt es vonseiten der Wissenschaft Überlegungen, wonach das nicht unbedingt sein muss.
Und wie sehen diese aus?
Das möchte ich noch nicht verraten. Es wird Teil meines Vortrags sein.
Aber vielleicht doch ein kleiner Hinweis?
Zu diskutieren ist u. a. die sogenannte freie, also nicht an Materie gebundene Information - ein größtenteils ungelöstes Rätsel.
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Vortrag: Mikro- und Makrokosmos im Kopf
Was können wir über die Welt überhaupt wissen? Einen Einblick in die Forschung und viele Anregungen zum eigenen Nachdenken wird der PowerPoint-Vortrag des Magdeburger Neurobiologen Gerald Wolf geben. Er ist emeritierter Universitätsprofessor, Hirnforscher und Institutsdirektor. Neben zahlreichen Fachpublikationen, Fach- und Sachbüchern stammen von ihm drei Wissenschaftsromane. Sein neuer Vortrag findet am 6. Dezember ab 19 Uhr im Kaiser-Otto-Saal des Magdeburger Naturkundemuseums statt.